Fünfte Fortsetzung

Man hat zwar nun oft behauptet, es wäre mit der durch das Gesetz ausgesprochenen Gleichstellung wesentlich nichts getan, wenn ihr nicht die soziale Emanzipation vorangehe oder auf dem Fuße folge. Unter dieser letzteren begreift man die Amalgamierung der bürgerlichen Gesellschaft überhaupt. Das Gewicht, welches hierauf gelegt wird, scheint jedoch ein weit größeres als die Zustände erfordern. Mag e auch wahr sein, dass in Stadt und Land noch vielfache Vorurteile gegen die gesellige Gleichheit, zumal seitens der Christen, vorhanden sind. Am stärksten im weiblichen Teil der gebildeten Gesellschaft. Bald ist’s eine Frau Rätin, bald eine Frau Professorin, die ihre ungetaufte Standesgenossin perhorresziert. Haben wir’s ja oft erlebt, dass auch Männer, welche den Fortschritt und die Gleichheit vor dem Gesetz stets im Munde führen, ihre Grundsetze recht schnell vergessen, wenn es gilt, sie im Privatleben zu Gunsten eines Juden zu betätigen. Jedoch sind diese Vorurteile zum Teil im Schwinden begriffen, teils zwingt die eiserne Notwendigkeit de Verkehrs auch hier das soziale Element in ihre Fesseln. Schaffet nur gute Schulen, freie Gesetze, hebt für beide den konfessionellen Charakter auf und alle Volksteile werden sich umarmen lernen. Es fragt sich daher nur noch, ob es ganz besonderer Anstrengungen, namentlich Verbindungen der Juden bedürfe, um die Gesetzesgleichheit, wo sie noch nicht eingetreten ist, herbeizuführen. Es hat auch an derlei Bünden nicht gefehlt, weder an öffentlichen, noch an geheimen, so lange die Öffentlichkeit als Hochverrat gelten konnte. Zu letzteren, meist unbekannten, gehörte der im Jahre 1815 zu Göttingen entstandene „gute Zweck“, ein Bund, dem auch Rießer verwandt war; ferner von 1836 bis 1846 eine anonyme Gesellschaft mit einer Art Carbonari-Verfassung, deren Sitz zumeist Wien und Berlin war. Eine öffentliche Verbindung jener ersten Art ist die „Alliance Israélite universelle“, deren Zentrum Paris ist, mit Filialen in allen Haupt- und vielen Mittelstädten der vier Weltteile.

Die segensreiche Tätigkeit dieses bedeutenden Vereins hat sich bereits vielfach, besonders im Orient (die europäische Türkei eingeschlossen) geäußert. Wenn diese Gesellschaft bisher in Deutschland nicht genügend Anklang und Anhang gefunden hat, so liegt wohl der grund hierzu zumeist in einer, freilich nicht mehr zeitgemäßen Bangigkeit vor dem Vorurteil, als bildete sich das Judentum hierdurch zu „einem Staat im Staate.“ Dies scheint wohl auch die neue ungarische Regierung geargwöhnt zu haben, als sie vor Kurzem (ganz gegen die Vereinsfreiheit) einem Zweigverein der Allianz in Pesth einige Zeit hindurch untersagt hat.


Vergisst man denn in Deutschland die zahlreichen Verbindungen christlicher Konfessionen, die sich über die ganze Erde verbreiten, den Gustav-Adolphs-, den Boromäus-, Pins- und andere zahlreiche Vereine, die nicht immer so offen handeln wie die Allianz?

Inzwischen dürften alle diese an sich löblichen Bestrebungen vom Geiste der Zeit überflügelt werden, so lange die Hauptunterstützung, eine politische Konzentration der Juden, ihnen noch mangelt. Es soll damit eine solche staatliche Verbindung nicht als unumgänglich nötig bezeichnet werden; ersprießlich wäre sie jedoch unbedingt, und die Zeit scheint nicht so fern zu sein, wo diese Idee zur Wahrheit werden soll. Jedenfalls ist die Politik, die gegenwärtige Lage und der, trotz aller künstlichen Mittel immer näher rückende Verfall der Pforte, ihr günstig. Schon seit 1840, seit den Blutszenen von Damaskus, beim Entstehen der Quadrupel-Allianz, lag Lord Palmerston der Plan vor, eine jüdische Kolonie in Syrien zu gründen. Selbstverständlich konnte nun die Verwirklichung dieses Plans, wie er ursprünglich gefasst war, unter britischem Protektorat, bisher kaum zur Ausführung, ja nicht einmal recht zum Vorschein kommen, wegen der Unmöglichkeit, eine Großmacht vor der andern im Schutze der Kolonie zu bevorzugen. Da indessen Moses Montefiores reiches und glänzendes Wirken für seine Glaubensgenossen in Palästina einen soliden Grund gelegt, da die Lage des Landes für Handel und Gewerbe eine glückliche, die derzeitige oder nächste politische Konjunktur endlich eine solche ist, dass ihr jede Lösung des orientalischen Knotens willkommen sein muss: so dürfte es nicht außer den Grenzen der Möglichkeit liegen, an der großen Schwelle dreier Weltteile einen jüdischen Staat zu errichten, dessen Hauptelemente besonders aus Europa gezogen, vortrefflich geeignet scheinen, den Orient mit den Okzident neu zu verbinden.

Die politischen Schwierigkeiten, welche sich diesem Plane entgegenstellen könnten, scheinen in der Tat heute von keinem zu großen Belang. Die Pforte, die ohnehin bisher aus Syrien nichts zu machen wusste, wird zufrieden sein, wenn unter ihrer Oberhoheit neues kräftiges Leben erblüht, wo bisher nur ein armseliges, höchstens durch die Raufereien der Drusen und MarWoniten dann und wann unterbrochenes Stillleben zu bemerken war. Die sechs europäischen Großmächte und die nordamerikanische Union dürften, sobald sie darum begrüßt werden, kaum erhebliche Einwendungen gegen den jungen Vasallenstaat erheben, ihn vielmehr nur begünstigen und auf Neutralität begründen helfen.

Russland spekuliert ohnehin nicht auf Syrien und der Streit über die Schlüssel zum heiligen Grabe kann allen Ernstes nicht besser geschlichtet werden, als durch deren Übergabe an die nächste jüdische Regierung. Der Jude von heute steht wahrlich nicht niedriger als das Israelitenvolk vor drei Jahrtausenden, als dessen weiser König den Tempel zu Jerusalem mit dem unerreichten Gebete einweihte, dass auch der Nichtjude von der ewigen Vorsehung in diesem Gotteshaus erhört werden möge. Vertraut nur dem Juden die Schlüssel – und die Stätte christlicher Verehrung wird fortan besser geschützt sein, als durch französisch-russische Eifersucht.

Dass die Elemente des neuen Staats in Europa und Amerika nach jeder Seite hin vorhanden sind, bedarf keiner Begründung, die jüdische Gesamtheit strotzt von materiellen und geistigen Säften und Kräften. Ein jüdischer Freistaat, fern vom veralteten Königs- und Priestertum, kräftig emporblühend in den allseits bisher gepflegten Früchten der Intelligenz, des Handels und der Gewerbe, ist an dieser Stelle keine Chimäre von ehedem, wohl aber eine tüchtige Schutzwehr der in der Emanzipation verkörperten Gewissensfreiheit.

Auf eignem Grund und Boden hätte nunmehr das Judentum den Christen und den Muselmann mit sich gleichzustellen, aber auch nach dem Grundsatz der Reziprozität das Gleiche von allen andern sollte – Norwegen und Rumänien würden dessen bald eingedenk sein.

Ja es scheint nichts geeigneter, als die heutige politische Lage des ottomanischen Reiches, nichts würdiger für den jetzigen Regenerationsdrang, als diese Verjüngung der alten ehrwürdigen Wiege des Deismus durch die europäisch zivilisierten Nachkommen ihrer alten Bewohner.

Nur muss dieser Plan nunmehr anders als früher nicht bloß auf-, sondern auch angefasst werden. Er muss aus der Hand eines Einzelnen an die Gesamtheit übergehen. Ein provisorisches Komitee müsste Abgeordnete aus allen jüdischen Religionsgemeinden Europas und Nordamerikas nach Berlin, der Hauptstadt des in der orientalischen Politik neutralsten Staates, nach dem Mittelpunkte Deutschlands, berufen, welche demnächst den Plan entwerfen, in allen Details zu beraten und einerseits der Pforte, andererseits den sieben Großmächten beider Weltteile vorzulegen hat, Auch hier muss die Bangigkeit vor nationalen Vorurteilen im Voraus begraben sein.