Abschnitt 2

Ich werde aber, wenn ich wiederum die Insel Rügen besuche, nicht wieder mit dem Nachtzuge fahren, und würde diesen Rat auch dem Reisenden geben. Man kommt um drei Uhr morgens in Stettin an, und ist gezwungen, die Zeit bis zur Abfahrt des Dampfschiffes in den nichts weniger als wohnlich eingerichteten Zimmern des Stettiner Eisenbahnhofes zuzubringen. Von Schlaf ist dort keine Rede, ein hartes Sofa mit gerade aufstehenden Lehnen bietet ein ebenso hartes Lager wie weiland Jacobs steinernes Kopfkissen ohne die Erscheinungen der himmlischen Engel; in dem wenn auch noch so bequemen Coupé der Berlin- Stettiner Eisenbahnwaggons gestattet das Hin- und Herrütteln auf den ausgefahrenen Schienen auch keine Ruhe, und so spaziert man nach einer schlecht durchwachten Nacht, gähnend und wüst im Kopf, mit derangiertem Haar und Kleidern, einen Kofferträger neben sich, morgens um 4½ Uhr von dem ungastlichen Bahnhofe am Ufer der Oder entlang nach dem Landungsplatz des Dampfschiffes, um den ganzen Tag auf der See zuzubringen. Man präpariert seinen Magen dadurch förmlich zur Seekrankheit, während man die Präservative dagegen, einen guten Schlaf in der vorhergehenden Nacht und ein reichliches Frühstück, suchen sollte. Ich würde deshalb dem Reisenden raten, seine Reise folgendermaßen einzurichten: entweder mit dem Abendzuge der Stettin-Berliner Eisenbahn von Berlin nach Stettin zu fahren und in Stettin im „Hotel zu den drei Kronen“, wo man recht gut und nicht teuer wohnt, die Nacht zuzubringen und am andern Morgen nach sehr reichlichem und gutem Frühstück die Reise auf dem Dampfschiffe anzutreten; doch muss man sich dann vorher Einsicht von den Dampfschifffahrtsplänen verschaffen, ob auch an dem Morgen, wo man von Stettin abzureisen gedenkt, ein Dampfschiff abgeht; denn die Dampfschiffe fahren dreimal die Woche morgens zwischen 5 und 6 Uhr und dreimal mittags, gewöhnlich um 12½ Uhr und man könnte sonst in die unangenehme Notwendigkeit versetzt werden, einen ganzen Tag in Stettin bleiben zu müssen. Reist man aber um 5 Uhr von Stettin ab, so ist man nachmittags zwischen 3 - 5 Uhr, je nachdem der Wind und das Meer es gestatten, in Swinemünde. Oder, will man sehr bequem die Reise machen, so fahre man mit dem Dampfschiffe, welches mittags zwei- oder dreimal die Woche abfährt - wegen der näheren Bestimmungen über Abfahrt usw. Muss ich schon auf die alle Monat sich ändernden Fahrpläne verweisen - an dem ersten Reisetage nur bis Swinemünde, bleibe in Swinemünde zur Nacht und fahre am andern Morgen von Swinemünde nach Putbus. Man mache also aus dem ersten Reisetage zwei. Die Fahrt von Stettin nach Swinemünde dauert fünf Stunden, die Fahrt von Swinemünde nach Putbus ungefähr ebenso lange. Wer irgend zur Seekrankheit geneigt ist, dem würde ich diese Einrichtung des ersten Reisetages unbedingt raten.



Die Fahrt auf dem Dampfschiff, solange dasselbe innerhalb des Stromgebiets der Oder bleibt, ist nicht sehr abwechselnd.


Die beiden Ufer der Oder sind durchgängig niedrig, nur hier und da erheben sie sich in etwas über das Niveau des Flusses, Ortschaften, einzelne Häuser und Höfe wechseln mit niedrigem Gebüsch und größeren Baumpartien. Dann wird der Strom immer mächtiger und breiter, die Wellen fangen an sich zu erheben und zu senken und das schwere Schiff zu schaukeln, der Spiegel des Wassers verliert seinen ruhigen Charakter, die Wasserfläche dehnt sich immer weiter aus; endlich verschwinden die letzten Küstenstreifen aus dem Gesicht, und wir fahren auf offener See. Ich weiß nicht, was interessanter ist, das Meer auf einmal und plötzlich in seiner ganzen Größe und Majestät zu sehen, oder es nach und nach zu sehen, wie es sich dehnt und ausbreitet und immer mächtiger und größer anschwillt bis zu jener imposanten Größe, der ich nichts auf der Erde vergleichen kann. In der ersten Art zeigte sich mir das Meer, als ich es zuerst sah, auf einer Fahrt von Boulogne nach London. Der Dampfer ging um Mitternacht ab, das tiefste Dunkel bedeckte den Hafen und seine Umgebung, ein Regen trieb mich in die Kajüte, und als ich am Morgen bei Sonnenaufgang auf das Verdeck stieg, sah ich rings um mich her jene Fläche ausbreiten, welche Homer mit Recht das eherne Meer nennt, in seiner überwältigenden Größe und Majestät, welche die Feder sich vergebens bemühen würde, zu beschreiben und der Pinsel auf der Leinwand wiederzugeben. Ich hatte kurz vorher die gewaltigen Bergmassen des Montblanc gesehen; seine riesigen Gletscher, seine ungeheuren Berghäupter und endlosen Eisfelder machten einen Totaleindruck, der viel gewaltiger ist als der, den die Jungfrau von der Höhe der Wengernalp oder von der Höhe des Lauterbrunnentals am Sturz des Schmadribaches oder die einundzwanzig größten Gebirgshäupter des Berner Oberlandes von dem Gipfel des Faulhorns hervorzubringen imstande sind; dann sah ich das endlose Häusermeer von Paris von der Höhe der Notre-Dame, dann den Ocean; der Anblick des Meeres übertraf an Majestät und imposanter Größe alle diese Felsen und Häusermassen so, dass ich nicht imstande war, zwischen diesen an sich so verschiedenen Totaleindrücken irgendeine Parallele zu ziehen. Die Ostsee machte auf mich nicht jenen gewaltigen Eindruck, wie der atlantische Ozean oder das mittelländische Meer, der Grund kann offenbar nur darin liegen, dass ich mich ihr langsam nahte und sie stückweise sich zu jenem großen Ganzen zusammenfügen sah.



Die Elisabeth befand sich kaum in offener See, die Wellen gingen nicht hoch, es blies ein zwar scharfer, aber nicht heftiger Wind aus Nordost nach Nordwest, da nahte bereits das Ungeheuer, welches mit gierigen Krallen den Magen und die Gedärme erfasst, gegen welchen es keinen Kampf und keinen Schutz gibt, sondern vor dem man ohne Schlacht und ohne Gefecht die Waffen strecken muss, die Seekrankheit, vomitus navigantium. Die Ursache der Krankheit liegt offenbar darin, dass die peristaltische Bewegung der Gedärme und des Magens durch die Bewegung des Schiffes eine andere, ihre regelmäßige Bewegung also gestört wird, und in der sich daran knüpfenden Wirkung auf die Magennerven. Da die Ursache der Krankheit nicht gehoben werden kann, so gibt es auch kein Heilmittel; die Heilung fällt mit dem Wegfallen der Ursache zusammen und tritt mit dem Moment ein, wo der Fuß das Land betritt. Es versteht sich, dass die Konstitution des einen sich mehr in der Krankheit hinneigt, als die Konstitution des andern, dass man dem Ausbruch der Krankheit vorbeugen und, wenn sie einmal da ist, ihren Charakter mildern kann; aber alle Heilmittel müssen fruchtlos bleiben, wenn die Ursache nicht gehoben wird. In der Kajüte tritt die Krankheit deshalb heftiger auf, als auf dem Verdeck; stellt man sich in die Nähe des Mastes, so ist dies ein günstigerer Platz, als am Steuerbord oder am Backbord; legt man sich auf dem Verdeck nieder, so ist diese Situation günstiger, als wenn man hin- und hergeht, aber alles dies läuft immer nur darauf hinaus, die Änderung, welche die gewöhnliche peristaltische Bewegung der Gedärme durch die Schiffsbewegung erleidet, zu vermindern. Sterben kann man an der Seekrankheit freilich nicht, aber sie kann jemanden, der sich besonders dazu hinneigt, 6 - 9 Tage martern - die chronische Seekrankheit kann noch viel länger anhalten - und jedenfalls sind ihre Symptome: akutes Erbrechen, Leib- und Magenschmerzen und die damit verbundene Mutlosigkeit, Schwindel, Betäubung und Hinfälligkeit Dinge, welche die ganze Majestät des Meeres und die malerischsten Uferpartien total verleiden können. Die Seekrankheit hat einen der Cholera entgegengesetzten Charakter: gegen die letztere ist alle ärztliche Kunst und Wissenschaft vergebens, weil man ihre Ursache und ihre Natur nicht kennt, und gegen erstere ist nicht zu kämpfen, weil man ihre Ursache nicht heben kann. Nur ein Mittel hat mir auf allen meinen Seereisen über diesen ganzen Krankheitsjammer hinweggeholfen, ich habe gut gefrühstückt und gut dejeuniert und diniert und dazu recht guten, schweren Rotwein oder Portwein getrunken, und darin für meinen Magen und meine Nerven ein Präservativ gefunden, welches sie für die gierigen Krallen dieses Ungeheuers unnahbar machte, und ich rate dies allen meinen Lesern. Ist die Krankheit aber da, so lege man sich wohleingehüllt und warm gekleidet auf das Verdeck in die Nähe des großen Mastes, wo das Schiff am wenigsten schaukelt, man schließe die Augen, um die Schiffsbewegung nicht zu sehen, und trinke diesen Giftbecher mit der stoischen Ruhe eines Sokrates, das Ende der Leiden ist ja mit Gewissheit vorauszubestimmen. Die Mittel zu meinem geratenen Dejeuner und Diner möge sich der Reisende auf dem königlichen Postdampfschiffe Elisabeth indes am besten von Stettin mitnehmen. Wie ich schon erwähnte, die Zivilisation und Kultur der Ostseedampfschiffe ist noch nicht sehr weit vorgerückt, man träume ja nicht von jenen reichlichen und wohlschmeckenden Mahlzeiten, welche auf englischen und französischen Dampfschiffen geboten werden; über ein ziemlich mageres Beefsteak, eine schwache Tasse Kaffee und ein Glas Portwein oder Rum gehen Koch und Kellermeister der königlichen Postdampfschiffe Stralsund und Elisabeth nicht hinaus.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Ein Ausflug nach Rügen