Ein Lauseleben

Aus: Das Buch für Alle. Illustrierte Familienschrift. Zeitbilder. Heft 1. 1929
Autor: N. N. Francé, Erscheinungsjahr: 1929

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Themenbereiche
Enthaltene Themen: Insekten, Läuse, Marienkäfer, Pflanzen, Gärten, Gärtner, Blätter, Triebe, Blumen, Schäden, Blattlaus, Tabaksaft, Wanzen, Blutlaus, Ameisen,
Jedem Blumenfreund ist der Begriff Blattlaus missvergnüglich. Weiß er doch, was es bedeutet, wenn die sorglich gehegten Pflanzen am Fensterbrett oder im Hausgärtchen plötzlich den so wohlbekannten grauen Überzug zeigen, der sich bei näherer Betrachtung als aus Hunderten kleiner Tiere zusammengesetzt erweist. Mit Sicherheit folgt darauf ein Einkräuseln, Zusammenschrumpfen der Triebe und Blätter. Sie sehen aus, als ob man ihnen allen Saft entzogen hätte, und das hat man auch getan. Ist der Befall ganz arg, geht eine Pflanze schon nach einigen Tagen ein. Aber es gibt ein probates Mittel. Tabaksaft, mit dem Zerstäuber auf die befallenen Triebe gespritzt, verleidet dem saugenden Gesindel das Leben. Wenn sie nicht ganz verschwinden, so sind sie doch so eingedämmt, dass ihr Schaden kaum merkbar wird. Und damit ist dann die Blattlausfrage für die meisten Blumen- und Naturfreunde auch erledigt. Ich meine aber, sie geht jetzt erst an.

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Aus dem Zusammenleben der Blattläuse und Ameisen / Gezeichnet von N. H. Francs

Die in der Herde zusammen unangenehm lausig wirkenden Tiere sind, einzeln betrachtet, namentlich unter der Lupe nicht einmal unschön. Zierlich stelzen sie bedächtig dahin mit ihren langen Beinen; höchst regsam betasten die langen Fühler die ganze Umwelt, und aus den zwei Röhrchen an dem etwas unbehaglich angeschwollenen Hinterleibe tritt jeweils sofort ein Tröpfchen aus, sobald man die Tiere beunruhigt. Das ist das große und einzige Schutzmittel dieser Zwerge der Schöpfung. Nicht Honig sondern sie in diesen Röhrchen ab, wie alle Welt und eine Zeitlang sogar die Forschung glaubte, sondern einen klebrigen Saft, dazu bestimmt, ihren Feinden, dem Marienkäferchen und der Larve der Florfliege, das Leben durch Beschmieren und Verkleben zu verleiden. Süß ist etwas anderes an ihnen — nämlich ihr Kot, den sie mit den Hinterfüßen abschleudern. Aus dem und den Klebetröpfchen fließt dann der glänzende Überzug zusammen, den die Blätter der von ihnen befallenen Pflanzen so oft aufweisen. Honigtau nennt man das bekanntlich und hat dazu allerlei Dichtungen erfunden, aber die wahre Geschichte seiner Entstehung ist keineswegs poetisch. Er entsteht einfach dadurch, dass die Blattläuse süße Pflanzensäfte saugen mittels einer Saugröhre, die ihnen gewöhnlich wie eine Pfeife zum Mund heraushängt. Diese Saugröhre ist der Menschheit wahrlich teuer zu stehen gekommen. Sie ist eines der kostbarsten Instrumente der Welt und hat mit Millionen bezahlt werden müssen. Denn Blattläuse sind Wanzentiere und als solche Verwandte der Blutlaus, die die Apfelbäume zerstört, und der Reblaus, der gefürchteten Phylloxera, die, an den feinsten Wurzelfasern des Weinstocks saugend, auf der ganzen Erde überall Millionenschaden angerichtet und eine Zeitlang den Weinbau überhaupt in Frage gestellt hatte.

Das ist das ganze Um und Auf des sehr geruhsamen und idyllischen Blattlauslebens: mit den Stechborsten tief in einen jungen saftigen Trieb oder ein Würzelchen hineinzubohren und dann die nährenden Säfte herauszupumpen, stundenlang, tagelang. Bis der Hinterleib anschwillt und durch Eierablage oder die Geburt lebender Jungen auf jungfräulichem Wege eine Kolonie entsteht, in der die winzigen Neugeborenen wie eine Herde Lämmchen sorglich sich um die Mutter drängen. Zwanzig Kinder sind dieser bravsten aller Mütter nicht zu viel, und die Familie wächst nach der bekannten geometrischen Progression aller Insektenwelt, die im Frühling mit eins beginnt und im Herbst bei den Millionen endet. In diesem Fall bei geflügelten Männchen und normalen, auch geflügelten eierlegenden Weibchen, denn die zarten Blattläuse können die Winterkälte nur in Gestalt der an Wurzeln abgelegten Eier überstehen.

So weit wäre dieses geradezu stumpfsinnig zwischen Saugen und Gebären pendelnde Dasein rasch durchschaut, wenn die Ameisen nicht wären und nicht die Marienkäfer. Die aber bringen Romantik, Kampf, Unverständliches ins Blattlausleben.

Zunächst sind Ameisen wahrhaft das Blattlausschicksal. Sie besuchen die ruhig saugenden Herden ununterbrochen und kontrollieren den „Honigtau“, um die Sache zunächst einigermaßen salonfähig zu benennen. Mit nüchternen Worten: sie verzehren leidenschaftlich gern die Exkremente der Blattläuse. Ist eine damit im Rückstand, dann presst der Ameisenbesucher der geduldigen Blattlaus mit den Kiefern solange den rundlichen Leib, bis sie das Gewünschte besorgt. Aber nicht genug daran, dass sie sich melken lassen, sie dulden es auch, in einen Pferch gesperrt zu werden, sogar, dass man aus Lehm gedeckte Ställe über sie baut, sie wegschleppt, einsperrt, füttert und betreut, reine Haustiere aus ihnen macht.

Mit gewissen Gallenläusen, zum Beispiel jenen, die auf den Rüstern leben und auf deren Blättern die bekannten roten Gallen erzeugen, verbringen die Ameisen geradezu schwer Glaubliches. Wenn eine der geflügelten Blattläuse auf den Boden gelangt, kommen ihr Ameisen entgegen und führen sie zu Gräsern, besonders gern zu Mais. Die an Blätter gewöhnten Tiere können mit ihrem weichen, saftigen Körperchen nicht in der Erde graben, die Ameisen aber nehmen ihnen das ab. Sie bahnen ihnen unterirdische Gänge zu den Wurzeln, verbinden durch solche eine Pflanze mit der andern, tragen die Läuse sorglich in den Kiefern gefasst auf frische, zarte Wurzeln, nachdem sie ihnen freilich in einer seltsamen Mischung von Fürsorge und Barbarei zuvor die Flügel abgebissen haben. Alles nur, um ihre Abfälle zu verzehren. Die Blattläuse lassen das stumpf über sich ergehen, sie saugen nur und vermehren sich. Sie sind ebenso stumpfsinnig ihren Feinden gegenüber, die mitten zwischen ihren Herden sitzen können und ein Opfer nach dem andern verzehren, ohne dass auch nur ein Läuschen einen Fluchtversuch machte.

In einem beobachteten Fall hatte ein Marienkäferchen binnen zwei Tagen in einer Blattlauskolonie von hundertfünfzig bis zweihundert Köpfen mit furchtbarer Fresslust fast alle vertilgt. Die trägen, vollgesogenen Blattlausmütter saßen da unbeweglich, obwohl der würgende Tod unter ihnen weilte, nur manche suchten sich zu retten, indem sie sich auf die Seite legten. Binnen einer Woche war ein Zwergobstbaum durch vier Käfer von allen Läusen befreit, obwohl er vorher dicht besetzt war. Daraus kann man entnehmen, wie sehr dem Gärtner das Hegen dieser für ihn allernützlichsten Tiere am Herzen liegen müsste. Ganz absonderlich aber sind die erbitterten Kämpfe, die nun die Ameisen mit den Vertilgern ihrer Herden führen. Sie liefen vor dem Käfer herum, bespritzten ihn mit ihrer ätzenden Ameisensäure, stiegen ihm mutig auf den gepanzerten Rücken und suchten ihm die Beine abzubeißen. Aber der Käfer wirkte wie ein Tank gegen ihn angreifende Fußsoldaten. Jetzt erkannte man erst, wie zweckmäßig die halbkugelig gewölbte Schale der Flügeldecken für solche Kämpfe ist. Der Käfer hatte alle Gliedmaßen eingezogen, saß regungslos da, und die Ameisen waren machtlos gegen die glänzenden, harten Panzer. Erst als sie abgezogen waren, begann er sein Vernichtungswerk aufs Neue. Aber sie kamen mit Verstärkungen zurück, und nun gelang es, sogar einen der Blattlausverzehrer zu verjagen. Die Ameisen benahmen sich dabei wie ein Hirtenvolk, das verzweifelt um seine Schafherde mit angreifenden Raubtieren kämpft. Das friedliche und wehrlose Volk der Blattläuse aber weidete während dem ruhig weiter. Einzeln setzen sie sich durch Ausschleudern ihres Klebstoffes zur Wehr; haben sie aber ihre Ameisengarde, dann überlassen sie ihnen die Verteidigung völlig, und so erhalten uns die Ameisen einen Gast der Fluren, auf den jeder Gärtner nur zu gern verzichten würde.

Aus dem Zusammenleben der Blattläuse und Ameisen

Aus dem Zusammenleben der Blattläuse und Ameisen