In Haus und Familie

Bauart und Einrichtung der Häuser in Nordfriesland sind denen in Schleswig und Holstein zwar sehr ähnlich, aber nicht völlig gleich. Das hohe, steile Strohdach haben sie mit den Wohnungen der Holsten und Sachsen gemein, eigentümlich dagegen ist ihnen der parabelförmige Giebel über der an der Breitseite des Hauses befindlichen Eingangstür. Dieser Giebel ist mit leuchtend grüner Farbe sauber angestrichen, ebenso Tür- und Fensterrahmen, was den unbeworfenen, aus rotem Backstein bestehenden Wänden ein sehr freundliches Ansehen gibt. Jeder einzelne Zwischenraum zwischen den Backsteinen wird, wie auch im Holsteinschen und Schleswigschen, mit weißem Kalk ausgestrichen.

Reinlichkeit findet sich bei seefahrenden Nationen mit wenigen Ausnahmen auch in der geringsten Hütte. Niedrige, enge Wohnungen sind ihnen aber fast eben so zum Bedürfnis geworden, wie weite, bequeme Kleidung. Darum ist es durchaus nichts Seltenes, selbst in den Häusern wohlhabender, ja reicher Schifferfamilien Zimmer von verhältnismäßig geringer Höhe, schmale Treppen und kojenartige Schlafgemächer zu finden. — Allen diesen charakteristischen Merkmalen eines Schiffervolkes begegnen wir auch auf Sylt; allein wir finden in diesen äußerlich so schmuck aussehenden Häusern auch noch manches andere, das wir schwerlich darin suchten. Es begegnet uns neben größter Reinlichkeit, neben einer fast ins Kleinliche gehenden Ordnungsliebe einfach edle Sitte, Gastfreiheit, Bildung und an Begeisterung streifende politische Gesinnung, patriotische Aufopferungslust.


Schon der erste Blick in das sauber gehaltene Zimmer, dessen glänzend gescheuerte Diele gewöhnlich mit feinem Sande bestreut ist, verrät, dass die Bewohner dieses freundlichen Raumes etwas mehr von der Welt gesehen haben müssen, als den zerbröckelnden Erdrest, der ihre Hütte trägt. Die säubern Bilder an der Wand, fremde Städte und Gegenden darstellend, dazwischen die hübschen Zeichnungen verschiedener Schiffe, an deren Gaffel gewöhnlich die Flaggen Hamburgs, Bremens, Hollands oder Dänemarks wehen, sagen deutlich genug, dass der Herr des Hauses ein vielgereister Mann ist. Nicht selten findet man auch unter dem Spiegel des Wohnzimmers einen kostbaren Dolch, einen überaus kunstreich gearbeiteten und mit brennenden Farben gemalten indischen oder chinesischen Fächer, u. dgl. am Fenster irgend ein kostbares Instrument zur Messung der Entfernungen, immer aber ein weittragendes Fernrohr. Kurz die ganze Ausschmückung des Zimmers deutet auf die Vergangenheit eines eben so bewegten als interessanten Lebens hin.

Ein nicht eben großer, stets viereckiger Ofen von Gusseisen steht an der einen Wand und hinter demselben ist die Wand immer mit kleinen viereckigen Kacheln, die gewöhnlich weiß, oft aber auch mit kleinen bunten Landschaften, segelnden Schiffen etc. verziert sind, ausgelegt. In älteren Wohnungen ist wohl auch das ganze Zimmer mit solchen Kacheltapeten verziert. Die friesischen Wohnungen erhalten dadurch etwas ungemein Gemütliches, und ich kann es sehr wohl begreifen, dass man in den langen Winterabenden beim knisternden Feuer, bei dampfendem Tee oder Punsch bis tief nach Mitternacht in diesen gemütlichen Wohnungen beisammen sitzen bleiben und den Erzählungen gereister Seemänner unermüdlich zuhören mag.
Es gibt sicherlich keine zweite Insel, auf welcher so viele ehemalige Schiffskapitäne leben wie auf Sylt. Das Eiland hat etwa 2.600 Einwohner; auf diese kamen um das Jahr 1800 ungefähr 110 Schiffskapitäne und Steuerleute ohne die Matrosen, welche auf deutschen, holländischen, dänischen und besonders englischen Schiffen dienten. In unserem Jahrhundert hat sich dieses Verhältnis geändert, da sich seit den letzten fünfzig Jahren viele Sylter mehr auf Ackerbau und Viehzucht gelegt haben. Auch darf man nicht vergessen, dass die Einwohnerschaft der Insel sich fortwährend verringert, weil jedes Jahr eine Menge kräftiger junger Männer auf dem stürmischen Meer ihren Tod finden,

Der Sylter ist, wie jeder Insulaner, so daran gewöhnt, dass er wenig davon berührt wird. Auch Frauen und Mädchen fügen sich mit Gelassenheit in das Unabwendbare, eine Schickung des Himmels darin erkennend, ohne dass ich sie dieser Ergebung halber weniger zartfühlend als die Bewohnerinnen des Festlandes nennen möchte.

Das Leben eines Seemanns hat trotz aller Gefahren doch unaussprechlich viel Anziehendes; dies erklärt den Drang junger Männer, sich gleich ihren Vätern, mögen dieselben nun auf dem Meere ihr Leben verloren haben oder nach glücklich überstandenen Gefahren den Rest ihrer Tage in glücklicher Ruhe daheim genießen, frühzeitig sich ebenfalls den tückischen Launen des wilden Elementes anzuvertrauen. Wie der Sohn des Bergmanns nicht früh genug mit dem bereits brustkranken Vater in die schwadenerfüllten Eingeweide der Erde hinabsteigen kann, so drängt es den Knaben des Seefahrers, die zerbrechlichen Flanken eines Schiffes zu besteigen. In dieser frühen Gewöhnung an die See liegt gerade das Geheimnis der Seetüchtigkeit, der gründlichen theoretischen und praktischen Seemannsbildung, die man allgemein an den friesischen Schiffern rühmt.

Den Einwohnern Sylts hat diese leidenschaftliche Vorliebe für das Seewesen eine glückliche, in vieler Hinsicht beneidenswerte Weltstellung gegeben. Man kennt unter diesen Insulanern die Armut im strengen Sinne des Worts nur dem Namen nach. Wohlhabenheit, wenigstens bequemes, ja reichliches Auekommen ist weitaus bei den meisten Syltern zu finden. Viele Seefahrerfamilien sind sehr vermögend, während es eigentlich reiche wohl gar nicht unter ihnen gibt. Es ward mir versichert, dass man bei den Wohlhabenden die Summe ihres Vermögens durchschnittlich auf 25 bis 30.000 Mark Courant anschlagen könne.

Die meisten erwerben sich diesen schönen Besitz auf dem Meere, gewöhnlich vom achtzehnten bis zum vierzigsten Lebensjahre. Glückliche Seefahrer werden selten länger ihr Leben auf dem Meere zubringen. Wer bis dahin allen Wechselfällen auf dem bewegten Elemente entgangen ist, sehnt sich dann nach Ruhe, nach einem gemächlichen Leben im Kreise der Seinen. Er kehrt zurück auf sein geliebtes Eiland, übernimmt gewöhnlich ein Gemeindeamt als Ratmann, Strand- oder Dünenvoigt, richtet sich Haus und Hof so freundlich wie möglich ein und erreicht häufig ein sehr hohes Alter.

Noch heutigen Tages ist es herkömmlich auf Sylt, dass junge Männer, die sich der Schifffahrt widmen, spätestens im zweiundzwanzigsten Jahre ihres Alters wenigstens Steuerleute, wo möglich Kapitäne sein müssen. Wer es in diesem Alter nicht mindestens zum Steuermann gebracht hat, dürfte sich auf seiner heimatlichen Insel, unter seinen im Punkt der Ehre sehr empfindlichen Landsleuten keines sehr guten Rufes erfreuen. Diese Sitte ist so traditionell geworden, dass ein Sylter Seefahrer nicht früher ruht, bis er den höchsten Grad, also den eines Schiffskapitäns erreicht hat, und sollte er auch dreimal das schwierige Examen machen, dessen glückliches Bestehen ihm die Erlaubnis und Fähigkeit zuspricht, ein Schiff über die Weltmeere zu führen.

Alte Seemänner, auch wenn sie mit keinem Fuße mehr die Planke eines Schiffes betreten, leben doch in der Erinnerung meist auf dem Meere; deshalb umgeben sie sich gern mit Dingen, welche diese Erinnerung stets wach erhalten, den Blick immer wieder auf die Vergangenheit und ihre Ereignisse richten. Der Kapitän liebt sein Schiff auch dann noch, wenn längst der Kiel desselben an verborgener Klippe zerschellt ist. Darum findet man im Hause jedes Schiffskapitäns die Abbildungen derjenigen Schooner, Briggs, Barkschiffe oder Fregatten, die in frühern Jahren unter seinem Kommando gestanden, und diese gewöhnlich recht gut gemalten Bilder sind in den reinlichen Wohnungen friesischer Seemänner ein eben so angenehmer als interessanter Schmuck, weil sie immer von neuem Gelegenheit zu den belohnendsten Gesprächen geben.

Am Schlusse dieses Abschnittes kann ich nicht unerwähnt lassen, dass die gewöhnliche Umgangssprache der Sylter unter einander das Friesische ist. Die Sprache gehört wesentlich mit zum Hause, zur Familie. Wie man spricht, so lebt man, weshalb ich es durchaus nicht für gleichgültig halte, ob die Friesen für gewöhnlich Hochdeutsch oder Friesisch unter sich und mit ihren Kindern reden.

Es gibt der friesischen Dialekte eine Menge, die mancherlei Abweichungen bei vieler Übereinstimmung haben. Auf jeder Insel der Westsee, vielleicht selbst auf jeder Hallige sprechen die Bewohner einen andern Dialekt. Verschieden im Allgemeinen von dem Inselfriesisch ist wieder das Idiom der festländischen Nordfriesen; doch können alle einander verstehen. Man will behaupten, auf Sylt werde das beste Friesisch gesprochen. Ich kann das nicht beurteilen, da ich wenig Friesisch verstehe, wohl aber konnte ich im Sylter Friesisch urdeutsche Sprachwendungen entdecken, die in fast ganz gleichen Wortlauten auf den Gebirgskämmen Mitteldeutschlands sich wieder finden und in ihrem Klange unverkennbar auf die Entstehung des heutigen Englischen hindeuten. Daher mag es wohl auch kommen, dass selbst der ungebildete Sylter, der von Sprachen gar nichts versteht, in der Regel binnen vier Wochen fertig Englisch lernt. Schön klingend fand ich das Sylter Friesisch nicht, es liegt aber Charakter in diesen kräftigen, häufig aus dem Gaumen herausgesprochenen Lauten. Dass es nie Schriftsprache geworden, ist zu bedauern. Einzelne Lieder haben sich wohl im Munde des Volks erhalten. Der unermüdlich fleißige Cantor Hansen in Keitum hat deren manche gesammelt. Von diesen mag eine charakteristische altfriesische Dichtung, der ich eine möglich getreue Übersetzung beifüge, hier stehen, damit der freundliche Leser sich einen ungefähren Begriff von der Sprache dieser nordischen Brüder machen kann.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Ein Besuch auf dem Düneneilande Sylt. 1830