Zweite Fortsetzung

Ein deutscher Reisegenosse bringt das deutsche Kosewort: „Du alter Schwede“ (bekanntlich aus suitier entstanden) in Erinnerung. Die Schweden bemerken hierauf: ein solches „altes gemütliches Haus“ heiße bei ihnen en god Holländer; wolle man einen aber direkt liebkosen, so laute die Anrede: Du gamle hederspascha! oder noch besser: Du gamle hedersknyffel! — Was wir Backfisch nennen, heißt in Schweden en rapphöna, ein Rebhuhn.

Die „Frokost“ haben wir auf spiegelglatter See schon im Sunde genossen. Zur „Middagsmad“ (zwei Uhr) sendet das Skager Rack ein paar ungefährliche Schwellungen. Im Osten erscheint in hellster Beleuchtung das Schloss über dem Städtchen Varberg; später tritt die schwedische Küste näher heran, man erkennt den zerschlagenen und zerfetzten Granit des fast unbewohnten Ufers, der an einen isländischen Lavastrom, eine „Hraun“, erinnert. Bald treten auch die ersten Schären auf, eine der merkwürdigsten Bildungen des nördlichen Europa. Die Spitzen, Kuppen und Rücken eines versunkenen Berglandes, das ist der erste Eindruck. Die Tausende von Inseln verschiedenster Größe sind aber nicht abgeschliffen, nicht vom Eise geglättet wie an der Süd- und Westküste Norwegens; sie liegen alle zerhackt und zerklüftet da, als hätte ein Riese sie mit seinem Beil bearbeitet. Mit Ausnahme der ziemlich fern bleibenden Särö, auf welcher sich ein vielbesuchtes Seebad befindet, sind alle diese Schären baum- fast vegetationslos. Wo eine Vertiefung zwischen dem eisengrauen Gestein, hat sich das Wasser angesammelt und bildet kleine Teiche und Tümpel. An anderen Stellen ist der Fels verwittert oder der Teich ist vertorft, und es hat sich eine Moosvegetation gebildet, zuweilen durch Kultur in eine Wiese verwandelt. So weiden denn Schafe und Kühe auf diesen Holmen. Auf anderen haben sich ein paar Menschen angesiedelt, wie auf einem festen Floß, denn ihre Nahrung holen sie aus dem unerschöpflichen Meere.


Ist man einmal in diese Schärenflur (Skärgård) getreten, so verengen sie den Horizont und hemmen den Blick auf das Meer. Diese Fahrt „innanskärs“ erfordert die ganze Aufmerksamkeit des Lotsen der jede offene und jede „blinde“ Schär und das Fahrwasser zwischen ihnen kennt. Oft steuert das Schiff geradeaus auf einen Felsen; man sieht keine weitere Wasserstraße, keinen Ausweg aus diesem labyrinthischen Gewirr. Da wendet das Schiff plötzlich nach einer Seite, und wir befinden uns in einem ziemlich weiten Wasser.

Die Gotenburger Schärenflur ist weder breit noch lang. Kommt man von Westen, von dem jütländischen Hafen Fredrikshavn, so durchfährt man sie in kurzer Zeit. Hier befindet sich am Eingang eine große Lotsenstation mit Leuchtfeuer; außerdem weiter der Doppelturm Lödingen. Das von Süden kommende Schiff schleicht sich der Länge nach durch die Schärenflur und wendet da, wo es an die westliche Fahrstraße kommt, nach Osten zur Mündung des Götaelf. Hier liegt rechts, noch am salzigen Wasser, der Seebadeort Långedrag, zu welchem mehrmals täglich ein kleines Dampfboot von Gotenburg führt; links passiert man die kleine Festung Elfsborg, die einerseits ziemlich unschädlich, andrerseits überflüssig ist, da der Schärengürtel die stärkste Festung ist, welche man sich denken kann. Denn ohne Lotsen und Schifffahrtszeichen rennt jedes Schiff hier früher oder später auf den Grund. Ist aber trotzdem ein feindlicher Monitor glücklich bis hierher gelangt, so genügen ein paar Schüsse, um diese Spielzeugfestung ungefährlich zu machen.

Das Dampfschiff fährt nun den grünlich braunen Götaelf hinauf und etwa eine Meile weit bis nach Gotenburg. Die Ufer auf beiden Seiten ragen klippig auf, fast ganz besetzt von Häusern, Ansiedelungen und großen Fabriketablissements. Um Raum zu schaffen, sind oft die Felswände abgesprengt, Schluchten ausgefüllt, die Ufer geebnet. Bis weit in das Wasser erstrecken sich die Ladebrücken, die Seebuden und Holzplätze des Gotenburger „Plankadels“. Zuweilen geben sich die Felsen auseinander, man blickt in ein Tal, welches ein tiefblauer Granitcircus schließt; hier hat die Ackerkultur eine Stätte gefunden. Anderswo hängen die rot angestrichenen Häuser hoch oben an den Felsen; die Fabrikanten, die Schiffskapitäne haben Flaggenmasten errichtet, von welchen lange Fahnen wehen. Bald kommen rechts die großen Bergvorstädte Gotenburgs; Nya Varfvet, Majorna und Masthugget mit ihren über einander aufsteigenden Häusern, Kirchen und Linden; unten am Fluss die großen Schiffsrhedereien mit den seltsamen Schiffsskeletten; zuletzt Gotenburg selber mit der Felshöhe Kronan im Süden, seinen prachtvollen Gebäuden und dem mit Schiffen angefüllten Hafen.

Das Boot pflegt diese Fahrt den Götaelf hinauf kurz vor Sonnenuntergang zu machen. Beleuchtet Ton den Strahlen der sinkenden Sonne gibt es dann ein unvergleichliches Bild; nicht so ruhig wie Stockholm vom Mälar ausgesehen, nicht so imposant wie das gewaltige Bergen, aber bunt und farbenprächtig, wie kein anderes Stadtbild im Norden.

Das Eigentümlichste in Gotenburg sind die Felshöhen mitten in der Stadt; es ist als duldeten die Steinriesen eine Weile das winzige Menschenwerk, welches sich an diese Felsen angesiedelt hat, um es später einmal gelegentlich abzuschütteln. Die Menschen sprengen dafür an diesen Kuppen nun schon seit ein paar Jahrhunderten, rücken aber nicht merklich vorwärts. Eine so gebildete steile Wand ragt dicht am Hafen auf; eine Stelle leuchtet ganz weiß herüber, offenbar Quarz. Die Leute sitzen oben am Rande, die Kinder spielen — daran gewöhnt — dicht am Abgrunde. Man hört aber, wie das in Schweden selbstverständlich ist, keinen Laut. Hunderte von Menschen stehen ruhig am Landeplatze, darunter die Polizeibeamten mit den feinsten weißen Handschuhen; niemand ruft; wer mit seinem Nachbar spricht, flüsterst unhörbar. Ein solches vollkommenes Schweigen einer großen Menschenmenge hat immer etwas Befremdendes, fast Unheimliches. Aber in Schweden, wo die äußere Erscheinung, die Form und Sitte aufs genaueste beobachtet wird, gilt ein lautes Gebaren als unfein. Auf der Straße, den öffentlichen Promenaden, in den Vergnügungslokalen, den Restaurants — Überall wird nur im Flüstertone gesprochen. Selbst dem abfahrenden Freunde darf kein lautes Lebewohl zugerufen werden; eine Verbeugung, eine leichte Handbewegung genügt. Dafür entfalten sich aber, sobald die Maschine sich in Bewegung setzt, ihre Taschentücher (näsdukar), und es erhebt sich ein Wehen herüber und hinüber, dass man wohl an Möwenflattern oder ein Schneegestöber erinnert wird.

Wenn im Juli die „Christiania“ wieder die Schärenflur erreicht, ist es Nacht; im Süden flammt das Blinkfeuer von Lödingen auf, im Norden ein anderes. Man fährt im Dunkeln an einzelnen Ansiedelungen vorbei, und hier wagen es die Kinder noch in gewohnter Art, jedes Schiff mit lautem Geschrei zu empfangen. Die Laternen werden am Vordermast aufgezogen, an den beiden Seiten des Schiffes ausgehängt; der Lotse steht hoch auf seiner Brücke und starrt mit seinen gläsernen Augen in die Ferne. Von seiner Aufmerksamkeit hängt das Wohl des Schiffes ab und sein Renommee.

Als wir aus der Schärenflur kamen, ging gerade der Mond blutrot im Osten auf. Er und das Drehfeuer im Norden leuchteten uns noch weit in die offene — die „offenbare“ See — wie es in der Gudrun heißt.

Nach ruhigem Schlafe morgens früh auf Deck kommend, befanden wir uns bereits in dem Fjorde von Charistiania: Links ragte der große Leuchtturm auf Lille Ferder auf, eine große Zahl von Segelschiffen kreuzte gegen den starken Nordwind. Die Fels-Ufer sind hier wie abgeschliffen, baumlos. Allmählich taucht die Birke auf, der die Kiefer folgt; schon haben sich die Leute an dem kahlen Strande angesiedelt; dann blicken einzelne Gaarde (Höfe) von der Höhe, zuletzt breitet sich Aasgaardstrand am Ufer-Berge stadtartig aus. Unten zeigt ein kahler Streifen an, dass die Ebbe und Flut der Nordsee noch hier ihre Wirkung äußert; in dem inneren Fjorde, nach der großen Stretta bei Drøback, lässt sich eine regelmäßige Flut nicht mehr erkennen. So sagte mir wenigstens Professor Axel Blytt, Botaniker an der Universität, welcher mit uns von Gotenburg kam, nachdem er eine wissenschaftliche Reise durch Dänemark und Deutschland gemacht hatte.

Wir betreten den norwegischen Boden zum ersten Mal bei der Station Horten, wo das Dampfboot landet Hier verließ uns ein bayerischer Korbmacher, welcher im Lauf der Jahre immer weiter nach Norden vorgedrungen war und jetzt eine bleibende Stätte in Skien gefunden hatte. Dafür stieg auf unser Schiff ein sozialdemokratischer Apostel aus Zwickau, welcher den Norwegern das neue Evangelium zu bringen gedachte.

Zahlreiche Quallen, oft einen Fuß im Durchmesser haltend, umschwärmen unser Boot. Man nennt sie Maneter, wahrscheinlich von der runden, mondartigen Gestalt. Im Hochsommer halten sie sich mehr in dem freien Meer auf, im August aber ziehen sie sich in die ruhigeren Fjorde zurück, oft in so ungeheuren Massen, dass sie das Meer gleichsam ausfüllen. Daher vergleicht schon Pytheas sein „träges“ mare Chronium mit einer von Quallen erfüllten See. Ihre Berührung verursacht einen brennenden Schmerz. Aber auch diesen Umstand hat man sich zu Nutze gemacht, indem an Rheumatismus Leidende in solchen Manetschwärmen baden. Diese „Manetkur“ gehört zu den Eigentümlichkeiten des besuchten Bades Sandetjord.