Chorgesang

Immer mehr erhält die Gegend den Charakter der Ukraine, und ich erinnere mich an die Bilder, die ich mir auf Grund von Erzählungen über die Unendlichkeit des russischen Raumes vorstellte. Der Einfluss des mächtigen Nachbarn auf diesen unmittelbar an der Grenze liegenden Teil des ehemaligen Polen ist unverkennbar. Das Städtchen Dubno ist ein solches Beispiel. Beinahe möchte ich sagen, es ist ein Überbleibsel aus einer Zeit, die nicht mehr existiert. Hauser im Stil des alten, zaristischen Russland, weite Anlagen, große Gärten und über allem eine leichte Decke von Schnee.

Ein großer Teil der Menschen, die ich sehe, tragen auf Brust und Rücken ein kreisrundes gelbes Stückchen Stoff von ungefähr zehn Zentimeter Durchmesser. Es sind Juden. Hier sind sie anders gekennzeichnet. Ebenso ist es in Rowno, das ziemlich vom Krieg in Mitleidenschaft gezogen worden ist.


Ober dem Städtchen liegt bereits die Dämmerung des hereinbrechenden Abends. Aus einer Kirche ertönt bis auf die Straße hinaus wundervoller Chorgesang. Ich wundere mich und gerne hinein. Fast lauter Bauern sind da, viel mehr Frauen als Männer, und alle singen sie mit beinahe verzückten Gesichtern und fest gefalteten Händen, ohne Orgel- oder andere Musikbegleitung, die Messe der griechisch-orthodoxen Kirche.

Nachher suche ich den Pfarrer auf, und er spricht mit mir über seine Sorgen. Rowno liegt bereits sehr weit von der Grenze entfernt, und die Russen dachten nicht mehr daran, dieselbe Rücksicht wie in Lemberg walten zu lassen. Als sie vor zwei Jahren ankamen, schlossen die Gewaltigen des Städtchens zwar nicht die Kirche, aber sie verlangten von ihr eine Steuer von monatlich zwölftausend Rubel. Für diese Summe war der Pfarrer persönlich haftbar, und für den Fall, dass sie nicht eingebracht werden konnte, war er — abgesehen davon, dass das Gotteshaus geschlossen wurde — verpflichtet, den Betrag in einem Zwangsarbeitslager abzuarbeiten. So ein armer Pope hatte dreihundert Jahre alt werden müssen, um eine solche Schuld zu liquidieren. Man kann sich denken, was es für eine kleine Gemeinde heißt, im Monat zwölftausend Rubel aufzubringen. Und trotzdem hat sie es getan. Fast zwei Jahre lang.

Alles, was sich irgendwie zu Geld machen ließ, brachten diese Menschen ihrem Pfarrer, damit er es verkaufe und mit dem Erlös die Steuer zahle: Heiligenbilder, alten Familienschmuck, Gegenstände aus dem Haushalt und sogar Geflügel. So ging es immer wieder, von einem Monat bis zum nächsten. Bis auf einmal nichts mehr da war, nichts mehr da sein konnte. Alles von irgendwelchem Wert hatten diese Menschen ihrem Glauben und ihrer Kirche geopfert.

Die christliche Bevölkerung von Rowno ist durch die ihr von den Bolschewisten auferlegte Kirchensteuer arm geworden, denn die monatlich zu entrichtende Summe von zwölftausend Rubel ist viel Geld in einem Ort, in welchem ein Mittagessen mit Suppe, Braten, Kartoffeln, Gemüse, Butter und Tee nur 70 Pfennige kostet. Das bezahlten wir im deutschen Soldatenheim.

Anfang Juni erklärte der Pope von der Kanzel herab seiner Gemeinde, Ende Juli oder August ließe er die Kirche schließen. Es ging einfach nicht mehr. — Da kamen im letzten Augenblick die Deutschen . . .

Genau so, wie die Kirche unter Druck gesetzt wurde, geschah dies auch mit ihren Besuchern. Die Leute wurden beobachtet und nachher schickte man ihnen Aufforderungen ins Haus, aus der Kirche auszutreten. Viele haben es getan, aber noch mehr blieben ihrem Glauben treu. Ein großer Teil dieser Menschen mussten ihr Bekenntnis büßen. Sie wurden zu Zwangsarbeit eingezogen und immer für Arbeiten verpflichtet, die zwei und drei Wegstunden vor dem Städtchen lagen. Auf diese Weise nahm man ihnen die Möglichkeit zu einem Besuch der Kirche. Es fehlte ihnen einfach die Zeit dazu.

Der Pope, mit dem ich sprach, war im Übrigen der einzige von den dreien der Kirche, welcher die Schikanen der Bolschewisten überstanden hat. Der Älteste von ihnen — er zählte an die 80 Jahre — starb nach einem Gebet vor dem Altar, dem er sein Leben lang diente, und den andern haben die Russen drei Tage vor dem deutschen Einmarsch verschleppt. Niemand weiß, wo er ist und ob er überhaupt noch lebt.

— Ich frage ihn auch nach seinem eigenen Schicksal. — „Ich", meinte er, „ich, ja, wissen Sie, ich bin jung und kann schon allerhand vertragen, ich wäre auch zur Zwangsarbeit gegangen. Denn schauen Sie, ehe ich Pope wurde, da war ich Schuster."

Es muss noch erwähnt werden, dass ein derartiger Berufswechsel bei der griechisch-orthodoxen Kirche durchaus möglich ist.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Ein Schweizer Journalist sieht Russland