Das Judentum und die Juden

Ich sagte es schon: ich frage nicht nach den Formationen des äußeren Lebens, sondern nach der inneren Wirklichkeit. Das Judentum hat für die Juden so viel Sinn, als es innere Wirklichkeit hat.

Gibt es eine in sich wirkliche jüdische Religiosität? Nicht Dogma und Norm, Kult und Regel: gibt es ein heute von Menschen gelebtes eigentümliches Verhältnis zum Absoluten, das seinem Wesen nach als jüdisch zu bezeichnen ist und das sich in einer Gemeinschaft der Juden konstituiert?


Das wissen wir, dass es eine jüdische Religiosität gegeben hat. Die Zeit, die Jakob mit dem Gotte um den Segen ringen, und die Zeit, die Mose in einem Kusse des Gottes sterben ließ, die Zeit des „Urchristentums“, die sich vermaß, den Menschen, der sich vollendet, zu Gottes Sohn zu erheben, und die späte Zeit des Chassidismus, die sich unterfing, Gottes Schicksal auf Erden, im Zusammensein und Zusammenwirken von Menschen zu schmieden, — diese Zeiten hatten eine jüdische Religiosität. Aber unsere Zeit ? Wo gibt es eine Gottesinbrunst von Juden, die sie hinausjagte aus dem Zweckgetriebe der Gesellschaft in ein wahrhaftes Leben, in ein Leben, das Gott bezeugt, ihn aus einer Wahrheit zu einer Wirklichkeit macht, weil es „in seinem Namen“ gelebt wird? Freilich, es gibt auch heute ein Bekennen, nein, allerlei Bekennen: ein Bekennen aus Treue; ein Bekennen aus Stolz; ein Bekennen aus Trägheit, wie der durch den Raum fallende Stein seine Richtung bekennt. Aber wo gibt es ein Erfüllen? Wo gibt es eine Gemeinschaft, in der nicht jüdisches Beharrungsvermögen (was sie „Tradition“ nennen) und nicht jüdisches Anpassungsvermögen (jenes „geläuterte“, das ist entseelte „Judentum“ einer mit Monotheismus verbrämten Humanität) sich betätigte, sondern unmittelbare jüdische Religiosität, elementares Gottgefühl heilige, brennende Elohimgewalt? Wo wird Jahwes Sinn, das Unbedingte, getan?

Auf die innere Wirklichkeit hin betrachtet, ist jüdische Religiosität eine Erinnerung, vielleicht auch eine Hoffnung, aber keine Gegenwart.

Und die andere Antwort sagt, die Juden seien eine Nation. Ja gewiss, sie sind eine; wie es der Form nach eine jüdische Religion gibt, so gibt es der Wirkung nach eine jüdische Nationalität: sie erweist sich im Leben der Juden zwischen den Völkern. Aber wir fragen ja nicht nach der Wirkung, sondern nach der Wirklichkeit des Judentums für das Selbst der Juden. Wie äußert sich hier die nationale Existenz? Wie der Jude, erleidend und reagierend, zur außer jüdischen Welt steht, was ihm als Juden von dieser zugefügt und wie es von ihm verarbeitet wird, mag seine Art seit siebzig Geschlechtern mitgestalten, ein begründendes Element seines inneren Judentums kann es nicht abgeben; denn sonst wäre er nur Trotzjude, wäre Jude nicht aus eignem Wesen und Bestand, sondern auf Kündigung der Völker; und auf einen Wink der Völker würde sein Judentum nicht mehr lebendige Substanz sein, nur noch Gedächtnisleid und Gedächtnisgebilde wie die Spuren der Jahre und der Lose in unserm Gesicht. Es muss etwas anderes sein: autonome Wirklichkeit. Was ist es aber, das einem Menschen sein Volk zur autonomen Wirklichkeit in seiner Seele und in seinem Leben macht? Was macht es, dass er das Volk nicht bloß um sich: dass er es in sich fühlt?

Der einzelne erwachsene Mensch wiederholt auf höherer Ebene einen Prozess, den schon das Kind durchmacht. Das Kind erlebt zunächst die Umwelt und entdeckt erst allmählich sein Ich, lernt allmählich erst seinen Körper als Sonderexistenz aus der Masse der Dinge scheiden. Dieses Stadium der Wahrnehmungsorientation wiederholt gleichsam seinen Rhythmus in dem späteren Prozess der Geistesorientation. Der Einzelne erlebt in diesem zuerst die Wandelwelt der Eindrücke und Einflüsse, die Umwelt, und zuletzt entdeckt er sich, die in den Wandlungen dauernde Substanz. Ursprünglich findet sich der Einzelne eingestellt in einen Kosmos, der sich aus seinen Eindrücken aufbaut und in dem das Ich nur die Gefühlsbetonung hergibt. Aus diesem Kosmos werden ihm zwei große Bezirke durch ihre Umgrenztheit und Deutlichkeit vor allen gegenwärtig: die Heimat, Erde und Himmel in ihrer vertrauten Besonderheit, und der Menschenkreis, der sich ihm in der Grundform des Verkehrs, der Sprache, und in der Grundform des Handelns, der Sitte, mitteilt, ihn einbezieht und teilnehmen lässt. Auf diesen drei konstanten Elementen seines Erlebens, Heimat, Sprache und Sitte, baut sich das Zugehörigkeitsgefühl des Einzelnen zu einer Gemeinschaft auf, die weiter ist als die urgegebene Gemeinschaft der Familie und die wahlgeborene Gemeinschaft der Freunde. Er fühlt sich denen zugehörig, die mit ihm die gleichen konstanten Elemente des Erlebens haben, und ihre Gesamtheit empfindet er auf dieser Stufe als sein Volk. Viele bleiben auf dieser Stufe stehen. Uns kommt es darauf an, den zu betrachten, der weiter geht. Was ihn weiter führt, ist das eingeborene, bei vielen Menschen sich abstumpfende, bei anderen aber wachsende und reifende Verlangen nach Dauer, nach bleibender Substanz, nach unsterblichem Wesen. Er entdeckt, dass es nicht allein konstante Formen des Erlebens gibt, sondern auch eine konstante Existenz, alles Erlebens stetigen Träger. Wie das Kind das Ich seiner Körperhaftigkeit, so entdeckt er das Ich seines Geistes zuletzt: als dauernde Substanz.

Das Kind erfuhr bei der Entdeckung des Ich seine Begrenztheit im Raume; er erfährt seine Unbegrenztheit in der Zeit. Das Verlangen nach Dauer leitet seinen Blick in der Entdeckung seines Ich über die eigene Lebensspanne hinaus. Dies ist die Zeit jener seltsam weitschwingigen, pathetischen und schweigsamen Gefühle, die nie hernach in gleicher Gewalt wiederkehren, auch wo sie sich zur Idee klären und runden: Unsterblichkeit der Seele, Unsterblichkeit der Kraft, Unsterblichkeit des Werkes und der Tat. Dieser junge Mensch, den der Schauer der Ewigkeit angerührt hat, erfährt in sich, dass es ein Dauern gibt. Und er erfährt es noch nackter und noch heimlicher zugleich, mit all der Einfalt und all dem Wunder, die um das Selbstverständliche sind, wenn es angesehen wird, in der Stunde, da er die Folge der Geschlechter entdeckt, die Reihe der Väter und der Mütter schaut, die zu ihm geführt hat, und inne wird, was alles an Zusammenkommen der Menschen, an Zusammenfließen des Blutes ihn hervorgebracht, welcher Sphärenreigen von Zeugungen und Geburten ihn emporgerufen hat. Er fühlt in dieser Unsterblichkeit der Generationen die Gemeinschaft des Blutes, und er fühlt sie als das Vorleben seines Ich, als die Dauer seines Ich in der unendlichen Vergangenheit. Und dazu gesellt sich, von diesem Gefühl gefördert, die Entdeckung des Blutes als der wurzelhaften, nährenden Macht im Einzelnen, die Entdeckung, dass die tiefsten Schichten unseres Wesens vom Blute bestimmt, dass unser Gedanke und unser Wille zu innerst von ihm gefärbt sind. Jetzt findet und empfindet er: die Umwelt ist die Welt der Eindrücke und Einflüsse, das Blut ist die Welt der beeindruckbaren, beeinflussbaren Substanz, die sie alle in ihren Gehalt aufnimmt, in ihre Form verarbeitet. Und nun fühlt er sich zugehörig nicht mehr der Gemeinschaft derer, die mit ihm gleiche konstante Elemente des Erlebens haben, sondern der tieferen Gemeinschaft derer, die mit ihm gleiche Substanz haben. Einst kam er zu dem Gefühle der Zugehörigkeit aus der äußeren Erfahrung, nun aus der inneren. Auf der ersten Stufe repräsentierte das Volk ihm die Welt, nun die Seele. Jetzt ist ihm das Volk eine Gemeinschaft von Menschen, die waren, sind und sein werden, eine Gemeinschaft von Toten, Lebenden und Ungeborenen, die zusammen eine Einheit darstellen; und diese ist eben die Einheit, die er als den Grund seines Ich empfindet, seines Ich, das in diese große Kette als ein notwendiges Glied an einem von Ewigkeit bestimmten Orte eingefügt ist. Was alle Menschen in dieser großen Kette geschaffen haben und schaffen werden, das empfindet er als das Werk seiner innersten Eigentümlichkeit; was sie erlebt haben und erleben werden, das empfindet er als sein innerstes Schicksal. Die Vergangenheit seines Volkes ist sein persönliches Gedächtnis, die Zukunft seines Volkes ist seine persönliche Aufgabe. Der Weg des Volkes lehrt ihn sich selbst verstehen und sich selbst wollen.

Dieses Sicheinstellen in die große Kette ist die natürliche Situation des Einzelnen in seinem Verhältnis zum Volke, von der Subjektivität aus betrachtet. Der natürlichen subjektiven Situation entspricht aber nicht immer eine natürliche objektive. Diese ist dann gegeben, wenn das Volk, dem sich der Einzelne auf der ersten Stufe, und das Volk, dem er sich auf der zweiten Stufe zugehörig fühlt, dasselbe sind; wenn die Gemeinschaft derer, die mit ihm die gleichen konstanten Elemente haben, und die Gemeinschaft derer, die mit ihm die gleiche Substanz haben, dieselbe sind; wenn die Heimat, in der er aufwuchs, zugleich die Heimat seines Blutes ist, wenn die Sprache und die Sitte, in denen er aufwuchs, zugleich die Sprache und die Sitte seines Blutes sind; wenn das Volk, das ihm die Art seines Erlebens gab, eben das ist, das ihm den Inhalt des Erlebens gibt. Diese natürliche, objektive Situation ist in dem Verhältnis des Juden, insbesondere des Westjuden, zu seinem Volke nicht gegeben. Alle Elemente, die ihm die Nation konstituieren, sie ihm zu einer Wirklichkeit machen könnten, fehlen, alle: das Land, die Sprache, die Lebensformen. Das Land, in dem er wohnt, dessen Natur ihn umfängt und seine Sinne erzieht, die Sprache, die er spricht und die seine Gedanken färbt, die Sitte, an der er teilhat und von der sein Tun die Bildung empfängt, sie alle sind nicht der Gemeinschaft seines Blutes, sind einer andern Gemeinschaft zugehörig. Die Welt der konstanten Elemente und die Welt der Substanz sind für ihn zerfallen. Seine Substanz entfaltet sich nicht vor ihm in seiner Umwelt, sie ist in tiefe Einsamkeit gebannt, und die einzige Gestalt, in der sie sich ihm darstellt, ist die Abstammung.

Und wenn sie dennoch dem Juden eine Wirklichkeit werden kann, so liegt das eben daran, dass die Abstammung nicht bloß Zusammenhang mit dem Vergangenen bedeutet: dass sie etwas in uns gelegt hat, was uns zu keiner Stunde unseres Lebens verlässt, was jeden Ton und jede Farbe in unserem Leben, in dem was wir tun und in dem was uns geschieht, bestimmt: das Blut als die tiefste Machtschicht der Seele.

Die Gewalten, aus deren Wirkung sich das Menschenleben, Wesen und Geschick, aufbaut, sind Innerlichkeit und Umwelt: die Disposition, Eindrücke zu verarbeiten, und das eindringende Material. Die tiefste Schicht der Disposition aber, die dunkle schwere Schicht, die den Typus, das Knochengerüst der Personalität, hergibt, ist das, was ich das Blut nannte: das in uns, was die Kette der Väter und Mütter, ihre Art und ihr Schicksal, ihr Tun und ihr Leiden in uns gepflanzt haben, das große Erbe der Zeiten, das wir in die Welt mitbringen. Das tut uns Juden Not zu wissen: es ist nicht bloß die Art der Väter, es ist auch ihr Schicksal, alles, Pein, Elend, Schande, all dies hat unser Wesen, hat unsere Beschaffenheit mitgeformt. Das sollen wir ebenso fühlen und wissen, wie wir fühlen und wissen sollen, dass in uns lebt die Art der Propheten, der Sänger und der Könige Judas.

Jeder von uns, der auf sein Leben zurück, in sein Leben hineinzublicken vermag, wird die Spuren dieser Macht erkennen.

Wer sich das Pathos seiner inneren Kämpfe vergegenwärtigt, wird entdecken, dass etwas in ihm weiterlebt, das sein großes nationales Urbild in dem Kampfe der Propheten gegen die auseinanderstrebende Vielheit der Volkstriebe hat. In unserer Sehnsucht nach einem reinen und einheitlichen Leben werden wir den Ruf tönen hören, der einst die große essäische und urchristliche Bewegung erweckte. Aber wir werden auch das uns entartende Schicksal der Väter fühlen in der Ironie des modernen Juden, die ja nur daraus stammt, dass wir Jahrhunderte lang, wenn wir ins Gesicht geschlagen wurden, nicht zurückschlugen, sondern, der Zahl und der Kraft nach unterlegen, uns zur Seite wandten und uns mit gespannter Überlegenheit als „die geistigen Menschen“ fühlten. Und diese lebensferne, gleichgewichtfremde, gleichsam außerorganische Intellektualität selber ist daran groß geworden, dass wir Jahrhunderte und Jahrtausende lang kein gesundes, gebundenes, vom Rhythmus der Natur bestimmtes Leben kannten.

Und was frommt es uns, all dies zu wissen?

In jenen stillsten Stunden, in denen wir uns auf Unaussprechliches besinnen, fühlen wir eine tiefe Zwiespältigkeit unserer Existenz; eine Zwiespältigkeit, die uns so lange unüberwindlich scheint, als wir die Erkenntnis, dass unser Blut das Gestaltende in unserem Leben ist, noch nicht zu unserem lebendigen Eigentum gemacht haben. Um aus der Zwiespältigkeit zur Einheit zu kommen, dazu bedarf es der Besinnung auf das, was unser Blut in uns bedeutet, denn in dem Getriebe der Tage werden wir uns immer nur der Umwelt und der Wirkung der Umwelt bewusst. Vertiefen wir. den Blick der stillsten Stunden: schauen wir, erfassen wir uns selber. Erfassen wir uns: ziehen wir unser Leben in unsre Hand, wie man einen Eimer aus dem Brunnen zieht, sammeln wir es in unsere Hand, wie man zerstreute Körner zusammenrafft. Wir sollen uns entscheiden; wir sollen in uns eine Ausgleichung setzen zwischen den Mächten.

Wo die natürliche objektive Situation des Einzelnen in seinem Verhältnis zum Volke gegeben ist, verläuft sein Leben in Harmonie und gesichertem Wachstum; wo sie nicht gegeben ist, gerät der Einzelne, je bewusster er ist, je ehrlicher er ist, je mehr Entschiedenheit und Deutlichkeit er von sich fordert, desto tiefer in einen Konflikt, er wird desto unausweichlicher vor eine Wahl gestellt zwischen Umwelt und Innenwelt, zwischen der Welt der Eindrücke und der der Substanz, zwischen Atmosphäre und Blut, zwischen dem Gedächtnis seiner Lebensspanne und dem Gedächtnis von Jahrtausenden, zwischen den Zwecken, die ihm die Gesellschaft darbietet, und der Aufgabe, seine Eigenkraft zu erlösen. Eine Wahl: das kann nicht so gemeint sein, als ob es darauf ankäme, das eine oder das andere auszuschalten, aufzugeben, zu überwinden; es wäre sinnlos, sich etwa von der umgebenden Kultur freimachen zu wollen, die ja von unseres Blutes innersten Kräften verarbeitet und uns eingeeignet worden ist. Wir wollen und dürfen uns bewusst sein, dass wir in einem prägnanteren Sinne als irgendein anderes Volk der Kultur eine Mischung sind. Aber wir wollen nicht die Sklaven, sondern die Herren dieser Mischung sein. Die Wahl meint eine Entscheidung über die Suprematie, über das, was das Herrschende und was das Beherrschte in uns sein soll.

Dies ist es, was ich die persönliche Judenfrage nennen möchte, die Wurzel aller Judenfragen, die Frage, die wir in uns selbst finden, in uns selbst klären und in uns selbst entscheiden müssen.

Es ist einmal — von Moritz Heimann — gesagt worden: ,,Was ein auf die einsamste, unzugänglichste Insel verschlagener Jude noch als „Judenfrage“ anerkennt, das einzig ist sie“. Ja, das einzig ist sie.

Für den aber, der sich in der Wahl zwischen Umwelt und Substanz für diese entschieden hat, gilt es, nunmehr wahrhaft von innen heraus Jude zu sein und aus seinem Blute, mit dem ganzen Widerspruch, mit der ganzen Tragik und mit der ganzen Zukunftsfülle dieses Blutes als Jude zu leben.

Wenn wir uns so aus tiefster Selbsterkenntnis heraus bejaht haben, wenn wir zu uns selbst, zu unserer ganzen jüdischen Existenz Ja gesagt haben, dann fühlen wir nicht mehr als Einzelne, dann fühlt jeder Einzelne von uns als Volk, denn er fühlt das Volk in sich. Und so werden wir uns zur Vergangenheit des Judentums nicht stellen als zu der Vergangenheit einer Gemeinschaft, der wir angehören, sondern wir werden darin die Vorgeschichte unseres Lebens sehen, jeder von uns die Vorgeschichte seines eigenen Lebens, und wir werden anders, als wir es sonst vermochten, Werden und Bestimmung erkennen. Und ebenso werden wir der Gegenwart inne werden. Diese Menschen da draußen, diese elenden, gebückten, schleichenden Menschen, die von Dorf zu Dorf herumhausieren und nicht wissen, woher und wozu sie morgen leben werden, und diese schwerfälligen, fast betäubten Massen, die auf Schiffe verfrachtet werden und nicht wissen, wohin und wozu, sie alle werden wir nicht etwa bloß als unsere Brüder und Schwestern empfinden, sondern jeder von uns, der sich so in sich selber gesichert hat, wird fühlen: Diese Menschen sind Stücke von mir. Ich leide nicht mit ihnen, sondern ich leide das. Meine Seele ist nicht bei meinem Volke, sondern mein Volk ist meine Seele. Und in diesem gleichen Sinne wird dann jeder von uns die Zukunft des Judentums fühlen, er wird fühlen: Ich will weiterleben, ich will meine Zukunft, will ein neues, ganzes Leben, ein Leben für mich, für das Volk in mir, für mich im Volke. Denn das Judentum hat nicht bloß eine Vergangenheit, ja trotz allem, was es geschaffen hat, meine ich: das Judentum hat vor allem nicht eine Vergangenheit, sondern eine Zukunft. Ich glaube: das Judentum ist in Wahrheit noch nicht zu seinem Werke gekommen, und die großen Kräfte, die in diesem tragischsten und unbegreiflichsten aller Völker leben, haben noch nicht ihr eigenstes Wort in die Geschichte der Welt gesprochen.

Die Selbstbejahung des Juden hat ihre Tragik und ihre Größe. Denn wenn wir uns bejahen, dann fühlen wir, wie ich schon sagte, die ganze Entartung mit, aus der wir unsere kommenden Geschlechter befreien müssen. Aber wir fühlen auch, dass noch Dinge in uns sind, die nicht hinausgestellt worden sind, dass noch Gewalten in uns sind, die auf ihren Tag warten. Und diese Tragik und diese Größe des sich bejahenden Juden, diese nun ganz in sein Leben aufnehmen, das heißt als Jude leben. Nicht auf ein Bekenntnis kommt es an, nicht auf die Erklärung der Zugehörigkeit zu einer Idee oder einer Bewegung, sondern darauf, dass der, der seine Wahrheit in sich aufgenommen hat, sie lebe, dass er sich von den Schlacken der Fremdherrschaft reinige, sich aus der Zwiespältigkeit finde zur Einheit: dass er sich erlöse.

Denn wie die Juden der Urväterzeit, um sich aus der Entzweiung ihrer Seele, aus der ,,Sünde“ zu befreien, sich ganz an den nichtentzweiten, den einen einheitlichen Gott hingaben, so sollen wir, die wir in einer andern, besonderen Zweiheit stehen, uns daraus befreien, nicht durch Hingabe an einen Gott, den wir nicht mehr wirklich zu machen vermögen, sondern durch Hingabe an den Grund unseres Wesens, an die Einheit der Substanz in uns, die so einig und einzig ist, wie der einige und einzige Gott, den die Juden damals aus ihrer Sehnsucht nach Einheit hinaufgehoben haben an den Himmel ihres Daseins und ihrer Zukunft.

Als ich ein Kind war. las ich eine alte jüdische Sage, die ich nicht verstehen konnte. Sie erzählte nichts weiter als dies: „Vor den Toren Roms sitzt ein aussätziger Bettler und wartet. Es ist der Messias.“ Damals kam ich zu einem alten Manne und fragte ihn: „Worauf wartet er?“ Und der alte Mann antwortete mir etwas, was ich damals nicht verstand und erst viel später verstehen gelernt habe; er sagte: „Auf dich.“
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Drei Reden über das Judentum