Erste Fortsetzung

Dass zuerst die Juden selbst hiergegen sich erhoben, Zimmern, Weyl, Salomon, war kein Wunder. Aber auch christlichen Verfassern war die Widerlegung ein Leichtes. Ewald (Ministerialrat in Karlsruhe) bewies zuerst — für jene stagnierende Epoche — in seinen „Ideen über die nötige Organisation der Israeliten in christlichen Staaten" (1816), dass man in dieser Frage Humanität und Zweckmäßigkeit verbinden könne, ja, dass beide einander unterstützten. Je mehr ein Staat einen Teil seiner Bevölkerung hintansetze, umso nachhaltiger zwinge er ihn zur Absonderung von den übrigen Teilen; während im entgegengesetzten Falle das Alte Testament selbst dem Juden die reinste Menschlichkeitslehre vor Augen führe, welche er zu vergessen keine Ursache habe, wenn der Staat sie ihm nicht vergessen mache durch sein eignes Beispiel. „Die Erziehung, welche den freien Menschen zur Sittlichkeit führt, lehre ihn auch Bitterkeit und Vergeltung gegen den Unterdrücker. Die Bildung zeige ihm erst feinen Menschenwert und den ihm gebührenden Rang im Staate. Werde dieser ihm widerrechtlich entzogen, welche Gefühle und Gedanken müssen sich dann ihm aufdrängen?"

Der Jude ist eingeboren, eingebürgert im Staate, mithin — folgerte eine andere wissenschaftliche Stimme (Krämer, „Die Juden und ihre gerechten Ansprüche an die Staaten" 1816) — hat er gleiche Ansprüche auf jedweden reellen Erwerb, jede freie Stellung, auf Achtung vor seinem Glauben, auf den Schutz gegen Hass und Vorurteile, die seine Person oder sein Eigentum treffen."


Aber vergebens schlossen sich achtenswerte Publizisten, wie Schmid in seiner Zeitschrift „Der deutsche Bund" (Heft 2. Von 1816) in solch nüchterner Verteidigung des staatlichen Prinzips den Vorgängern an. Vergebens entschieden sich selbst die Juristenfakultäten zu Berlin und Gießen in gelehrten Gutachten nach positivem Recht für die Juden! Die Humanität ward jetzt mediatisiert, und unter Utilität verstand man nicht die gefürchtete Gleichheit als Hebel zur reicheren Wirksamkeit für den Staat, sondern die althergebrachte Stände- und Kastensonderung, die ihren Mittelpunkt in der Zunftverfassung gefunden hatte. Das Zunftwesen, welches Jahrzehnte lang den Aufschwung der Industrie und des Handels in Deutschland größtenteils lähmte — das war die Standarte, welche das Zeichen der Judenfeindschaft trug. In dieser lässigen, zerfahrenen Zeit, in der Periode der heiligen Allianz und der Frau v. Krüdener war nichts Besseres zu erwarten. In Innungen war alles gesondert, weshalb nicht auch die Religion? Scheinbar wollte man die Juden erziehen und in Wahrheit verzog man die Christen!

Hier und da verstand eine praktische Regierung den Brotneid und wies ihn ab. Maximilian Joseph, der heitere König von Bayern, gab um diese Zeit einer Deputation Münchner Kaufleute, die sich über dem Flor des jüdischen Handels beschwerte, den einfachen Bescheid: „Meine Herren, Juden sind Kaufleute und Kaufleute sind Juden!“

Im Königreich Sachsen hingegen, wo die bekannte Judenfeindschaft Luthers die Ausschaffung dieser Glaubensgenossen, die Vertilgung blühender Gemeinden zur Folge gehabt hatte, wo es seit 1733 nur noch lediglich Schutzjuden gab, ganz in der selben Verfassung wie im 18. Jahrhundert, war es nach vieler Mühe dahin gebracht worden, dass die Regierung (1818) einige Knaben jüdischen Glaubens zu Dresden, welche Handwerke nur erlernen wollten, als Lehrlinge bei den Zunftmeistern aufzudingen gestattete, ohne Aussicht auf Gesellen- und Meisterrecht. Kaum aber war die Verordnung hierzu erschienen, da meldeten sich sämtliche Oberältesten der Innungen beim König Friedrich August, stellten ihm die bevorstehenden Übel des Landes vor, erinnerten ihn an die Zunftverfassung, die nur Christen (bis 1807 nur Lutheraner), als Meister kannte und das ergangene Reskript ward — ad acta gelegt. Als der damalige Vorstand der Dresdner israelitischen Gemeinde Kaim-Samuel dem Kabinettsminister v. Einsiedel deshalb sein Erstaunen äußerte, entgegnete dieser: der König habe heftig im Kabinett geäußert: Er könne seinen Bürgern den Eid der Treue nicht brechen! Zunftwesen hieß Bürgertum — das war die damalige Staatseinsicht, die Quelle des sogenannten Zweckmäßigkeitsystems. Und ein protestantischer Theologe, Professor Paulus zu Heidelberg, konnte sich noch allen Ernstes über die Absonderung der Juden beklagen!

Kein Wunder daher, wenn selbst in Preußen, dem einzigen deutschen Staate, wo Gewerbefreiheit herrschte, die bedeutendsten Rückschritte erfolgten. Alsbald nach dem zweiten Pariser Frieden behielt Friedrich Wilhelm III. für das neuerworbene Großherzogtum Posen die Beschränkungen der Juden bei, welche ihnen das Herzogtum Warschau auferlegt — ähnlich dem Napoleon'schen Dekret von 1808 — und bekräftigte sie später zum Teil mit wenigen Änderungen in der Verordnung vom 1. Juni 1833.— Noch bedeutender war die Kabinettsorder vom 18. August 1822, welche, unter Verletzung des Art. 16 der deutschen Bundesakte, den Israeliten die gewährte Zulassung zu akademischen Lehr- und Schulämtern ausdrücklich wieder entzog. Ja, man ging noch weiter. Während bisher standhaft der Grundsatz aufgestellt worden war, dass der israelitische Kultus nur ein geduldeter, nicht öffentlicher und deshalb in Betreff seiner inneren Einrichtungen sich selbst zu überlassen sei, ließ die Regierung 1823 die neuerdings entstandenen würdigen israelitischen Tempel wegen ihrer „Neuerungen" — Orgel, Chorgesang, deutsche Predigt, deutsche Gebete — polizeilich schließen, nachdem der König wenige Tage zuvor — in die Bibelgesellschaft eingetreten war. Belehrung der Juden zum Christentum war jetzt die Losung. Der Zweck ward teilweise erreicht. Aber aus einer großen Zahl der neuen Christen erwuchs der Regierung später unter Friedrich Wilhelm IV. die bedeutendste Opposition. So rächte sich der falsche Glaubenseifer im sogenannten „christlichen" Staat.

Doch der Patriot verzweifelt nie an der Freiheit und die Freiheit ist Eine für Alle! Das sagte sich das deutsche Volk, das Volk im echten Sinne — das sagte sich der gedrückte Israelit. Das Samenkorn zur ersehnten Frucht war in den deutschen Verfassungen gelegt, in den Kammern.

An die Ständeversammlung Bayerns wendete sich zuerst eine Petition der dortigen Juden. Angeregt durch Gregoires Vorbild, veröffentlichte zu gleicher Zeit ein katholischer Pfarrer dieses Landes, Xaver von Schmid „patriotische Wünsche und Vorschläge zur bürgerlichen Verbesserung der Israeliten" (1819). Er mahnte zur offenen Darlegung der Verhältnisse gegenüber den christlichen Kaufleuten, welche in der Kammer ihre Abgeordneten hätten, während die Juden unvertreten wären. Bekunde sich doch der ungereimte blasse Brotneid am klarsten in der Petition eines christlichen Detailhändlers, der auf die Gefahr hinzeige, welche allen andern Gewerben durch deren Freigebung an die Juden drohe. Und doch zeigten sich dieselben in den akademischen Hörsälen, in den chemischen Offizienen gleichwie im Comptoir des Kaufmanns. Im Reichsrat verteidigte Graf Arco die Sache der Menschheit und des Rechts. Ein verbesserndes Gesetz ward von der Regierung zugesagt und unmittelbar nachher die öffentliche Meinung durch eine Schrift des Professors Lips in Erlangen „Über die künftige Stellung der Juden in den deutschen Bundesstaaten (1819)" vorbereitet, die sich noch besonders gegen die Rohheiten kehrte, deren Schauplatz um diese Zeit Süddeutschland, besonders Frankfurt und München geworden waren: Aussprüche eines von sogenannten gebildeten Neidern und Gegnern der Juden aufgehetzten Pöbels. Der Verfasser scheint absichtlich das Judentum als Religion des Stillstandes zu bezeichnen, die jüdischen Sitten als hinter der Kultur zurückgeblieben — was auf den ersten Blick widerlegt werden konnte —, um der Gesetzgebung die Schuld davon aufzubürden. „Man betrachtet den Juden, ruft er, als Mitglied des Staatsvereins in Rücksicht aller Lasten, während man ihm die wichtigsten, notwendigsten und heiligsten aller Rechte des Staatsbürgers vorenthält. Man gestattet ihm, seine Religion offen zu bekennen, aber dies Bekenntnis; sperrt ihm auch sofort die Staatspforte, die würdige soziale Stellung. Ja, man verpflichtet ihn zu reichen Beiträgen für Kultus und Unterricht, ihm selbst aber fließt nichts davon zurück." Und doch gab es schon damals in Bayern unter 25.000 Israeliten 252 ackerbauende Familien, 169 selbständige Handwerker und 839 Lehrlinge und Gesellen (eine Zahl, die sich nach 20 Jahren vervierfacht hat).

Man sollte meinen, so kräftige Stimmen würden in den Räumen der Stände ihr Echo finden. Aber es waren eben nur Stände, keine Vertretung des Volks, sondern einzelner Klassen, deren jede ihre Interessen zu wahren suchte. Ihrer Gesamtheit fehlte wie der Regierung der freie Blick. Alles, was man fürs erste erzielte, waren — Versprechungen. Entblödete man sich doch in der Deputation der zweiten Kammer nicht, die Verlegung des Sabbats auf den Sonntag zur Bedingung des verbesserten Bürgertums zu machen — als ob man den Katholiken in einem Protestantischen Lande zumuten könnte, Maria Himmelfahrt auf das Reformationsfest zu verlegen!

Besser, mindestens für die damalige Periode, gestalteten sich die Verhältnisse in Württemberg, wo die Regierung selbst das Banner des Fortschritts, wenn auch langsam, aufrollte. Namentlich gaben in der Abgeordnetenkammer die Minister von Autenrieth und von Schmidlin die gegnerischen so leidenschaftlichen wie unwahren, nur von Kaufleuten ausgegangenen Behauptungen dem Spotte preis; und so ward ein Gesetz vom 25. April 1828 erlassen, welches die Freiheit des Gewerbebetriebs im engeren Sinne sanktionierte, mit Ausnahme des Güterhandels, jedoch neben manchen selbst die Verheiratung erschwerenden Beschränkungen des Kleinhandels, zu welchen die Agenturen und das Pfandleihen gezählt wurden!