Zweite Fortsetzung

Diesem wenig unterbrochenen Stillleben hauchte die Julirevolution einen anderen Geist ein. Nicht etwa war es die materielle Veränderung in der Übernahme der israelitischen Kultuskassen vom französischen Staate, sondern die allgemeine Rückwirkung des Dynastiewechsels auf das deutsche Volk, seine Abgeordneten und die deutsche Presse, welche der Judenfrage einen neuen Hebel verliehen. Das Wort „Rechtsstaat" begann eine Losung zu werden. Ließ auch seine Verwirklichung zwar noch lange auf sich warten, so war doch das Samenkorn gestreut durch die dahinzielende emsige Arbeit in den bisherigen konstitutionellen Staaten und den Eintritt anderer in deren Kreis. Vor Allem aber ist das Jahr 1830 epochemachend durch den freieren Aufschwung, welchen trotz der Zensur die Presse auch in dieser Angelegenheit seitdem bekundet hat.

Gleichsam als Vorwort diente diesem neuen Abschnitte das kräftige, für jene Zeit fast kühne Auftreten des Professors Krug in Leipzig, eines Philosophen von echtem Schlage, eines der seltenen Denker, welche in dieser Frage sprachen, wie sie dachten und handelten, wie sie sprachen. In dem „Verhältnis; verschiedener Religionsparteien zum Staate und über die Emanzipation der Juden" (1828) lenkte er rasch von der Gleichstellung der Katholiken, der damaligen Tagesfrage in England, in die der Juden ein und vindizierte auch diesen die Staatsämter in allen protestantischen Ländern. Was diese Forderung damals in Deutschland — zumal in Sachsen — bedeutete, lässt er selbst in der Art merken, wie er sich vor der „Lächerlichkeit" verwahrt. Zur Begründung der Gleichstellung und Beseitigung des ersten Einwurfs der Religionsverschiedenheit wirft er einen politischen Blick auf die unduldsamen Länder Italien, Spanien, Portugal, sodann auf die duldsamen und erwähnt neben Nordamerika — Russland, die beide selbst heidnische Religionen in sich schließen. „Nur wenn der Staat den Einflüsterungen der Geistlichkeit Einer Partei Gehör schenkte, nur dann gab es großes Unheil unter den Konfessionen." Das aber sei der schlechteste Beruf einer Regierung. Regent und Regierung sollen religiös sein, aber nicht parteiisch. Denn „Gott sieht nicht die Person an — wie die Schrift selbst bekennt — sondern in allerlei Volk, wer ihn fürchtet und Recht tut, der ist ihm angenehm". Freie Religionsübung, Nichteinmischung in die Liturgie irgend eines Bekenntnisses sei daher die erste politische Grundlage; würde diese verabsäumt, so könne man auch den Scheiterhaufen für Ketzer und Hexen rechtfertigen. Deshalb sei aber die Religion der Mehrheit im Staate keine Staatsreligion, wie Lamennais — „ein wahres Muster eines fanatischen Priesters" — in seiner Schrift („Das Verhältnis der Religion zur politischen oder bürgerlichen Ordnung") irrtümlich behaupte. Eine Staatsreligion setze vielmehr voraus, dass der Staat erst die Religion geschaffen habe, als eine politische Erfindung, den Pöbel im Zaum zu halten! „O Christen, Christen, ruft Krug, wie wenig seid ihr eingedenk, nach wessen Namen ihr euch nennet!"


Den zweiten Einwurf, die Israeliten wären schlecht, daher unwürdig der staatlichen Aufnahme, bezeichnet die Schrift als ein unmenschliches Absprechen über einen großen Glaubensteil. Es werden Beispiele von Edelmut der Juden vor Augen geführt, ihre Mäßigkeit in Leben und Sitte, „gewiss eine große Bürgertugend", und der Betrug, welchen Christen gegen Juden sich oft zum Verdienste anrechneten. Das Schlechte selbst aber werde nur durch völlige Vernichtung des noch vorhandenen Ausnahmezustandes vernichtet, während halbe Maßregeln den Kampf nur verlängern helfen könnten.

Dem dritten Einwurf, die Juden übten nicht alle Bürgerpflichten, stellt Krug die einfache Antwort entgegen: dass der Staat ihnen alle diese Pflichten mit der einen Hand aufbürden, mit der andern aber auch alle Rechte reichen möge, wie es Frankreich mit schönstem Erfolge getan.

Die Furcht vor Bereicherung der Juden stellt er als eine Verwechslung des Menschen mit der Geldbörse hin.

Den Einwand, dass der Jude sich nicht mit dem Christen verheirate, gibt er der Staatsgesetzgebung zurück, die zuerst dem Christen diese Erlaubnis geben müsse, während eine solche Ehe heutzutage noch als Missheirat gelte.
Der schlimmste aller Gegengründe endlich sei der, dass die emanzipierten Juden sich nicht bekehren würden. Also irdischer Güter oder Rechte wegen sollten sie ihren Glauben verlassen, der doch so uralt und kostbar sei, wie jeder andere? „O, da mögen sie nur immer Juden bleiben", ruft Krug am Schluss. „Denn das Vorurteil hat nur Eine Quelle, deshalb verweigert der Katholik so oft die Emanzipation dem Protestanten, der Protestant dem Katholiken, beide dem Juden."

Das war allerdings bündig gesprochen. Und die politische Bewegung, welche kurz nachher von Frankreich nach Deutschland herüberzog, rief ihr Amen drauf!

Die Juden fühlten das zuerst; mit unerhörter Energie, die zuletzt zum Ziele führen musste, betraten sie den Kampfplatz, um ihn nie mehr zu verlassen. Börne, der geborene Jude, der um „seine paar Dukaten jammerte, welche er dem Pfarrer für die Taufe gegeben", Börne, der trotzigste Kämpe der Freiheit mit der rücksichtslosesten, in Deutschland bisher unerhörten Sprache seiner „Pariser Briefe", reizte den Juden — Rießer vor allen —, weckte den Christen, der es noch über sich gewinnen konnte, kein Zünftler und Zöllner zu sein. Der deutschen unabhängigen periodischen Presse gebührt seitdem der Ruhm, mit wenigen Ausnahmen, auch hier auf der Seite des Rechts zu stehen, und die freisinnigen deutschen Abgeordneten fühlten, dass ohne Freiheit des Gewissens keine allgemeine Bürgerfreiheit möglich sei, obwohl auch unter ihnen der und jener, wie Rotteck, durch Unkenntnis der Verhältnisse oder hergebrachten Wahn, den freien Gesichtspunkt auf diesem Felde noch nicht zu gewinnen im Stande waren. Immerhin aber ist die Probe für die große Bedeutung dieser Frage jene glänzende Erfahrung, dass, je höher das Verfassungsleben in einem deutschen Einzelstaate pulsierte, auch um so freisinniger die Stellung der Juden beurteilt wurde.

Das Großherzogtum Baden eröffnete in diesem Zeitraum den parlamentarischen Reigen. Im Vordergrund stand eine kleine, aber prägnante Schrift Zöpfl's „Ein Wort über die Emanzipation der Bekenner des mosaischen Glaubens in Baden." Sie greift die Ungerechtigkeit der Gesetzgebung an und jenen deutschen Liberalismus, der noch nicht herausgetreten sei aus der Knabenperiode, wo er gesungen:

„„Deutsch-christlich ist mein Streben,
Und wer nicht deutsche Röcke trägt
Ist auch nicht vaterländisch!""

„Sollen 15.000 Seelen in Baden noch länger unfähig sein, Staatsbürger zu heißen, weil sie zu unserm Gotte nicht auf die Weise der drei christlichen Konfessionen beten?"

Genug, es begann zu tagen. Denkwürdig waren zuerst in Bayern die Vorträge der Abgeordneten Ebert und Dr. Lang in der zweiten Kammer. Ersterer hatte selbständig einen Antrag auf Revision der die Rechtsverhältnisse der Juden betreffenden Ausnahmegesetze eingebracht, mochten sie private oder öffentliche Befugnisse berühren, namentlich ihrer Ausschließung vom Staatsdienste und den Abgeordnetenwahlen. Der Zweite, Referent in dieser Angelegenheit, wendet sich in seinem überaus gediegenen Berichte zuerst gegen die sogenannte Staatsreligion als Ausschließungsgrund. Hierdurch werbe gerade diese Religion bloß das Mittel, irdische Vorteile zu erwerben, entgegen den Worten ihres Stifters:

„Mein Reich ist nicht von dieser Welt!"

Die Aufgabe des Staats und der Kirche sei verschieden. Diese sei durch Freiheit bedingt, beruhe auf innerer Überzeugung, während der Staat eine Zwangsanstalt sei. Jeder Bürger sei Mitglied des Staates und der Kirche; aber nur als ersteres ziehe er die Aufmerksamkeit des Staates auf sich. Der Genuss bürgerlicher Freiheit könne unmöglich an die Form der Gottesverehrung gebunden sein, weshalb auch, den Juden unantastbare Menschen- und Bürgerrechte nicht entzogen werden dürften. Ihre Gleichstellung erfordere mithin das christliche Religionsinteresse, die Menschlichkeit, vor Allem aber die Gerechtigkeit.

Jeder Bürger habe nämlich Pflichten und Rechte gegenüber dem Staate. Erstere bestünden in der Mitwirkung zu dessen Erhaltung im Inneren und nach außen, letztere in der politischen Freiheit, durch Anteil an der Regierung, also an der Volksvertretung und dem Staatsdienste, ferner in der bürgerlichen Freiheit, d. h. unbeschränkten Ausübung aller Geschäfte und Gewerbe, nächstdem in der freien Meinungsäußerung, besonders Religionsübung, endlich in der Teilnahme an den Erziehungs- und Bildungsmitteln. In allen diesen Rechten seien die Juden beschränkt, in den Pflichten nirgend.

Als Grunde dafür wendeten die Gegner ein: erstens Unmoralität des israelitischen Glaubens, welche den Christen zu bevorteilen gestatte und im Eide keine Garantie biete, zweitens Verderbtheit dieser Klasse von Einwohnern, drittens die Beschäftigung der Juden mit Schacher und Wucher, viertens die Gefährdung des christlichen Wohlstandes.

Der Charakter dieser Gründe erweise sich jedoch sofort als Schein ohne Wesen.

Die mosaische Religion enthalte die humansten Vorschriften. Einzelansichten im Talmud hätten weder tatsächlichen Einfluss nach Autorität, gewiss nicht mehr als die entgegenstehenden Lehren dieses enzyklopädischen Wertes. Den ausschließenden Charakter der Religion, welche zuerst den Satz enthält: „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst" könnte ihr in der Jetztzeit eben nur die Verfolgung aufdrücken.

Der Eid sei das Heiligste, welches das Alte Testament anbefohlen und der Talmud bekräftigte diese Heiligkeit auch gegenüber Andersglaubenden. „Traut man dem Juden übrigens den Verfassungseid zu, wie sollen andere Eide desselben minder heilig gehalten werden?"

Die Ritualgesetze des Juden hinderten ihn ferner so wenig an der Ausübung der Bürgerpflichten, dass er als Soldat am Sabbat wie jeder seiner Gefährten seinen Dienst verrichte.

Die sogenannte Verderbtheit der Juden sei, wenn von ihrer Gesamtheit die Rede sein soll, eine Erfindung, wäre aber selbst dann kein Wunder durch den Druck der Unfreiheit, den sie erlitten, sowie Schacher und Geldgeschäfte ihre einzig gesetzliche Domäne Jahrhunderte lang gewesen. Was man ihnen sonst als Gewerbe gestattete, ergriffen sie auch mit vollen Händen, den Ackerbau in Polen, die Heilkunde, die Wissenschaft überhaupt von jeher.

Konnte schon das Lang'sche Referat eine Musterarbeit genannt werden, so war die mündliche Auseinandersetzung desselben im Abgeordnetenhause eine Überaus gelungene. Die Verfassung, welche nicht auf Gerechtigkeit für Alle und Gewissensfreiheit gebaut sei, nannte der Redner ein Unding. Habe nun die bayerische Verfassung der späteren Gesetzgebung die Gleichstellung überlassen, so sei es Zeit, vorhandene Ausnahmegesetze aufzuheben. Wäre durchgängige hohe Bildung die Bedingung zur Aufnahme in den Verfassungsstaat, so hätte überhaupt gar keine Verfassung erlassen werden können; denn damals, ja noch zur Zeit besitze ein sehr großer Teil des bayerischen Volkes keine Empfänglichkeit für konstitutionelles Leben, welches erst durch die Verfassung selbst gepflegt werden könne.

Mit aller Energie wandte sich Lang hierauf gegen den Antrag eines Ausschussmitglieds, das Aufgeben des Talmuds und die Verlegung des Sabbats auf den Sonntag zur Bedingung der Gleichstellung zu machen. Der Abgeordnete Lösch nannte dies geradezu eine Zwangstaufe. Dr. Schwindel hob die volkswirtschaftliche Seite der beabsichtigten Maßregel hervor. Man gestatte den Juden das Geld, welches jetzt nur im Geldgeschäfte flottiert, zugleich in Gewerben und Grundbesitz anzulegen und der Staat werde bald den Vorteil spüren. Man gestatte ihnen, ohne Ängstlichkeit wegen ihrer Vermehrung, allenthalben das Ansässigmachen und die Verheiratung, und die großen Kapitalien werden überall segensreich sich verteilen. — Eben so geistvoll wie schlagend war namentlich die praktische Art, wie dieser Redner den Vorwurf des Betrugs widerlegte. „Wenn der Satz, sagte er, die Juden sind Betrüger, heißen soll, alle sind es, so leugne ich ihn, denn ich kenne zu viel Redliche unter ihnen; will man damit sagen, manche darunter sind Betrüger, so frage ich, wie kommt das, nachdem das Alte Testament Diebstahl und Betrug so stark verpönt? Sagt man dagegen, weil Juden Betrüger sind, so muss ihre Religion sie dazu machen, so frage ich, welche Religion erschafft denn die christlichen Betrüger? Man antworte nun, wie man wolle, so hat der Verteidiger der Juden gewonnen. Hat den Christen nicht das Christentum, sondern der Eigennutztrieb zum Betrüger gemacht, so gilt dasselbe vom Judentum; wo nicht, müsste ja auch das Christentum den Betrug erziehen!"

Auf eine Frage des Abgeordneten Heinzelmann, weshalb die königliche Versicherung der Besserung damaliger Zustande der Gesetzgebung für die Juden nicht in Erfüllung gegangen? erwiderte der Ministerialrat Abel (der bekannte spätere Minister der Reaktion): dass daran offenbar die Macht der Vorurteile schuldgewesen sei.

Wie lange ist es her, versetzte hierauf Abgeordneter Cullmann, dass sich die Christen nicht unter einander verfolgen? Und man will jetzt, um die Verfolgung der Juden zu beschönigen, die Gründe in ihnen, nicht in den Christen suchen!" Die deutsche Bundesakte hätte ein Versprechen gegeben, welches sie Betreffs der Juden gerade so erfüllt habe, wie für Pressefreiheit und konstitutionelles Leben. Auch hier müsse man sich daher selbst helfen, den Glaubensdruck abschaffen, der wahrlich keinen Edelmut in den Juden hervorrufen könne, etwa zum Lohne dafür, dass man ehedem jeden Kreuzzug damit eröffnet habe, sich im Blut der Juden zu baden! — Der Abgeordnete Closen bezweifelte übrigens die Gründe des Regierungskommissars. Das Wort „Emanzipation" klinge eben nicht gut in den Ohren der Regierung. Man habe aber noch viel zu emanzipieren: „Emanzipation unserer Kinder von Unwissenheit und Aberglauben; Emanzipation des Grundeigentums von erschwerenden Bedingungen und Lasten; Emanzipation der Gemeinden von der Regierungswillkür; Emanzipation des Geistes und der Presse von der Zensur; — daher lasse man ums Himmelswillen „„die niedere Stufe der Juden"" aus dem Spiele und suche sie wo anders!" — Die Resultate des Gegenteils jener „niederen Stufe" erörterte noch Abgeordneter Schickedanz nach geschichtlichen und statistischen Resultaten. — War nun auch das Fazit dieser Anstrengungen ein sehr geringes, ein Revisionsantrag bei der Regierung: so verliehen doch die Verhandlungen der Judensache einen gewaltigen Vorsprung, zumal die nüchterne Auffassung der Frage neu war und deshalb bedeutender als die spätere Diskussion in Baden, trotz der Beteiligung großer Kapazitäten.