Vierte Fortsetzung

Jedenfalls waren die Räte der Krone dazu angetan, das Mystische des Begriffs eines „christlichen Staates" in der Verwaltung zur Richtschnur zu machen, indem sie gegen jeden freien Aufschwung, namentlich in der Presse, zu Felde zogen. Als ein Physiker jüdischen Glaubens 1842 in die Berliner Akademie der Wissenschaften aufgenommen und vom König bestätigt wurde, fragte der Kultusminister Eichhorn schriftlich bei der Akademie an, ob sie auch gewusst habe, dass der Gewählte ein Jude sei? Die Akademie war jedoch ihrer Würde sich bewusst und ließ den Minister ohne Antwort. Damals geschah es, dass Humboldt jenen drohenden Entwurf mit den Worten geißelte: „Das Gesetz ist mit allen Prinzipien einer einigenden Staatsklugheit streitend; es ist eine gefahrvolle Anmaßung der schwachen Menschheit, die uralten Dekrete Gottes auslegen zu wollen; die Geschichte finsterer Jahrhunderte lehrt, zu welchen Abwegen solche Deutungen Mut geben!"

Aber auch Abwege finden ihre Parteigänger. Nicht bloß der mystische Anhang der Regierung, auch ihre Gegner hatten Vertreter in dem Feldzuge gegen die Juden. In der junghegel'schen Schule war es vor Allem Bruno Bauer, damals noch einer der entschiedensten Verteidiger des Rechtsstaates, selbst vom Lehrstuhl wegen zu großen Freisinnes entfernt, der 1842 in seiner Schrift „zur Judenfrage" die Aufnahme der Israeliten in den Staat bekämpfte. Fast die gesamte unabhängige Presse trat gegen ihn auf. Und doch mag ihm die Gerechtigkeit widerfahren, dass, falscher Grundlagen ungeachtet, der Schluss ein richtiger ist, dass die Emanzipation, wie jede andere große Prinzipienfrage des Fortschritts nur mit dem freien Staate stehe und falle.


Nach einem solchen rang das Volt; und die ersten Vorbereitungen wurden unbewusst vom König getroffen. Eingedenk des Versprechens seines Vaters, rief er auf den einstimmigen Ruf des Landes, obschon in ziemlich beschränkter Weise, den vereinigten Landtag aus der Mitte der Provinziallandtage zusammen, nachdem schon von diesen mehrere, besonders der Rheinische 1843 für die Israeliten sich ausgesprochen hatten. Der Vereinigte Landtag bot manche Ähnlichkeit mit den Generalständen Frankreichs von 1789. Diese Versammlung ward der Tummelplatz der verschiedensten Ansichten über die Emanzipation der Juden: denkwürdig durch Verhandlungen am Vorabend einer Revolution!

Auch aus ihnen leuchtet noch immer das Nützlichkeitsprinzip hervor; aber schon von der Rechtsidee durchwärmt, bilden sie einen würdigen Abschluss dieser zweiten Periode. Es zeigte sich besonders, dass das Volk in allen seinen Schichten, Adel und Bürger gleichmäßig höhere Gesinnungen offenbarte als die Regierung. Wie der vereinigte Landtag statt einer Nationalversammlung ein Ständeausschuss, so war auch die ihr vorgelegte Verordnung „die Verhältnisse der Juden betreffend" nichts als ein Pfropfreis des Entwurfs von 1842. Absonderung der Volksklassen, Trennung der Konfessionen war das Ziel der damaligen Regierung, und das Dunkel in dieser Richtung ließ sie weder deren Verkehrtheit, noch den Abgrund ahnen, der vor ihren Augen lag!

Der Gesetzentwurf enthielt in der Hauptsache dreierlei Rückschritte, gegenüber den Forderungen des Volks und der öffentlichen Meinung: die Schöpfung jüdischer Korporationen — nicht etwa bloßer Religionsgemeinden —, die man so recht, wie in der grasfesten Reichszeit: Juden schuften taufte; Vorenthaltung der wichtigsten Rechte, namentlich der Lehreistellen an christlichen Schulen und aller Staatsämter, welche „die Ausübung einer obrigkeitlichen Autorität enthalten"; Beibehaltung von besonderen Beschränkungen im Großherzogtum Posen.

Hierin lag überdies eine eklatante Verletzung der Bundesakte. Dies rügten nicht nur ein großer Teil der Redner, sondern auch die Gutachten der Abteilungen der Versammlung, sowohl der Herren-Curie, deren Referent Graf Itzenplitz war, als auch der Curie der drei Stände.

In der ersten, obgleich die Volksstimmung nicht repräsentierenden, behauptete zuerst Fürst Lynar, der vorliegende Entwurf enthalte wohl die gleichen Pflichten, nicht aber die gleichen Rechte der Israeliten mit den Christen. Noch weniger könne er sich mit dem „Korporationsplan" einverstanden erklären, der eine neue Scheidewand zwischen den Staatsbürgern ziehen würde, statt die Einheit des Staates zu begründen, durch welche die politische Macht und Größe bedingt werde. Der christliche Staat aber fordere gerade die volle Anerkennung jeder menschlichen Natur, erheische daher die volle Emanzipation.

Graf York wies darauf hin, dass unter der französischen Okkupation ganze Teile Preußens diese volle Gleichstellung ausgesprochen hätten und führte die besten Erfahrungen der Staaten an, in welchen diese gewährt worden. Die Berechnung, welche die Regierung in Betreff der Verbrechensstatistik vorgelegt, weist er als falsch nach.

Graf Dyhrn fügte hinzu, wäre er ein Feind der Juden, dann erst würde er recht auf voller Gleichstellung bestehen, da, wenn sie Fehler hätten, diese nur durch die Unterdrückung erzeugt worden wären. Der vorliegende Gesetzentwurf schmecke, oder besser rieche ihm nach dem Ghetto. Korporationen seien nur zu unterstützen, wenn sie organisches Leben in sich trügen und gesunde Kräfte entwickelten, nicht aber solche, welche, wie diese, als Mumien erweckt und den Juden aufgedrängt werden sollen wider ihren Willen und doch nur künftighin Judenstädte erzeugen müssten. Es handele sich darum, ein tausendjähriges Unrecht wieder gut zu machen, eine Rasse, welche die Grundlage des Christentums, lange Zeit die einzige Trägerin der Gottesidee gewesen, zur menschlichen, bürgerlichen Anerkennung zu bringen.

Graf Sierstorpff behauptet, das Recht lasse keinen Zweifel mehr aufkommen, seitdem die Juden in die Reihe der Vaterlandsverteidiger aufgenommen worden. Eine halbe Emanzipation sei, ein Wall, der leicht durchbrochen werde.

Dass im Laufe dieser Diskussion noch viel Unreife seitens einiger Mitglieder, wie Verlegung des Sabbats auf den Sonntag, viel Arroganz seitens des Fürsten Lychnowsky (der zu der adeligen Clique gehörte, welche die Kölner Wirren veranlasst hatte und der später so unglücklich geendet), selbst gutgemeinte Extravaganzen, wie Schöpfung einer eigenen freien Universität mit Berechtigung aller Konfessionen an derselben zu lehren — zum Vorschein kamen, das lag eben in der Zusammensetzung dieser Curie, die dem bürgerlichen Leben großenteils zu fern stand. Dennoch wurde selbst hier der Gesetzentwurf so amendiert, dass er in Eichhorns Urgestalt nicht mehr zu erkennen war.

Noch weit mehr aber war das in der Dreiständecurie der Fall. Schon der Bericht, dessen Verfasser Abgeordneter Sperling war, tadelte die Vermischung der kirchlichen mit der bürgerlichen Gesetzgebung in Einem Entwürfe und Einrichtungen, welche nur zur Folge haben mussten, dass das Individuum in der jüdischen Korporation aufgehe und der einzelne Jude seine bisherigen Rechte einbüße. Aber auch die vorgelegte Ordnung der bürgerlichen Verhältnisse sei ein Rückschritt. In Preußen gelte das Prinzip des Rechts und des Fortschritts. Diesem Prinzip gemäß müsse die Gesetzgebung sich fortbewegen, wenn sie nicht von der Höhe herabsinken sollte, welche das Land unter den übrigen Staaten Europas einnehme. Alle Einwände, die man hiergegen erhebe, seien veraltet und nichtig. Der Vorwurf der Absonderung treffe die Christen, welche sie hervorgerufen. Die Religion der Juden könne nichts Staatswidriges enthalten, sonst hätten andere Staaten die Emanzipation wieder zurückgenommen oder eingeschränkt. Preußen selbst erkenne dies an, da es die Juden für fähig erachtet zum Kriegsdienste und zu öffentlichen Ämtern. Ihre Sittlichkeit erfordere eine würdige Stellung im Staate. Und dies verlange auch die öffentliche Stimme, namentlich die fünf Provinziallandtage von 1845 und die eingegangenen Petitionen.

Die hierauf eröffnete Diskussion ist insofern die wichtigste unter allen derartigen parlamentarischen Verhandlungen, weil sie, anders als in Bayern, Baden, Sachsen, die vorgeschrittene Intelligenz in Bezug auf die Aufgabe des Staates und eine gereifte Kenntnis des Lebens und Wirkens den Israeliten vor Augen führt.

Der Abgeordnete Schumann (einer der Angeklagten im letzten Polenprozess) erklärt sich zuerst für volle Emanzipation, ohne Unterschied Posens, mit dem Bemerken, dass er früher ein eifriger Gegner der Juden gewesen und sich belehrt habe, weil er gefunden, dass sie, und zwar auch in jener Provinz, den Christen durchaus nicht nachstünden an Sittlichkeit und Bildung. Schacher, Wucher, Verschmitztheit gebe es unter den Christen in demselben Verhältnis. Hätten die ersten Jahrhunderte Judentum und Christentum friedlich neben einander leben sehen, so müsse es unsere Zeit nicht minder. Nur die herrschende Kirche habe beherrschte unterdrückte Kirchen und Kulte erzeugt. Der Schluss hieraus sei leicht zu ziehen. „Ich bin Christ — fuhr der Redner fort — Katholik, und würde glauben, die Pflicht eines Christen nicht zu erfüllen, wenn ich hier meine Stimme zu Gunsten derjenigen zu erheben Bedeuten tragen sollte, deren Väter unsere Vorbilder im Glauben an den einzigen Gott waren!"

Abgeordneter von Gottberg hebt die Mäßigkeit der Juden im Genuss, ihre Familientugenden hervor. Fehler im Handel und Wandel mit Christen waren, wo sie noch vorkämen, Folgen der Absonderung, die ja der vorliegende Gesetzentwurf aufs Neue hervorrufen wolle. Edle Geistesanstrengungen seien schon beim Verschluss edlerer Berufsarten unmöglich. Man gebe ihnen Staatsämter, und sie würden sich sofort mit hohen Geistesgaben ausgerüstet zeigen. Und diese Förderung der Kapazitäten sei sogar eine Forderung der Gerechtigkeit für die christlichen Staatsbürger im Namen des gesamten Staates, der solche hervorragende Geistesgaben um seinetwillen nicht schlummern lassen dürfe. Der christliche Staat sei falsch aufgefasst. Der Staat verlange nur Religion und Moral. In der Religion gelange man zum Glauben an Einen Gott, in der Moral zur Monogamie. Auf dieser Höhe stünden doch wohl die Juden! — Sich vor ihrer Fähigkeit fürchten sei entweder ein Armutszeugnis für die Christen oder Lächerlichkeit bei einem Verhältnis von 200.000 zu 16 Millionen. Gegen die Freizügigkeit der polnischen Juden sei das Bedenken erhoben worden, sie könnten das Land überfluten. Aber wären sie in der Tat eine Last, so müsse der gesummte Staat, nicht eine Provinz, diese Last tragen (Heiterkeit und großer Beifall). Er beschwöre die Versammlung, Unparteilichkeit zu üben gegenüber einem Vorurteil, welches, weil in der Kindheit eingeimpft, so schwer abzustreifen sei.

Graf Renard tadelt die Logik und den Inhalt des Entwurfs, der in direktem Widerspruch mit jeder bürgerlichen Verschmelzung und Gleichstellung stehe. „Der Jude soll Jude bleiben in der ganzen gehässigen Nebenbedeutung des Wortes" — und weil er Jude bleibe, solle er auch auf Gleichstellung mit den Christen keine Ansprüche machen. „So verstehe ich aber mein Christentum nicht, so löst der Staat, der sich so gern den christlichen nennt, seine Aufgabe keineswegs". Man spreche von einer Absonderung, die ihre Ursache unmöglich in den Juden habe. „Die Juden können unsere Feinde nicht sein. Ihre sittliche, religiöse, politische Anschauungsweise streitet dagegen." Ihre sittliche spiegele sich in der Reinheit ihres Familienlebens, welches wohl mitunter von Christen beneidet werden dürfe, und dem Gesetze der Liebe nicht widerstreiten könne. Ihre politische Gesinnung sei eine friedliche — aber als es gegolten, den von den Römerzeiten her sprichwörtlich gewordenen Mut zu bezeugen, da hätten sie ihn bewiesen: mit uns haben sie gefochten, für uns geblutet."

Fürst Reuß machte darauf aufmerksam, dass, wenn der Freiheitsgedanke einmal Wurzel gefasst, er nie mehr auszurotten sei. Seit sechs Jahren sei die Frage auf dem schlesischen Landtage angeregt worden. Während anfangs nur wenige (kaum 20) Stimmen für Gleichstellung gewesen, sei die Zahl neuerdings auf 158 angewachsen.

Und in diesem Sinne sprachen sich denn auch die vorzüglichsten Männer der Versammlung aus. Die Regierung machte mit ihren Erörterungen ein so starkes Fiasko, dass, als der Minister von Thile schlechterdings seinen „christlichen Staat" — der die Christen, wenn sie frei denken wollten, ebenso misshandelte wie die Juden — verteidigt hatte, Camphausen erwiderte, es freue ihn zwar, eine Stimme zur Variation des Themas zu hören, er bedauere aber, dass solche Argumente keinen Anklang mehr fänden. Er frage den Minister ernstlich, ob denn Frankreich und Holland, die doch die Juden emanzipiert, aufgehört hätten, christliche Staaten zu sein? Er habe wahrgenommen, dass in der Türkei und Russland die kirchliche und weltliche oberste Gewalt in einer Hand sich vereinigt fänden, in einem germanischen Staate niemals. Die Existenz des preußischen Staates sei an den Grundsatz gleicher politischer Berechtigung für alle Konfessionen geknüpft und die Monarchie sei gefährdet, wenn dieser Grundsatz verlassen würde. (Der Saal dröhnte von Beifallsrufen.)

Und Vincke, damals noch Verfechter des unumwölkten Liberalismus, führte zur Bekräftigung dieser Theorie besonders die Gegensätze des heutigen Regierungssystems mit der Bibel an: „Du sollst nicht töten! Du sollst nicht schwören! Liebet eure Feinde!" was wohl die Minister, was die Regierung in ihrer Gesamtheit, zumal in Kriegszeiten von diesen Geboten halte?"

Aber was mehr als alles bisher Vorgebrachte der Frage eine neue Seite abgewann, war die Art, wie die sonst ausschließlich als Gewerbe der Juden betrachteten Erwerbszweige als solche dargestellt wurden, die eben durch Hebung dieser Glaubensgenossen im Staate diesem ganz anders zu Gute kommen würden. Es war eine Freude, zu hören, wie das volkswirtschaftliche Prinzip zum ersten mal, namentlich von den ersten kaufmännischen Kapazitäten, den Beckerath, Camphausen, Hansemann, Mevissen — fast sämtlich später Finanz- oder Handelsminister —, in den Vordergrund gestellt ward. Dasselbe finanzielle Talent, welches in der niederen Sphäre oft widerwärtig hervortrete, habe weiter hinauf glänzende Erfolge erzielt und, durch den Adel der Gesinnung erhöht, könnte es glänzende Resultate für den Staat liefern, sowie demselben die vorzüglichen Talente der Juden in der Rechtskunde, Philosophie, Mathematik nur nützen würden, zumal wo ein Überfluss an praktischen Kapazitäten sonst nicht vorhanden sei.

Gegenüber solchen Ausführungen verhallten die ungereimten und engherzigen, mittelalterlichen Ansichten oder sogenannten Gründe des Gegenteils, welche von einigen Mitgliedern vorgebracht wurden, die sich später auch als die Feinde des Repräsentativsystems überhaupt und als Schöpfer der preußischen Reaktion in den Vordergrund gestellt haben. — Es wurden Zeugnisse der Gerichte vorgebracht, wonach die christliche Bevölkerung auch verhältnismäßig den größeren Teil der Verbrechen an Zahl und Schwere produzierte. Die sorgfältige Erziehung ihrer Kinder ward den jüdischen Eltern zum Lobe angerechnet. Und als später noch zwei bedeutende Kämpen für das Recht in die Schranken traten, von Saucken und Graf Schwerin, als Ersterer erwähnte, dass der „christliche Staat" einem Teile der Juden, der den Sabbat auf den Sonntag habe verlegen wollen, dies polizeilich untersagt, als Letzterer die Lösung der Frage als einen Kampf zwischen der Vormundschaft der Kirche über den Staat mit dem freien Geiste des 19. Jahrhunderts hinstellte, konnte Niemand denken, dass die volle Emanzipation dennoch bei der Abstimmung ins Hintertreffen geraten würde. Und doch war dem so. Eine Stimme entschied gegen die Teilnahme an ständischen Rechten, eine weit bedeutendere Mehrheit gegen die Staatsämter; obschon das Gehässige des Entwurfs allenthalben abgelehnt wurde. Es schien als hatte man geahnt, wie die Zeit diese Frucht der Verhandlungen schneller reifen lassen würde, als dem System der damaligen Regierung erwünscht sein konnte.