Vierte Fortsetzung

Besser ist es zwar im eigentlichen Kaiserreich, sowohl mit der Autonomie der jüdischen Gemeindeverwaltung, als auch mit dem Bürgerrechte bestellt.

Im Jahre 1861 gestattete nämlich eine kaiserliche Verordnung allen wissenschaftlich graduierten Juden im russischen Reiche den Eintritt in den Staatsdienst, was durch Ukas am 1./13. Februar 1866 auch auf das Königreich Polen ausgedehnt wurde. Doch werden in der Praxis auch die studierten und befähigten Juden zum Staatsdienst regelmäßig nicht zugelassen, sondern die Taufe zur Bedingung gemacht.


Seit 1867 ist der Aufenthalt in 12 Gouvernements Großrusslands nur Kaufleuten erster und zweiter Gilde und Handwerkern jüdischen Glaubens gestattet. Im Dezember 1867 dagegen untersagte ein Zirkular des Generalgouverneurs von Litauen den Juden jeden Erwerb von Grundbesitz in den westlichen Gouvernements, ohne dass dieses durch kaiserliches Dekret angeordnet wäre. Im südlichen Russland, namentlich in der Krim, wird der dort in großem Maßstabe betriebene Ackerbau der „Hebräer" (wie sie die Gesetzessprache nennt) durch Erleichterung des Grundbesitzes und Befreiung vom Militärdienste begünstigt. Dagegen wird letzterer den Israeliten sonst streng auferlegt, ohne Aussicht auf ein höheres Avancement als bis zum Unteroffizier! Daher die zahlreichen Desertionen. Es geht mithin auf diesem Gebiete wie bei jeder Zuvielregierung: ein vortrefflicher Ukas und drei widersprechende Verordnungen der Gouverneure. Keine Ordnung nach Recht, viel Unordnung im Unrecht.

Die Pforte hat teils früher durch den Hatti-Scherif von Gülhane vom 3. November 1839 und den Hatti-Humajun vom 18. Februar 1856 die freiere und rechtlichere Stellung der Nichtmoslems, besonders auch der Juden, festgestellt, teils dadurch erweitert, dass der gegenwärtige Sultan Abdul-Aziz am 4. Mai 1868 einen Staatsrat für das Reich einsetzte, in welchem drei Juden Sitz und Stimme haben; eine Vertretung, die nicht bloß im Verhältnis zu den übrigen Mitgliedern (45 Türken, 9 Armenier und 7 Griechen) der Zahl nach eine richtige ist, sondern auch eine Sicherung der bürgerlichen Interessen und künftiger völliger Gleichstellung der Rechte dieser Glaubensgenossen in sich schließt, soweit dies mit den Einrichtungen und gelockerten Zuständen jenes Reiches überhaupt möglich ist.

Sehr verschieden sind die einschlagenden Verhältnisse in den Donaufürstentümern. In Serbien hat die überaus freisinnige Verfassung des Fürsten Milosch von 1835 allen Konfessionen völlig gleiche Rechte gewährt, die auch so ziemlich in dem organischen Statut von 1838 unter dem Einfluss der Pforte bestätigt worden sind. Später jedoch entzog die nach russischen Winken handelnde Regierung Alexanders Karageorgewichs besonders einen Teil der gewerblichen Freiheit, was auch 1861 von Fürst Michael gesetzlich bestätigt worden ist. Daher das eigentümliche, der Landeskultur keineswegs förderliche Verhältnis dass die Juden aktives und passives Wahlrecht zur Skuptschina und zu den Gemeindeämtern besitzen, aber weder das Recht zum Kleinhandel noch zum Grunderwerb auf dem Lande. — In Rumänien dagegen kann nach den neuesten Ereignissen, Zerstörung jüdischer Tempel, Plünderung von Judenhäusern, Ertränkung der Juden selbst von Rechten wohl keine Rede sein. Die freisinnige Verfassung von 1848 sucht eben noch ein Volk das ihrer würdig ist. Zur Zeit gibt es nur einen Kleinadel und Pöbel, die sich zum Teil (was auch ein Minister, Bratiano, 1867 nicht verschmäht hat) mit einander verbinden, um die Juden fühlen zu lassen, dass sie den dritten Stand bilden, dass der Kleinadel arm und der Pöbel roh ist. Neuerdings wird wieder einmal ein Gesetz zur Gleichstellung der Juden oder doch zu etwas Ähnlichem erwartet. Für jetzt steht das Land durch seine Judenhetzen zur Zeit außerhalb europäischer Kultur. Wohltuend ist es schließlich den Blick auf die amerikanische Union (alle übrigen außereuropäischen Länder entziehen sich dem Kreise dieser Betrachtung), jenes Heimatland echter Demokratie, zu werfen, dem einzigen Staat, der bei seiner Gründung den Grundsatz völliger Trennung von Staat und Kirche ausgesprochen hat: ein Ausspruch, welchen das alte Europa, Frankreich ausgenommen, ungeachtet seiner fast blasierten Zivilisation, erst in der neuesten Zeit kennen gelernt hat. Amerika hat aber nicht bloß gesprochen, sondern auch alsbald gehandelt. Schon vor Ende des vorigen Jahrhunderts waren Juden in den Legislaturen. Neuerdings ist 1867 in der Person Otterburgs ein Unionsgesandter in Mexico ernannt worden.

Ob die in der Zivilisation zurückgebliebenen Staaten ihre Augen dem Rechte bald öffnen werden, muss dahin gestellt bleiben. Der Vorteil, den die Gleichstellung der Gesamtheit bietet, sollte mindestens erwirken können, was das Recht nicht durchzusetzen vermocht. Dass dieser Nutzen die materiellen wie geistigen Güter der Israeliten zugleich betrifft, wer wollte es verkennen? Aber wer könnte auch leugnen, dass diese mit der steigenden Blüte des Staats, und besonders bei verhältnismäßig größerer Anzahl der Bewohner jüdischen Glaubens augenscheinlich identisch ist? Die naive Zeit ist vorüber, wo Pharaonische Gesetze gegen die Juden zur Staatsweisheit gehörten. Aber auch die lächerliche Furcht vor Überflutung des christlichen Handels mit ihren noch lächerlicheren gesetzlichen Folgen ist längst in Deutschland, Frankreich, England, den Niederlanden und Belgien, in diesen auf der Höhe der rationellen Staats- und Volkswirtschaft stehenden Staaten geschwunden. Sie ist verurteilt wie das Schutzzollsystem. Es wird daher in den meisten Fällen schwierig, ja unpassend sein, das Wohlbefinden des Staats in seiner ganzen großen Bedeutung statistisch nach Religionen oder Konfessionen zu trennen. Dass die höhere und niedere Finanz, dass Handel und Industrie in großen Dimensionen in den Händen der Israeliten sich befinden, ist zu ihrem und dem Heil des Landes zumeist ein Axiom geworden. Der Staat fragt nicht mehr, ob Getaufte oder Ungetaufte ihm die gerecht verteilten Steuerkassen füllen und seinen Handelsflor erhöhen, seine Flagge glänzen lassen. Aber er fragt auch nicht mehr, ob in demselben Maßstabe, wie Handel und Fabrik, auch das Handwerk in den Händen der Juden sich befinde. Die Statistik wird diese Frage zumeist verneinen, und die Gründe dieser Erscheinung sind nicht weit zu suchen. Nicht bloß das größere Kapital nämlich hieß den Juden oft genug die Erwerbzweige wählen, wo dasselbe eine größere Rolle spielt, sondern vorzüglich wirkten auch die beiden Umstände, dass die Israeliten meist größere Städte bewohnten und dass das Handwerk bereits seinen goldener Boden verloren und der Fabrik dienstbar geworden war, als der erste Schimmer bürgerlicher Gleichstellung sich zeigte.

Was die Juden dem Staate im Kriege leisten können, das zeigt in Preußen der deutsche Befreiungskrieg von 1813—1815. Auf 18 Männer kam ein freiwilliger Jude und 184/5 Prozent des Heeres bestanden aus jüdischen Bekennern.

Als Probe des statistischen Verhältnisses der Gewerbe mögen nachfolgende Zahlen aus dem Königreiche Preußen, einem der zivilisiertesten Staaten der Erde, hier eine Stelle finden:

Es befanden sich zu Anfang des Jahres 1862 unter 18.491.220 Einwohnern 253.457 Israeliten. Von diesen waren
a) im Heerdienste 1.328
b) Eigentümer und Pächter von ländlichen Grundstücken 591
Verwalter oder Wirtschaftsbeamte in denselben 52
Pächter einzelner Nutzungen 26
Brauer, Branntweinbrenner oder Destillateure 302
c) Handwerker 11.463
d) Tagelöhner 2.106
e) Bankiers 550
f) Selbständige Kaufleute 12.521
g) Lieferanten, Kommissionäre, Pfandleiher 2.035
h) Viktualienhändler 3.003
i) Trödler und Krämer 6.023
K) Gehilfen der Handeltreibenden e—g 7.665
l) Gehilfen der Gewerbetreibenden h—i 1.249
m) Pferdehändler 938
n) Fracht- und Lohnfuhrwerker 280
o) Inhaber von Gasthöfen 320
p) Inhaber von Krügen und Ausspannungen 780
q) Speisewirte 205
r) Schankwirte 1.712
s) Gesinde 4.814
t) Künstler, in wissenschaftlichen Gewerben Beschäftigte,
Erzieher, Kommunaldiener 2.535
u) Rentiers und Pensionäre 2.992
v) Von fremden Mitteln Lebende 2.187
w) Erwerbslose und Bettler 2.435

Auffallend endlich ist das bei weitem stärkere Verhältnis der Ehen bei den Israeliten. Während in runder Zahl in der christlichen Bevölkerung 3.124.000 leben von jenen 78.500 in der Ehe, also dort ungefähr 1/6, hier fast 1/3.

In Frankreich waren 1860 unter 100.000 Juden 19 Stabs- und 175 niedere Offiziere im Heer.

In den Niederlanden wurde in demselben Jahr das Mitglied des Provinzialgerichtshofs, Dr. Godefroi, zum Justizminister ernannt.

Was Wissenschaft und Kunst an den Israeliten besitzt, bedarf keiner besonderen Erwähnung.