Ein Meisterwerk kirchlicher Goldschmiedekunst

Aus: Die Christliche Kunst (10. Jahrgang 1913/14) Monatsschrift für alle Gebiete der Christlichen Kunst und der Kunstwissenschaft sowie für das gesamte Kunstleben
Autor: Dr. O. Doering-Dachau, Erscheinungsjahr: 1915
Themenbereiche
Enthaltene Themen: Goldschmied, Bernhard Witte, Aachen, Goldschmiedekunst, Schrein, Reliquien
Aus der Werkstatt des bekannten Aachener Goldschmiedes Bernhard Witte ist vor kurzem ein Werk hervorgegangen, dessen bedeutende Eigenschaften eine kurze Besprechung an dieser Stelle rechtfertigen. Es handelt sich um den Schrein für die Reliquien der hl. Blutzeugen Corona und Leopardus. Erstere erlitt das Martyrium unter Mark Aurel, letzterer unter Julian. Im Jahre 996 hat Kaiser Otto III. die ehrwürdigen Reste nach Aachen gebracht und im Münster beigesetzt; 1910 wurden sie erhoben, um fortan durch Unterbringung in einem ihrer würdigen Gehäuse geehrt zu werden. Die Anregung hierzu stammt von dem seither verstorbenen Stiftspropste Dr. Beilesheim. Ausgeführt wurde das Werk vom Ende Dezember 1911 bis August 1912, also innerhalb einer Frist, deren Kürze in Erstaunen setzt, wenn man den Umfang und die außerordentliche Subtilität der Arbeit betrachtet. Die Kosten sind durch private Beiträge gedeckt worden; Dr. Bellesheim hat seinesteils nicht weniger als 11.000 Mark beigesteuert.

Der Schrein hat eine Höhe von 95 cm bei einer Breite von 74 cm und besitzt die Gestalt einer byzantinischen Kirche; sie ist in der Grundform der griechischen crux quadrata erbaut und trägt über dem Schnittpunkt der Kreuzarme eine reich gezierte zwölfteilige Kuppel. Ersichtlich ist für die Fassung des Entwurfes das Vorbild mehrerer mittelalterlicher Reliquienschreine bedeutungsvoll gewesen; man bemerkt besonders den Einfluss gewisser Werke aus dem Welfenschatze, dem Darmstädter Museum, vor allem aber den des berühmten, in South-Kensington-Museum befindlichen Schreines aus der Kölner Kirche St. Pantaleon. Es liegt nahe, sich dabei die Frage zu stellen, ob eine derartige Anlehnung an Denkmäler der Vorzeit zu den Aufgaben der modernen Kunst gehören kann. Ein genaueres Eingehen auf dieses Problem würde hier viel zu weit führen. Man dürfte wohl zu dem Ergebnis kommen, dass erstens eine solche vom Künstler selbst gewählte Abhängigkeit so lange nicht getadelt werden kann, als er imstande ist zu beweisen, dass er die von seinen Vorbildern gegebenen Anregungen mit Freiheit und Selbständigkeit neuschaffend benutzt hat; das Gleiche haben auch zahllose andere Künstler alter Zeiten getan, deren Leistungen als bewunderungs- und nachstrebenswert dastehen. Zum zweiten kommt die Sonderart der kirchlichen Kunst in Betracht, deren Wurzeln nun einmal in der Tradition stecken und aus ihr die Kraft zur weiteren Entwicklung ziehen. Wie stark modern der neue Aachener Reliquienschrein übrigens neben aller Altertümlichkeit von Formen und Motiven ist, werden wir noch sehen.

Betrachten wir ihn, nachdem wir uns fürs erste an der leuchtenden Pracht und dem harmonischen Reichtum des Gesamtwerkes mit seinen schimmernden Metallflächen, Emaillen, Edelsteinen, Elfenbeinschnitzereien usw. erfreut haben, im einzelnen, so lesen wir zunächst die um den charaktervoll profilierten Sockel laufende, gravierte Stiftungsinschrift: „Sacra quae pius Otto III. Imperator Aquisgranum transtulit sanctorum Leopavdi et Coronae Martyrum ossa Dr. Alphonsus Beilesheim capituli Aquisgranensis praepositus in haue pretiosam thecam recludi curavit Pio X. papa Wilhelmo II. imperatore feliciter regnantibus A. D. MCMXII.“ — „Der heiligen Märtyrer Leopardus und Corona geweihte Gebeine, die der fromme Kaiser Otto III. nach Aachen übertragen, hat Dr. Alphons Beilesheim, Propst des Aachener Kapitels, in dieses kostbare Gehäuse einschließen lassen unter der glücklichen Regierung des Papstes Pius X. und des „Kaisers Wilhelm II. im Jahre des Herrn 1912.“ Die Giebelseiten der Kreuzarme sind durch portalartige Triumphbögen aufgelöst, welche von je zwei emaillierten gekuppelten Säulen mit Elfenbeinsockeln und prachtvollen Kapitalen flankiert werden. Die von den etwas unkräftigen Bögen, den Vertikal- und Horizontallinien gebildeten Zwickel sind mit Elfenbeinreliefs geschmückt, darstellend die natürlichen und die göttlichen Tugenden. Die Flächen innerhalb der Bögen sind mit getriebenen Reliefs erfüllt; sie zeigen das Martyrium der hl. Corona, das des hl. Leopardus, die Translation der Reliquien durch Otto III., die Erhebung derselben 1910. Sämtliche vier Szenen besitzen schöne Vereinfachung; die Figurenzahl ist aufs äußerste eingeschränkt; die Hintergründe sind nur andeutungsweise gegeben; die gesamte Arbeit hat etwas Flächiges und sehr Ruhiges; die Köpfe sind idealisiert und dennoch naturalistisch erfasst. Stil und Durchführung dieser Reliefs haben etwas ausgesprochen Modernes, was ihnen eine Sonderstellung gegenüber dem sonstigen Figurenschmucke des Werkes verleiht, welch letzterer charakteristisch altertümlich ist und sich von jederlei malerischer Wirkung frei hält. In den Giebeln, die gleich den Dachfirsten mit prachtvoll gearbeiteten Kämmen besetzt sind, sieht man zwischen Edelsteinschmuck die Wappen Sr. Heiligkeit des Papstes Pius X., Kaiser Wilhelms IL, des Aachener Stiftskapitelsund des Dr. Bellesheim. Die Seitenwände der Kreuzarme sind mit je einer stehenden Engelfigur geschmückt; in den konvexen Wandflächen dazwischen stehen in Rundbogennischen die Statuetten der drei Ottonischen Kaiser und Heinrichs IL, des Heiligen. Die Dachflächen sind mit ziegeldachartiger Zeichnung in sog. Emailbrun belebt. Dazwischen wächst der runde Mittelbau empor, welcher die Kuppel trägt. Sein Ansatz ist aufs reichste geziert, wobei Elfenbeinreliefs mit der Darstellung der vier Elemente die Mitte bilden. Sehr bemerkenswert ist der Kuppelbau. Nach der Art, welche auch an Architekturzeichnungen früher mittelalterlicher Miniaturen und Wandmalereien häufig zu beobachten, ist die Kuppel in faltiger Form ausgeführt. So bilden ihre durch kräftige Gurte von einander getrennten, mit figürlichem und ornamentalem Emailschmuck überzogenen Flächen ein großes Zelt, welches von zwölf Säulen getragen wird, und jede rund hervortretende Kuppelfläche dient als der Baldachin für eine darunter sitzende Figur. Ihrer sind natürlich auch zwölf; den Anfang bildet Karl der Große als Erbauer der Aachener Pfalzkapelle; von den übrigen stehen außer der hl. Mathilde, der Gemahlin Heinrichs I. und Mutter Kaiser Ottos I., alle in Beziehung zur Person Ottos III. Es sind Gregor V., der auf Veranlassung Ottos zum Papst gewählte Urenkel Ottos I.; der hl. Bernward, der Erzieher Ottos; Papst Sylvester II., des Kaisers Ratgeber; ferner der hl. Einsiedler Nilus; St. Adalbert von Prag, dem zu Ehren Otto 1001eine Kirche auf der Tiberinsel erbaute an der Stelle eines alten Äskulap-Tempels — sie ist später dem hl. Bartholomäus geweiht worden. Des weiteren sehen wir den hl. Bischof Bruno; Romualdus; den hl. Stephanus von Ungarn; dessen Sohn St. Emericus; den hl. Erzbischof Heribert. Die hier angegebene Reihenfolge entspricht nicht derjenigen an dem Schreine. Sämtliche Figuren kennzeichnen sich durch Altertümlichkeit der Haltung, durch statuarische Ruhe aus; der Stil der Plastik ist bei ihnen wie bei den unten befindlichen Engel- und Kaiserfiguren aufs strengste festgehalten. — Die Kuppel ist bekrönt mit einem Knaufe, der an der Unterseite die Symbole der vier Paradiesesströme, an der Oberseite die der Evangelisten zeigt, beides im Zusammenhang mit den zuvor beschriebenen Reliefs der Tugenden, welchen man sie bei mittelalterlichen Werken häufig gegenübergestellt sieht. Ganz oben steht ein Kreuz mit Doppelbalken, nachgebildet dem sogenannten Lotarkreuze des Aachener Münsterschatzes; auch dies ein Hinweis auf die Beziehungen Ottos III. zu Aachen, der letzteres Kreuz hierher geschenkt hat. — Das Münster der uralten Kaiserstadt, welches in früheren schlimmen Zeitläuften so viele seiner Kostbarkeiten einbüßen musste, hat in dem Witteschen Reliquienschrein einen neuen herrlichen Besitz gewonnen; unter den Leistungen der modernen Goldschmiedekunst darf man dies Werk mit in die vorderste Reihe stellen, als Beispiel für die Lösung einer bedeutenden kirchlichen Aufgabe.

010 Corona-Leopardus-Schrein, von Bernhard Witte, Aachen

010 Corona-Leopardus-Schrein, von Bernhard Witte, Aachen

011 Corona-Leopardus-Schrein, von Bernhard Witte, Aachen

011 Corona-Leopardus-Schrein, von Bernhard Witte, Aachen

012 Kuppel am Corona-Leopardus-Schrein, von Bernhard Witte, Aachen

012 Kuppel am Corona-Leopardus-Schrein, von Bernhard Witte, Aachen

013 Teil vom Corona-Leopardus-Schrein, von Bernhard Witte, Aachen

013 Teil vom Corona-Leopardus-Schrein, von Bernhard Witte, Aachen