Zweite Fortsetzung

Das aber wäre ein eigentümlicher Staat, wo man Minister werden kann, wenn man im ersten Wechselplatz des Landes, dagegen kein ordentlicher Professor, wenn man in dessen Residenz das Licht der Welt erblicken musste! Dennoch ging die Initiative der Reform nicht von der Regierung aus.

Schon im Februar 1866 hatte ein Erkenntnis des Preußischen Obertribunals gleichfalls durch die Art. 4 und 12 der Verfassungsurkunde alle früheren entgegenstehenden Bestimmungen, insbesondere insoweit auch das Gesetz von 1847, nicht minder alle späteren verletzenden ministeriellen Verordnungen für aufgehoben erklärt. Eine erste Folge hiervon war wohl — freilich erst nach Sadowa — die Bestätigung einjähriger Freiwilliger zu Landwehroffizieren im Januar 1867. Den zähen Widerstand, welchen der Unterrichtsminister der akademischen Beförderungen der Juden an den Hochschulen außer Berlin entgegensetzte, brach zuerst ein Antrag der Universität Königsberg, welche hierauf nach Beschluss des Landtags ihres konfessionellen Charakters entkleidet wurde und Juden als Professoren berief.


Damit war jedoch das Abgeordnetenhaus nicht zufrieden. Vielmehr trat es in der Sitzung vom 12. Januar 1667 mit 171 gegen 81 Stimmen nach dem vortrefflichen Bericht des Abgeordneten Lent und der gediegenen Befürwortung durch die Abgeordneten Kosch, Techow und Michaelis dem Antrag seiner Kommission bei, eine von dem verdienstvollen Dr. Phillippsohn (Herausgeber der Allgemeinen Zeitung des Judentums) verfasste, von 303 israelitischen Gemeinden unterzeichnete Petition um Abhilfe gegen alle schon gerügten Verfassungsverletzungen der Regierung zu überweisen. Diese erklärte sich auch nicht gegen die Besserung. Der Minister des Innern, Graf Eulenburg, sprach von Eröffnung aller Ämter in seinem Ressort. Der Unterrichtsminister von Mühler sprach den Juden die Lehrerstellen an den Schulen zu, ausgenommen an denjenigen, welche statutenmäßig oder sonst speziell einen christlichen Charakter hätten, was in seiner Praxis heißen sollte: nach dem Herkommen!

Der Justizminister endlich rückte mit Besetzung der Staatsanwaltsstellen vor, die verhängnisvollen richterlichen Ämter aber sollten ein unantastbares Heiligtum bleiben. Sprachs — und damit hat's heute noch sein Bewenden. Denn auch nach dem Scheiden dieses Ministers, Grafen zur Lippe, änderte sein Nachfolger, Dr. Leonhardt, diese Praxis nicht.

Somit würde das Recht der Juden oder vielmehr die preußische Verfassung auf dem Sande bleiben, wenn der Norddeutsche Bundesstaat nicht zur Hilfe käme. Das aber muss und wird er; er muss es, weil die deutsche Einheit sonst einen Leck bekommen würde, wollte man selbst das Armutszeugnis übersehen, welches sich die neue Schöpfung dem Ergebnis von 1848 gegenüber ausstellen würde. Er wird es aber auch, nicht bloß aus Ehrgefühl, da er von Österreich hierin bereits überflügelt worden, sondern nach den Vorgängen im Schoße des Norddeutschen Reichstags. Zwar ist die konfessionelle und staatsbürgerliche Gleichheit als Grundrecht aus der neuen Verfassung aus eigentümlichen Opportunitätsrücksichten ausgewiesen worden. Aber ist nicht die Freizügigkeit aller Norddeutschen bereits zum Gesetz erhoben? Soll diese nicht nächstens auch auf Süddeutschland erstreckt werden? Nun gibt es aber keine Freizügigkeit ohne Gleichheit staatsbürgerlicher Rechte in den betreffenden Staaten; es gibt eine solche zwar auf dem Papier, jedoch in der Praxis nimmermehr, zumal wenn es sich, wie hier, um eine halbe Million Untertanen handelt, welche Kapital, Handel, Industrie und Intelligenz in so hohem Grade besitzen. Oder heißt das etwa eine Freizügigkeit, welche voraussetzt, dass der Richter oder Lehrer aus Baden-Württemberg, ja selbst aus der preußischen Provinz Kurhessen, nach Berlin nur unter der Bedingung übersiedeln darf, dass er seinen Beruf gänzlich aufgeben will!

Der Reichstag hat aber auch die nötigen Schritte bereits getan. Auf Antrag des Abgeordneten Wiggers aus Mecklenburg, wo die Erwerbung von Rittergütern für die Juden mit der lästigen Bedingung verknüpft ist, die darauf ruhenden öffentlichen Realrechte der Landstandschaft, der Polizei und der Gerichtspflege durch einen von ihnen zu besoldenden Stellvertreter ausüben zu lassen, hatte bereits am 23. Oktober 1867 infolge bezüglicher Petitionen mecklenburgischer israelitischer Gemeinden der Reichstag beschlossen, „die Petition dem Bundeskanzler mit der Aufforderung zu überweisen, in nächster Session einen Gesetzentwurf vorzulegen, durch welchen alle noch bestehenden aus den Verschiedenheiten des religiösen Bekenntnisses hergeleiteten Beschränkungen der bürgerlichen und staatsbürgerlichen Rechte aufgehoben werden."

Inzwischen war auch das neue Freizügigkeitsgesetz am 1. Januar 1868 in Kraft getreten und darin jedem norddeutschen Staatsangehörigen der Erwerb von Grundbesitz überall im Bundesstaat ohne lästige Beschränkung als Recht zuerkannt worden. Dennoch wies der Bundesrat die Beschwerde, welche nunmehr von Rostock und Schwerin aus an den Bundeskanzler unmittelbar gelangt war, zurück, „weil die Ausübung öffentlicher Rechte zur Autonomie der Einzelstaaten gehöre", als ob die Besoldung eines Stellvertreters keine lästige Beschränkung wäre! Dies beirrte jedoch den unermüdlichen Moritz Wiggers so wenig, dass er neue Anstrengungen mit glücklicherem Erfolge im April 1868 machte, hierauf beschloss der Reichstag am 16. Juni 1868: den Bundeskanzler aufzufordern, dass in Ausführung des am 23. Oktober vorigen Jahres gefassten Beschlusses des Reichstags baldigst ein Gesetz vorgelegt werde, welches erstens alle noch bestehenden, aus der Verschiedenheit des religiösen Glaubensbekenntnisses hergeleiteten Beschränkungen der bürgerlichen und staatsbürgerlichen Rechte aufhebt, zweitens für alle Eidesleistungen der Israeliten eine der Gleichberechtigung entsprechende Form einführt, drittens die volle Gleichberechtigung der Israeliten zur Teilnahme an der Gemeinde- und Landesvertretung, sowie zur Bekleidung öffentlicher, Gemeinde- und Staatsämter im Gebiete des Norddeutschen Bundes ausdrücklich anerkennt. Dagegen wurde der Antrag: die Verbote und Beschränkung der Eheschließung zwischen Christen und Juden, sowie die auf dem israelitischen Glaubensbekenntnis des einen Teils beruhenden Beschränkungen der ehelichen Rechte durch Gesetze zu beseitigen, abgelehnt.

Eine Ablehnung, welche recht deutlich zeigt, wie fest noch der Partikularismus in einem Teile des deutschen Volts oder doch seiner jetzigen Vertreter sitzt, wenn er sich auch bald hinter der sogenannten Autonomie, bald hinter Provinzialgewohnheiten, bald hinter der Furcht vor Zentralisation versteckt. Auch diese ablehnende Mehrheit hat die Freizügigkeit nicht recht ins Auge fassen oder begreifen wollen, sonst hätte sie wohl bedacht, dass sehr oft der deutsche Ehemann, seine Ehehälfte, wenn sie verschiedenen Glaubens, an der Grenze eines deutschen Staats, den er statt seiner früheren Heimat erwählt, zurücklassen muss, will er sie nicht in seinem neuen Wohnorte durch die Behörde getrennt sehen. Oder haben wir es nicht erlebt, dass noch nach Erscheinen der Freizügigkeit das sächsische Kultusministerium im Jahre 1868 der Polizeibehörde den Auftrag gab, eine christliche Ehefrau von ihrem jüdischen Ehemanne, dem sie in aller Form im Großherzogtum Weimar angetraut worden war, zu entfernen und nur durch das Ministerium des Innern, welches der Polizei diese Mitwirkung untersagte, daran verhindert wurde? Die Ehe gehört nach der Ansicht bedeutender Rechtslehrer längst nicht mehr ins Kirchenrecht, sondern ins Privatrecht. Aber ob Kirchenrecht, Privatrecht, Familienrecht — wann wird Deutschland endlich erkennen, dass es Ein Recht für den gesamten Bundesstaat geben muss. Eine Einheit oder keine.

Inzwischen haben sowohl die Wiggers'sche Begründung seiner Anträge, sowie der vortreffliche Bericht des Dr. Endemann die Schattenseiten der mangelnden bürgerlichen und staatsbürgerlichen Gleichheit so klar gezeichnet, dass dieser Gegenstand, wie beide mit Recht hofften, endlich von der Tagesordnung der deutschen Legislative auf immer verschwinden wird. Das deutsche Voll in seiner größten Mehrheit hat längst eingesehen, dass das Spiel mit der Autonomie nicht geeignet ist, jene straffe Einheit ins Leben zu rufen, die ihm allein ein besseres Leben und wahre Freiheit verspricht.

„Hebt Deutschland nur in den Sattel", rief ein geistreicher Abgeordneter bei Beratung der norddeutschen Verfassung, reiten wird es schon selbst können. Gewiss, aber wenn der Sattel so viel Risse, Höcker und Spitzen aufweist, wie jetzt, so bleibt dem Reiter nichts übrig, als den Sattel abzuwerfen, will er nicht selbst aus demselben geworfen werden.

Und hinter der seligen Bundesakte, Art. 16, darf doch das Deutschland von 1866 wahrlich nicht zurückbleiben! Man wird wohl bedenken müssen, dass das neue Gebäude, soll es haltbar sein, unmöglich das Stückwerk aus dem alten übernehmen kann. Unerklärlich wird es jedoch immerhin. Mit- und Nachwelt finden, dass ein so eminenter Staatsmann, wie Graf Bismarck, der das Wert deutscher Einheit in so ungeahnter Weise mit eben so viel Glück als Geschick herzustellen begonnen und unbeirrt zu Ende führen wird, die Initiative zur Legung dieses Bausteins sich entreißen ließ und auch nur daran denken konnte, den alten Schutt in seinen neuen Tempel überzuführen. Zwar hat aller irdische Glanz seine dunklen Flecken. Muss aber auch der politische Genius politische Schwächen besitzen? Somit wäre ein Abschluss gefunden für die glückliche Periode, welche mit dem Jahre 1848 begonnen hat für das Voll, die Gewissensfreiheit, die Trennung des Staats von der Kirche, also auch für die Einverleibung der Bekenner des israelitischen Bekenntnisses in das Staatswesen. Der Grundsatz ist als unbestritten und seine Ausführung als Forderung des Rechts anerkannt. Das ist der Triumph unserer Zeit, die Frucht der sozialen Revolution, welche sich ins große Buch der Geschichte mit ehernen Griffel unauslöschlich eingegraben hat. Das Mehr und Minder der Gewährung ist insofern nicht mehr von besonderem Belang. Alle Welt weiß, dass die Schuld begründet und demgemäß getilgt werden muss. In zivilisierten Staaten wird es jedes vernünftige Parlamentsmitglied unter seiner Würde halten, die Zuhörer, wie ehemals, mit der Erörterung der Hauptfrage zu langweilen. Noch mehr! die Zeit ist nahe, wo man selbst die Herrschaft einer Staatsreligion als Kriterium eines niederen Grades von Zivilisation betrachten wird.