Ich sitz bei einem Tannenbaum

Ich schwärme.


Ich sitz' bei einem Tannenbaum;
Ein junges Bächlein fließt daneben,
Wie blaues Mädchenauge klar.
In meine Locken unsichtbar
Die Lüfte kühle Kränze weben;
Und neben mir am Wasserfall
Sitzt auf dem Ast die Nachtigall,
Und singt und singt so lauten Schall:
Sie ist den Lüften neidig gar,
Und meint gewiß, ich hör' nicht zu.
O schilt mich heut nicht undankbar!
Mir ging ja sonst dein Lied zum Herzen,
Bin ja ein Sänger so wie du,
Und weiß am Besten, wie's mag schmerzen,
Wenn Niemand auf das Liedlein lauscht.
Doch sieh, der Tannenbaum hat eben
Ein seltsam Märchen mir erzählt;
Das hat mir so das Herz berauscht,
Daß ich auf Nichts mehr Acht kann geben,
Und mich jetzt nur die Unruh quält,
Daß ich es wissen soll allein.
Darfst drum auch nicht verdrießlich sein!
Komm', setz' dich traulich mir zu Füßen,
Ich lad' auch dich zum Horchen ein!
Doch, daß ich's mag nicht übergehn,
Jungfräulein auch ich herbescheide
Mit ehrfurchtsvollen Sängergrüßen.
Wär' mir zu großem Herzeleide,
Dürft' ich sie heut nicht um mich sehn:
Denn ein jungfräulich rein Gemüth
Am Frömmsten für das Lied erglüht;
Und ist der Sänger nicht zu neiden,
Den nicht die Jungfraun mögen leiden.


Auch Jungherrn lad' ich froh zu Gast,
So viel' noch eben heut zu Tag,
Wo Kindersinn ein Märchen fast,
Ein Kindermärchen freuen mag.
Und ach! vor Allen die Mütter ich bitt',
Ich bitt' sie drum aus ganzem Herzen:
Bringt doch auch ja die Kindlein mit!
Sie können indeß ja spielen und scherzen; Maiglocken viel um's Bächlein stehn,
Es funkeln wie Silber die Kiesel drin.
Und hören sie auch auf's Märchen nicht,
Wenn sie euch nur in's Auge sehn,
Verstehn sie doch des Märchens Sinn:
Wie's Mutteraug' kein Mund ja spricht.

Und ‘s thut so Noth, daß am Baum der Zeit
Die jungen Knospen rein verbleiben!
Es hängt so mancher Ast entzweit,
So mancher Schoß will nimmer treiben.
Und mitten durch das Herzensmark,
Da geht ein tiefer, gift'ger Schnitt,
Und ist zum Heilen kein Balsam stark. –
Drum, nichtwahr, bringt die Kindlein mit!
Vielleicht daß doch wie Frühlingswehn
Aus meinem Märchen sie's umfließt,
Wenn unter frommem Mutterflehn
Des Mutterauges Sonnenschein
Der Knospen Herz zum Blühn erschließt!
O glüht um sie doch ja recht rein,
Ihr heiligen Sonnen der Kinderwelt!
Dräng' auch in sie das Gift noch ein, –
Dann wär' der Baum vollends gefällt.

Doch siehe nur, da hätt' ich fast
Versäumt des Wirthes Willkommgruß!
Schon seh' ich vor mir Gast an Gast,
Ich spring' vom Moos mit raschem Fuß:
Sei mir willkommen, edle Schaar,
So Mann wie Fräulein, Mutter und Kind!
Erst jetzt wird' ich euch recht gewahr.
Ich war vom Sonnenschein halb blind,
Und ihr, ihr gingt im Moos so leis,
Und bracht wie Zaubrer durch die Lauben,
Daß ich wahrhaftig nicht recht weiß,
Ob's nicht ein wenig lose war,
Mich fast des Willkomms zu berauben.
Doch biet' ich euch zum Trutze drum
Nun doppelt meinen Willkomm dar,
Und will nicht weiter böse sein.
Nun setzt gehorsam euch herum,
Wohin ihr wollt, an Bächleins Rain,
Am Tannenbaum, beim Schleh, im Gras;
Mir laßt das Plätzchen, wo ich saß!
Der Frühling, mein Freund aus alter Zeit,
Hielt mir die Plätzchen gern bereit;
Doch hat er mich vertraut gebeten,
Ihm ja kein Blümlein zu zertreten.
Doch ihr, ihr Mägdlein und ihr Knaben,
Sollt Blumen in der Fülle haben!
Laßt euch beim Suchen freien Lauf,
Und brecht, so viel ihr wollt, davon!
Und sieh', da springen sie jubelnd schon,
Und sucht ein Blümlein das andre auf.

Und nun, da ihr in holdem Verein
So traut euch um mich hergesetzt,
Bitt' ich um Eines noch zuletzt:
Laßt uns nun Alle Kinder sein
Im Herzensgrund und auch im Geist,
Wie die, so dort nach Blumen gehn!
So freut mein Märchen euch zumeist,
Und mögt am Besten ihr's verstehn!
Auch sag' ich noch von vorn herein,
Daß ihr mir nicht mögt böse sein,
Wenn ihr des Trüben mehr als Lichten
Zuletzt mir hättet abgelauscht!
Ich darf es anders nicht berichten,
Als mir's der Tannenbaum gerauscht.
Und der steht schon so manches Jahr,
Gewiß, da ist sein Wort auch wahr,
Mir nimmt kein Zweifel meine Ruh.
Drum zürnt mir nicht, und denket eben,
Es ist ein Stückchen Menschenleben!
Und nun, ihr Kinder, hört mir zu!

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Ein Märchen