Bei Görres und Schelling. Von Sebastian Daxenberger.

Daxenberger schreibt im ,,Münchner Hundert und Eins“:

Das kleine Haus des Görres ist in einem sorgsam gepflegten und, wie es scheint, von den Bewohnern geliebten Gärtchen an der Schönfeldstraße fast gegenüber dem Kriegsministerium gelegen. Hier schrieb der Mann des „rheinischen Merkur“ und „Deutschland und die Revolution“ seinen donnerrollenden Athanasius. So ziemlich allgemein wird der fünfundsechzigjährige Verfasser der „Mystik“ als das Haupt der ultramontanen wissenschaftlichen Partei betrachtet und, wie von seinen Gegnern maßlos angefeindet, so wird er von diesen seinen Verehrern enthusiastisch angestaunt. So lange Görres in München ist (seit 1827) empfängt er jeden Sonntag Abend regelmäßig einen kleinen Kreis vertrauter Freunde, größtenteils Kollegen an der Universität, als Philipps, Döllinger, von Ringseis, Moy, Arndts, Cl. Brentano, Höfler nebst einigen Geistlichen. Auch sein Sohn Guido, seine Gattin, Tochter und mehrere liebenswürdige Frauen sind zugegen. Sehr häufig findet man hier Fremde von Auszeichnung, Künstler und Gelehrte von verschiedenen Färbungen der politischen und kirchlichen Meinung und der religiösen Empfindung. Der Abend wird beim Tee in ernsten und heiteren Gesprächen zugebracht; Görres entwickelt im Umgange ein ungewöhnliches Wissen und eine geprüfte, vielbewegte Lebenserfahrung. Seine Sprache zeigt an ihm, ohne daß er Verse gemacht hätte, einen der poetischen Geister der Neuzeit und ist in der Tat zu bilderhaft, um allen völlig zum Bewußtsein zu dringen. Nach dem Tee begibt sich die Gesellschaft - auch die anwesenden Fremden werden mit großer Liberalität dazu eingeladen - in das Speisezimmer, um an dem Abendessen Teil zu nehmen. Es herrscht kein fühlbarer Zwang, und treuherzig spricht sich der Charakter des alten Professors aus, der im Kreise seiner Familie und seiner viel jüngeren Kollegen wie ein Patriarch erscheint. Dies ist ein Bild von Görres, wie er zu Hause, nicht wie er auf dem Katheder oder im öffentlichen Leben und Wirken erscheint. Wen Interesse zu dem Manne hinzieht, der kann ihn öfter mit ernstem Aussehen in seinem Hausgärtchen auf- und abwandeln sehen.


Auch Schelling empfängt am liebsten des Sonntags; dort findet sich mehr, wenn auch nicht ausschließlich, protestantische Gesellschaft und vornehme Welt ein. Kaum geht ein Fremder von Namen und Ruf durch, ohne den großen berühmten Mann gesehen zu haben, der anspruchslos, aber voll edler Haltung im äußeren Benehmen, stets ruhig, tief, klar und verständig in allen feinen Bemerkungen ist. Thiersch hat unter allen hiesigen Gelehrten von höherer Bedeutsamkeit am meisten das, was man maison ouvert nennt; er selbst erhält mit beredtem Geiste das Gespräch immer lebendig und nimmt großen Anteil an den Fragen des Tages und der Politik. Herr von Martins, der Chemiker Vogel und die Gebrüder Boisserée empfangen gleichfalls interessante Besuche und heißen Fremde mit Gastlichkeit willkommen. Hier ist insbesondere die Kunst, dort die Naturwissenschaft und Reisebeschreibung geistreich und anmutig vertreten, und wer diese gelehrten Abendzirkel besucht, darf sicher annehmen, mit den ersten Zelebritäten der Wissenschaft in Europa nach und nach bekannt zu werden.

Carl Friedrich Philipp von Martins (1794-1868), Botaniker und Naturforscher, seit 1820 Konservator des Botanischen Gartens, seit 1826 Universitätsprofessor in München.

Sulpiz Boisserée (1783 1854) und Melchior Boisserée (786-1851) beide um die Kunstwissenschaft sehr verdient, verkauften im Jahre 1827 ihre etwa 200 Werke zählende Sammlung altdeutscher und alt-niederländischer Gemälde an König Ludwig, der sie der Pinakothek einverleibte. Beide Brüder lebten, ersterer als Oberbaurat und Generalkonservator der Kunstdenkmäler Bayerns, von 1827 - 1845 in München.



Dieses Kapitel ist Teil des Buches Ein Jahrhundert München 1800-1900