Erste Fortsetzung

Der Sonntag-Nachmittag vereinigt in den Monaten Juni und Juli auf dem Dyrehavesbakke ebenso das Stadt- wie das Landpublikum. Es ist ein Fasching, der im Norden naturgemäß auf den Sommer verlegt ist. Auch hier beherrscht ein erstaunliches Anstandsgefühl die auf- und abwogende Menge, welche oft zwanzig bis dreißig Tausend beträgt. Keine Rohheit, kein betrunkener Mensch. Nur Kirsten Pils Quelle wird umdrängt von Hunderten, welche nach einem Trunk frischen Wassers verlangen. Wer hier die Einsamkeit sucht, findet sie unter den gewaltigen Buchenkronen des Tiergartens, welchen die Kopenhagener immer nur ,,den Wald“, Skoven, nennen. In Wahrheit ist es kein Wald, sondern ein ungeheurer Park, eigentlich das Boskett in dem noch größeren Park der ganzen Insel Seeland. So sauber liegen auf dieser nicht bloß die Tausende von Villen der Städter, sondern auch die Höfe der Landbewohner da, so freundlich geordnet und so reinlich, so geputzt, dass man sie alle für bloße Sommerstätten halten möchte, in welchen sich gebildete Sommerfrischler in Landtracht aufhalten. Die ungemeine Wohlhabenheit der Bevölkerung ist der Grund für diese Erscheinung, welche ebenso wenig in Schweden als in Norwegen zu Tage tritt. Die Menschen sind hier über den bloßen Kampf um das Dasein hinaus, wie in den reicheren Gegenden der Schweiz und des Königreichs Sachsen. Mit diesen Ländern haben die Dänen aber auch die merkwürdig hässliche Aussprache gemein, welche den verwandten Schweden Entsetzen einflößt, den Norwegern aber geradezu lächerlich klingt, etwa wie einem Norddeutschen das Sächsische. Wollen die Norweger auf der Bühne eine recht komische Figur darstellen, so lassen sie dieselbe dänisch reden.

Von den Sammlungen habe ich diesmal nur wenig besucht, weder das altnordische noch das ethnographische Museum. Zu den altbekannten Gemälden in der Christiansburg, dem Erasmus Montanus und der Barselstue (Wochenstube) von Marstrand, der Verlobung von Simonsen, den prachtvollen Interieurs von Hansen und anderen, war das Bild von Bloch gekommen, welches Christian II. in seinem Gefängnis zu Sonderburg darstellt. Der gramgebeugte König wandert um den runden Tisch, in welchen er mit seinem Daumen rings eine Furche gegraben hat, während sein treuer Diener, ein alter Soldat, ihn vergeblich auf das Mittagessen, das bereits auf dem Tische steht, aufmerksam macht.


Ein überaus zahlreiches Publikum, zum größten Teile dem einfachen Volk angehörig, Soldaten, See- und Landleute, drängte sich durch diese gewaltigen Säle, deren Zahl wohl zwanzig beträgt. In diesem Königsschlosse, dessen Brand der Norweger Steffens in seinem „Walseth und Leith“ so drastisch geschildert hat, herrscht eine solche Raumverschwendung, dass man selbst ganze Behörden, wie das Höchste Gericht (Høieste Ret), darin untergebracht hat. Auch in Thorwaldsens Museum wurde das Publikum immer nur truppweise eingelassen. Ein solcher Andrang macht den Genuss von Kunstwerken eigentlich unmöglich; ich hielt mich daher mehr an die zum Teil hochinteressanten Gemälde, welche Thorwaldsen selber aus Italien mitgebracht hat, manche Geschenke seiner Freunde, und an die ausgestellten Handzeichnungen des Meisters und unseres Carstens, ohne welchen Thorwaldsen kaum denkbar wäre. Der Hass der Dänen gegen alles Deutsche fälscht auch hier die Geschichte. Während der dänische Biograph Thorsaldsens, Thiele, in der ersten Auflage seines in den dreißiger Jahren dieses Jahrhunderts erschienenen Werkes noch unbedingt den entscheidenden Einfluss unseres Carstens auf Thorwaldsen anerkennt, wissen die später, nach dem „offenen Königsbrief“ im Jahre 1844, erschienenen Auflagen von einem solchen Verhältnis nichts mehr, und stellen Thorwaldsen als einen Künstler dar, der gleichsam fertig dem Haupte des Zeus entsprungen.*)

*) In neuester Zeit ist wieder eine Wendung eingetreten, indem die Dänen nunmehr Carstens als dänischen „Südjüten“ vindizieren und ihm sogar eine Statue setzen wollen.

Ich darf hier vielleicht die Bemerkung wagen, dass Thorwaldsen an Bedeutung verliert, je öfter man ihn sieht. Es geht uns mit ihm wie mit manchen Künstlern: er bezaubert auf den ersten Blick zu sehr; während alles wahrhaft Große uns am Anfange halb verwirrt, wenn nicht gar abstößt. Seine Weichheit der Formen, das Gemüt, das aus seinen Werken spricht, die Vertiefung und Verinnerlichung seiner Figuren vermögen uns auf die Dauer nicht hinwegzutäuschen über die mangelnde Hoheit, Fertigkeit der Zeichnung, stilistische Strenge und künstlerische Tiefe. Wo er über das bloße Genre hinwegstrebt, wie bei den Aposteln in der Frauenkirche, wird er formell, monoton, höchstens pathetisch. In seinem Genre — man konnte es das Amorettentum nennen — ist er unzweifelhaft groß; aber dieses Genre ist nicht bedeutend genug, namentlich nicht für den Marmor. Man kann durch das Thorwaldsen-Museum nicht ohne künstlerische Beklemmung wandern. Thorwaldsens Bedeutung besteht vorzugsweise in der Kindlichkeit seines Gemüts und der Freiheit von Sentimentalität. Er ist eine durch und durch gesunde Natur. Ich habe mich immer nicht recht davon überzeugen können, dass die Figur der Gesundheit (Sundhed) vor dem Schloss nur einer undeutlichen Schrift ihre Entstehung verdanke, indem der damals in Rom befindliche Meister in der Bestellung das Wort Sundhed statt Sandhed (Wahrheit) gelesen. Das treuherzig blaue Auge des Meisters, wie Horace Vernet und Magnus ihn gemalt, ist nicht frei von Schelmerei, und so wird ihm wohl die lebensfrische Sundhed höher gestanden haben als die abstrakte Sandhed.

Zweimal in der Woche fährt der große Dampfer „Christiania“ in etwa fünfundzwanzig Stunden von Kopenhagen über Gotenburg nach der norwegischen Hauptstadt. Das Boot gehört der dänischen vereinigten Dampfschiffsgesellschaft, welche — wie ich hörte — gegen sechzig Schiffe besitzt und mit ihnen den Verkehr zwischen den meisten Ost- und Nordseehäfen, sowie mit Norwegen, England etc. unterhält. Man empfindet allmählich, was in Norwegen später noch weit mehr der Fall ist, das Vorwalten der See- und Handelsinteressen.

Wenn die Ostsee in der Tat das nordische Mittelmeer ist, so kann man bei dem dänischen Inselstaat an den griechischen Archipel und bei den schwedischen und norwegischen Küsten an Kleinasien denken; doch allerdings cum grano. So lange man noch auf dem Sunde fährt, bleibt das Bild das bekannte Norddeutsche. Links die Buchenwälder Seelands, unterbrochen von hellscheinenden Schlössern. Villen und Dörfern, das leicht aufsteigende Kornland Skåne's. Selbst die schwedische Insel Hveen mit ihren abgebrochenen Ufern lässt uns nicht den längst erwarteten skandinavischen Granit erblicken. Dieser tritt erst auf, nachdem wir den eigentlichen Sund zwischen Helsingør mit dem reizenden Marienlyst zur Linken, sowie das schwedische Städtchen Helsingborg mit seinem Turmreste Kärnan zur Rechten passiert haben und in das Kattegat, die „Schiffsstraße“, eingetreten sind.

„Wie ein ungeheurer Riesenfinger“ (so schrieb ich schon 1867) streckt sich der Bergzug Kullen im Nordosten weit in das Meer. Wohl erhebt sich dieses erste Gebirge Schwedens nur etwa zweihundert Meter über die See, aber seine eisengrauen Granitkuppen, baumlos und unbewohnt, täuschen über die wahre Größe. Auf der nur halb so hohen Spitze, dem gefährlichen Wellenbrecher, in dessen „blauem“ (d. h. dunklem) Wasser unzählige Schiffe liegen, steht ein Leuchtturm, Kullafyr, und der Kullagård, ein einsamer Hof, dessen mit einem Steinwalle umgebene grüne Acker- und Weidefläche das düstere Bild unterbricht. Hinter dem Kullen sieht man weit in die Skeldervik mit dem Städtchen Engelholm und erblickt im Osten den Hallandsås, einen der merkwürdigen ,,Rücken“ (åsar), welche dem südlichen Schweden so eigentümlich sind und wahrscheinlich aus der diluvialen Gletscherzeit herrühren.

Das gefürchtete Kattegat liegt heute wie ein Spiegel da. Bald begegnet man einem Schiff, bald überholt man ein anderes. Möwen schaukeln über dem Wasser und weiden nach Fischen. Wer seinen Kajütenplatz schon in Kopenhagen beim Restaurateur belegt hat, richtet sich ein; die anderen bleiben auf Deck, lesen Zeitungen.

Die Töne eines Pianinos verklingen resonanzlos in dem Weltraum. Professoren aus Helsingfors und Upsala machen erwünschte Mitteilungen über heimische Verhältnisse; ein Deutscher bemüht sich vergebens mit der korrekten Aussprache schwedischer Schwebelaute. Bei dem o muss man die beiden Vokale o und u, bei dem u das u und i so ineinanderfließen lassen, dass man nur einen einzigen Mischlaut vernimmt. Unmöglich für ein deutsches Ohr! Besser gelingt schon die Betonung. Bei den zusammengesetzten Wörtern behält jedes einzelne seinen besonderen Accent, also: Stóckhôlm, Fálûn, Sigtûna. Aber Göteborg lautet fast Götebórg und Kristianstad gar Kristiánstad. „Det er det fina i kråksången“ (das Feine im Krähengesange, ,,das ist der Witz dabei“) fügte der Upsalienser hinzu. Noch schwerer als die schwedische Aussprache fällt dem Deutschen die des Dänischen. Hier lautet die Regel: sprich so breiig und so undeutlich als möglich, die Vokale so, als ob du verschiedene Stimmen nachahmtest und den Hörer verspotten wolltest, dazu die Konsonanten lispelnd. Wie klar, einfach und sicher klingt dagegen das Norwegische, welches doch geschrieben mit dem Dänischen so gut wie identisch ist.