Zweite Fortsetzung

In noch höherem Grade gelang dies Gregoire, dem philosophischen Priester, voll Geist wie Lammenais, aber ohne dessen Schwachen. Sein „Versuch einer Wiedergeburt der Juden in physischer, moralischer und politischer Beziehung", eine von der Königlichen Gesellschaft der Wissenschaften und Künste zu Metz 1788 gekrönte Preisschrift — ist zwar weder von geschichtlichen noch politischen Irrtümern frei, hat aber immerhin auch da, wo Gregoire seine nächsten Vorgänger offenbar nachahmt, das Verdienst einer lichtvollen Darstellung und praktischen Aufklärung, insofern sie die Mittel zur Abhilfe der Zeit und ihrer Stimmung, mit einem Wort, den Positiven Verhältnissen anpasst. Auch Gregoire weist auf den seit der Zeit ihres Exils vollkommenen veränderten Charakter und Beschäftigungstrieb der Juden hin, findet den Grund davon im äußeren Druck und begründet diese Ansicht durch den Abstand der Juden in ihrem Auftreten und Wirken in den verschiedenen Ländern und Perioden des Mittelalters. Nur das Vorurteil will Alles überall nach Einer Schnur messen. „Die Kaiserin Katharina habe Korrespondenzen jüdischer Kaufleute entdeckt, welche ihren Feinden, den Türken, innere Zustände verraten: Flugs verbiete ein Ukas allen Juden jede Korrespondenz außer Handelsgeschäften"; und nicht bloß in Russland, sondern in aller Welt könnten die Juden nichts anders als Landesverräter sein! Man vergisst, dass Malta 1749 von einem Patriotischen Juden — wie sie es unter den Mauren in Spanien durchgängig gewesen — vor der Übergabe bewahrt worden, dass kein Jude die Ligue in Frankreich je unterstützt habe. So geht's mit dem Betruge und dem Wucher, welche ihnen eine verkehrte Gesetzgebung förmlich aufgenötigt hat. „Öffnet ihnen die Bahnen des Verkehrs, des Staatslebens — und die edle Natur der Menschheit wird sich nicht verleugnen."

Gregoire zeichnet sich durch die Mannigfaltigkeit der geschichtlichen und statistischen Details und Anekdoten aus, die er so glücklich zu wählen weiß, dass sie sogar hinreichen, um den einseitigen Gegnern des jüdischen Ritus (welchen der Verfasser leider nur aus Übersetzungen und Auszügen gekannt zu haben scheint, weil ihm das jüdische, zumal rabbinische Quellenstudium abging) siegreich entgegenzutreten. Den Bedenken, welche aus dem Zeremonialleben der Juden, nach der damals herrschenden Meinung, gegen den Staats- und Militärdienst gezogen werden, zeigt er das Schauspiel friedlichen Beisammenlebens und Wirkens von Protestanten, Katholiken und Türken, besonders im russischen Reiche.


Den Mangel an Kriegstüchtigkeit widerlegt er durch die Tapferkeit der Juden gegen Belisar im sechsten, in Böhmen im zehnten Jahrhundert, 1346 in Burgos, des Generals Ben Jochai in Portugal und des Commodore Chambers. Wenn die Schrift dagegen hier und da — ebenfalls nach Dohm — eine kleine Vorsichtsmaßregel empfiehlt, z. B. die Gewährung nur des kleineren Grundbesitzes, so ist dies eine notgedrungene Konzession an die ungenügende Fernsicht der damaligen Epoche. Der freiere Blick ward ihm und dem Zeitalter alsbald gegönnt, als das große Ereignis eintrat, welches der Fesseln spottete, ob sie in kolossaler oder in Miniaturgestalt erschienen.

Die französische Revolution brach nunmehr aus! Die zweite Periode der Weltgeschichte begann (nicht bloß die neueste, wie man sie nennt) — und sofort fielen die Schuppen von den Augen der Gesetzgebung. Vergebens würde man in Frankreich die Emanzipation der Juden für jene Epoche in einzelnen Gesetzen suchen; auch die, welche uns darüber vorliegen, sind nichts als Vorläufer der Verfassung in Form von Verordnungen, welche zunächst auf Andringen der Juden erschienen, die das allgemeine Gesetz nicht erwarten mochten. Hinweg gefegt waren nun alle Leiden der Unterdrückung nebst den gelehrten oder Pöbelbedenken. Ein Volk, das Einheit, Gleichheit und Freiheit mit unauslöschlichen Zügen auf seine Fahne schreibt, braucht sich um die Literatur über die Judenemanzipation nicht zu kümmern. Was Dohm, was Mirabeau, was Gregoire, was Eisenmenger und Michaelis, was Bibel und Talmud, Kirchenväter und Konzilien! Lebten die Juden im Staate, so waren sie Franzosen, und alle Bürger sind gleich vor dem Gesetze.

Das sagte die erste Verfassung der französischen Nation vom 3. September 1791, an deren Spitze die Erklärung der Menschenrechte stand, jenes trotz der Auswüchse der nächsten Zeit unzerstörbare Monument für alle Zeiten. Allerdings hatte der 1. Artikel: Die Menschen sind und bleiben frei in den Rechten; ferner der 4. Artikel: Die Freiheit besteht in der freien Willkür, Alles zu tun, was einem Andern nicht schadet; endlich der 10. Artikel: Niemand darf wegen seiner auch religiösen Meinungen behelligt werden, vorausgesetzt, dass deren Äußerung die gesetzliche öffentliche Ordnung nicht stört — eine ziemlich allgemeine Fassung angenommen; weshalb auch in der Debatte die Deputierten Kastellane und Mirabeau deutlicher die Freiheit und Gleichheit der Kulte und ihrer Bekenner in allen staatlichen Rechten gewahrt wissen wollten. „Ich fordere, rief Rabaud aus St. Etienne, für alle Protestanten, für alle Nichtkatholiken diese Freiheit und Gleichheit, die Sie für sich in Anspruch nehmen. Ich fordere sie für jenes Volt aus Asien, welches stets umherirrend, verfolgt und verurteilt seit 18 Jahrhunderten, unsere Sitten und Gebräuche annehmen würde, wenn es durch unsere Gesetze mit uns vereint wäre, dessen Moral unsern Vorwurf nicht verdient, weil sie eine Frucht unserer Barbarei und der Erniedrigung ist, die wir über es verhängt."

Die Nationalversammlung begnügte sich jedoch mit der vorstehenden Fassung. Sie konnte es in Betreff der staatsbürgerlichen Gleichheit, nachdem sie im Art. 5 der Menschenrechte erklärt, dass nichts gehindert werden könne, was das Gesetz nicht verbiete, und im Artikel 6, dass alle Bürger zur Gesetzgebung berufen seien; ferner im 1. Titel der Verfassung (Art. 1. 2. 3), dass alle Staatsbürger nach ihren Eigenschaften und Fähigkeiten zu den öffentlichen Ämtern zuzulassen, alle Staatslasten gleich verteilt würden nach Maßgabe des Vermögens, dass die Unterrichtsanstalten Allen offen stünden, endlich (Titel III, Sektion 2, Art. 2 vergl. mit Sektion 3, Art. 3): „dass das aktive und passive Wahlrecht allen Franzosen zustehe. — Schon früher hatte sie jedoch auf Ansuchen der israelitischen Gemeinden zu Paris, Lüneville, Sarguemines und, nach Gregoires Bevorwortung, die sogenannten portugiesischen, spanischen und Avignoner — längst ansässigen — Juden für Staatsbürger erklärt (Dekret vom 28. Januar 1790) und (am 26. Juli [7. August] 1790) alle besonderen Judensteuern abgeschafft.

Die Nationalversammlung fühlte nun selbst, dass derlei besondere Dekrete überflüssig geworden, sprach aber wohl auf das Drängen der Staatsbürger jüdischen Glaubens kurz nach der Bekanntmachung der Verfassung sich dahin aus: dass in Folge der darin enthaltenen Bestimmungen über die Rechte und Pflichten des Staatsbürgers und der Einführung des Bürgereides alle bisher für und gegen die Juden erlassenen Vorbehalts- und Ausnahmegesetze nunmehr aufgehoben seien (Dekret vom 27. September [13. November] 1791).

Dagegen trat mit der Freiheit der Kulte ihre Gleichheit, namentlich Öffentlichkeit, noch nicht ein. Während der konstituierenden und gesetzgebenden Versammlung blieb diese lediglich dem Katholizismus vorbehalten. Zwar lehnte die Constituante den bei Gelegenheit der Aufhebung der Klöster gestellten Antrag des Bischofs von Nancy, die katholische Religion zur Nationalreligion zu erklären, im Dekret vom 30. April 1790 ab, jedoch aus den Motiven, dass die Anhänglichkeit der Versammlung an den katholischen Kultus nicht in Zweifel gezogen werden könne in dem Augenblicke, wo die Bedürfnisse desselben aufs Budget gesetzt würden. Auch wurde nur der katholische Kultus durch Gesetze geregelt (Dekret vom 12. Juli 12. [4. August] 1790 nebst Zusatz vom 14., 15. [22.] November 1790).

Später, nach der Konstitution von 1793 erklärte der Convent, dass kein Kultus auf Staatskosten erhalten werde (la république n’en salarie aucun) und keiner außerhalb des Raumes für den Gottesdienst seine Zeremonien üben dürfe (Dekret vom 3. Ventose Jahr III., 21. Februar 1795, Art. 2. 4.). Hiermit war jedem Kultus die Öffentlichkeit entzogen.

Die dritte Verfassung vom 5. Fructidor Jahr III. (22. August 1795) modifizierte diese Bestimmungen und schloss sich dem Gesetze vom II. Prairial Jahr III. an, welches jeder Glaubensgenossenschaft die ihr am ersten Tage des II. Jahres zugehörig gewesenen gottesdienstlichen Gebäude zurückgegeben hatte. Eine Anerkennung, aber auch Gleichstellung aller Kulte beantragte hierauf der denkwürdige Bericht Camille Jordans an den Rat der Fünfhundert vom 29. Prairial Jahr V. (17. Juni 1797) die dort ausgesprochenen Grundsätze, dass jede Maßregel, welche die Ausübung eines Kultus hindere, ohne dass die öffentliche Ruhe dies gebiete, eine Bedrückung sei, ferner, dass jede Anordnung, welche, ohne die öffentliche Ordnung bloßzustellen und die Gleichheit der Kulte zu verletzen, die Ausübung eines jeden derselben erleichtere, weise und wohltätig sei — bilden die Grundlage einer vernünftigen, jedoch keineswegs bisher überall eingeführten Gesetzgebung. Diese Grundlage heißt „der Staat sanktioniert die Freiheit und Selbständigkeit aller Kulte, und nur insofern ihrer Anerkennung, ohne jedoch ihre Erhaltung aus Staatsmitteln zu übernehmen. So nur gibt es eine freie Kirche im freien Staate.