Die wunderbare Leiter

Autor: Ueberlieferung
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In dem nunmehr aufgelassenen Kupferbergwerke in der Teichen bei Kalwang arbeitete einst ein Hutmann mit seinen Leuten. Da vernahmen sie ein Klopfen, welches tönte, als hämmere jemand in einem benachbarten Stollen auf die Wand. Das Klopfen war deutlich vernehmbar und dauerte eine gute Welle. Darüber wurde nun der Hutmann ängstlich und sagte: »Es droht uns Gefahr, das Bergmännchen warnt uns!« Aber die Knappen lachten über die Furcht des Hutmannes und arbeiteten ungestört fort. Am darauffolgenden Tage wiederholte sich das Klopfen, nur tönte es stärker als das erste Mal. Am nächsten Tage schien es, als werde das Geräusch in der nächsten Nähe verursacht. Auch bemerkten sie an der Stollenwand eine kleine schwache Leiter angelehnt, die sie früher nicht bemerkt hatten. Zugleich tönte das Klopfen stärker denn je und es deuchte allen, als wenn unterirdische Wasser hervorbrechen würden. Plötzlich rief der Hutmann entsetzt aus: »Jesus Maria! Heilige Barbara, steh' uns bei!« und stieg eilends die schwache Leiter hinan, während die übrigen Knappen schleunigst dem Grubenausgange zuellten. Aber schon war es zu spät! Mächtig drangen die unterirdischen Gewässer aus den Spalten hervor und erfaßten die Flüchtigen, noch bevor diese den Ausgang erreichten. Der Hutmann auf der Leiter glaubte, jeden Augenblick müsse diese den heftigen Stößen nachgeben und umfallen. Aber die Leiter blieb stehen, als wäre sie befestiget, und die mächtigen Wogen mochten noch so stark anprallen, sie wankte nicht. Als das Wasser immer höher stieg, kletterte auch der Hutmann hinan; es schien ihm, als ob die Leiter immer die Höhe hinanstrebe, und oben auf der letzten Sprosse erblickte er ein kleines Männchen mit langem weißen Barte. Es war der Berggeist, welcher die Knappen vor der ihnen drohenden Gefahr gewarnt hatte. Nach zwei Tagen hatten sich die unterirdischen Gewässer verlaufen und als der entsetzte Hutmann die Grube verließ, erblickte er die Leichen seiner verunglückten Gefährten, die ihre Zweifel und ihren Unglauben an die Existenz des Berggeistes mit dem Leben hatten bezahlen müssen.