Die wirtschaftlichen Ursachen der Auswanderung insbesondere . . .
Aus: Die deutsche überseeische Auswanderung seit 1871 . . .
Autor: Josephy, Fritz Dr. (?-?), Erscheinungsjahr: 1912
Themenbereiche
Enthaltene Themen: Auswanderung, Auswanderer, Deutschland, Amerika, USA, Vereinigte Staaten, Auswanderungsschiffe, Auswanderungshäfen, Auswanderungsländer, Auswanderungsgründe, Auswanderungsagenten
Überblick über die deutsche Wirtschaftsgeschichte seit der Gründung des Deutschen Reiches.
Wie bereits Gelegenheit war auszuführen, herrscht darüber eine Meinung, dass die Darstellung der Ursachen der Auswanderung den Schwerpunkt auf die Klarlegung der wirtschaftlichen Umstände und Beweggründe zu legen habe. Denn im Zeitalter des wirtschaftlichen Individualismus sind diese für den Wechsel des Wohnsitzes und des Betätigungsgebietes der Menschen maßgebend geworden. Arbeitskraft und Kapital strömen heute immer mehr dahin, wo der günstigste Standort für ihre Rentabilität gegeben ist. Die modernen Massenbewegungen des wirtschaftlich tätigen Volkes von Ort zu Ort und von Land zu Land, welche wir im 19. Jahrhundert bei den meisten modernen Kulturvölkern beobachten, sind die Folge der modernen wirtschaftlichen Entwicklung. Diese wurde durch die Einführung der Maschinen und die Anwendung der mechanischen Kraft zur Unterstützung und zum Ersatz der Menschenkraft, überhaupt der Errungenschaften der Naturwissenschaft in das Wirtschaftsleben herbeigeführt. Durch sie wurde eine Umgestaltung des wirtschaftlichen Organismus von solcher Tragweite hervorgerufen, dass der Träger des Wirtschaftslebens, das Volk, in starke Bewegung versetzt und quasi vollständig durcheinander geschüttelt wurde. Die wirtschaftlichen Fortschritte und Umwälzungen sind in Deutschland besonders folgenschwer seit der Gründung des Deutschen Reiches und der Zusammenfassung Deutschlands! in eine wirtschaftspolitische Einheit gewesen. Sie haben eine völlige Neugestaltung des Wirtschaftskörpers in die Wege geleitet.
Die erste Veränderung im wirtschaftlichen Organismus Deutschlands ist durch die Zurückdrängung der Landwirtschaft als Träger des Volkes hinter die Industrie eingetreten. Letztere übernimmt seit etwa Mitte der 70er Jahre in steigendem Umfange die Funktion, der Ernährer des Volkes zu sein, und den konstant fortschreitenden Bevölkerungs-Zuwachs Deutschlands in sich aufzunehmen. Nach 1871 geht die Entwicklung von Landwirtschaft und Industrie auf einige Jahre noch parallel: Die Rentabilität beider ist ungefähr gleich günstig. Dies ändert sich durch den jähen Preisrückgang der landwirtschaftlichen Produkte seit der Mitte der 70er Jahre, welcher in Deutschland durch die überseeische Getreidekonkurrenz eingetreten ist. Die Rentabilität der Industrie gewinnt dadurch einen Vorsprung, der immer stärker wird und vorherrschend bleibt. Es brach über die deutsche Landwirtschaft eine verhängnisvolle Krise herein, welche zum Teil die landwirtschaftliche Bevölkerung entwurzelte, und die Wanderungen derselben in die Industriestädte und nach dem Auslande hervorrief. Dieselben sind auch in der Verschiebung des numerischen Verhältnisses der Land- und Stadtbevölkerung erkennbar.
Die Landbevölkerung hat also nicht nur relativ, sondern auch absolut seit 1871 abgenommen. Der Grund liegt in der folgenden Agrarkrisis, die seit Mitte der 70er Jahre einsetzte. Diese nahm einen chronischen Charakter an und wurde in ihren Folgen nur etwas gemildert durch die seit 1879 geschaffenen Agrarzölle. Sie hat aber trotzdem eine völlige Umwälzung der bis dahin gestellten Grundlagen der Landwirtschaft mit sich gebracht. Bis Mitte der 70er Jahre des 19. Jahrhunderts war der Absatz für die landwirtschaftlichen Produkte und deren Preisverhältnisse sehr günstig. Durch die Entwicklung der Industrie war mit zunehmender industrieller Bevölkerung eine steigende Nachfrage nach agrarischen Produkten hervorgetreten so dass dieselben im Preise noch gestiegen waren. Letztere hatten auf die intensivere Bewirtschaftung des Grund und Bodens anregend eingewirkt und eine starke Bodenspekulation hervorgerufen. Nun kam der jähe Preissturz seit ca. 1875, der durch den raschen Ausbau der modernen Verkehrsmittel unmittelbar veranlasst wurde. Denn durch die Entwicklung des Verkehrs War die deutsche Landwirtschaft den Launen des Weltmarktes preisgegeben. Da der Weltmarktpreis für agrarische Produkte viel niedriger stand, sanken die deutschen Getreide-Produkte auf dieses Niveau. Die deutsche Landwirtschaft kam infolge der hohen Produktionskosten, welche durch die herrschenden hohen Bodenpreise noch erhöht wurden, an den Rand des Verderbens. Die Getreidekonkurrenz kam aus Amerika.
Als infolge der industriellen Krisis in den Vereinigten Staaten 1873 die brotlos gewordenen industriellen Arbeiter nach dem Ausbau des Eisenbahnnetzes nach dem Westen, um dem Schrecken der Arbeitslosigkeit zu entgehen, sich dorthin wandten und die weiten Prärieflächen dem Anbau unterwarfen, da strömten die durch günstige Ernten erzielten Getreidemengen auch auf den europäischen Markt und brachten die hier herrschenden Getreidepreise zum Sinken. Die neuen Ansiedler, unter denen sich viele Deutsche befanden, welche im Laufe des 19. Jahrhunderts nach der Union ausgewandert waren, wurden in ihrem kolonisatorischen Ziele durch die amerikanischen Eisenbahnverwaltungen unterstützt. Es war nämlich der amerikanische Westen mit dem Osten durch eine Eisenbahnlinie verbunden worden, und die Regierung hatte den Eisenbahngesellschaften weite Bahnstrecken rechts und links der Eisenbahn zugewiesen. Auf diesem jungfräulichen Boden siedelten sie die beschäftigungslosen Arbeiter aus den östlichen Industriezentren an. Sie verfolgten dabei das Ziel, durch den Transport von Getreide nach dem Osten die Eisenbahnlinien rentabel zu gestalten. Begünstigt durch eine zielbewusste Tarifpolitik, gelangte das massenhaft geerntete Getreide nach dem Osten, wurde Von hier aus den Elevatoren in den Hafenstädten auf die Schiffe verfrachtet und nach dem europäischen Getreidemarkt gebracht. Das Getreide strömte nach England und nahm den deutschen Landwirten hier ihren bisherigen Ausfuhrmarkt. In der Union herrschten, wie gesagt, in den 80er Jahren außerordentlich günstige klimatische Verhältnisse. Die ungewöhnliche Feuchtigkeit kam den damals noch unbewässerten Steppengebieten des amerikanischen Westens sehr zu statten. Und wenn auch nicht absolut erweisbar, so ist es doch nicht unwahrscheinlich, dass, wie Professor Brückner meint 2), hier ein Zusammenhang zwischen Klimaschwankungen und Völkerwanderung gegeben sei.
2) Klimaschwankungen usw., S. 289 ff.
Die Konjunkturverhältnisse für die deutsche Landwirtschaft wurden noch verschlimmert durch die Verbesserung der Verkehrsmittel und den Ausbau der Verkehrswege in Russland und Indien, wodurch auch die dort gebauten Getreidemengen dem europäischen Markte zugänglich gemacht wurden.
Die deutsche Industrie hatte durch den Milliardensegen infolge des deutschen Sieges über Frankreich 1870/71 eine außerordentliche Kräftigung erfahren. Sie konnte sich von dem ausländischen Leihkapital emanzipieren und nahm infolgedessen einen ungeahnten Aufschwung, der, wenn auch unter Schwankungen, bis zur Gegenwart angehalten hat. Derselbe wurde erreicht zuerst durch die Eroberung des inländischen Absatzmarktes, und seit den 90er Jahren immer mehr durch die Erweiterung des Exportes. Der deutsche Exportindustrialismus sowie der in den beiden letzten Jahrzehnten ebenfalls stark hervortretende Exportkapitalismus haben eine noch stärkere Bevölkerungszunahme in Deutschland begünstigt und ermöglicht. Das Industriesystem in Deutschland zeigte sich im steigenden Maße befähigt, die deutsche Bevölkerung zu ernähren und eine Besserung der sozialen Lage aller Volksschichten herbeizuführen.
Die durch die Industrialisierung Deutschlands hervorgerufenen Umgestaltungen drücken sich besonders auch in einer starken Verschiebung der Bevölkerung aus. 1882 war es noch die Landwirtschaft, welche den Grundstock der deutschen Bevölkerung versorgte, bereits 1895 hat die Industrie diese Aufgabe übernommen. Es lebten von der Landwirtschaft nach den Berufs- und Betriebszählungen in Deutschland im Jahre
1882 19,2 Millionen Menschen oder 42,51%
1895 18,5 Millionen Menschen oder 35,74%
1907 17,7 Millionen Menschen oder 28,65%
der Gesamtbevölkerung 3),
von der Industrie dagegen im Jahre
1882 16,1 Millionen Menschen oder 35,51%
1895 20,3 Millionen Menschen oder 39,12%
1907 26,4 Millionen Menschen oder 42,75%
der Gesamtbevölkerung 3).
Mit dem Emporblühen der Industrie hat auch der deutsche Handel eine starke Ausbreitung erfahren, der sie in ihrer Aufgabe unterstützte. Von ihm lebten (d. i. vom Handel und Verkehr) im Jahre
1885 4,5 Millionen Menschen oder 10,02%
1895 6,0 Millionen Menschen oder 11,52%
1907 8,3 Millionen Menschen oder 13,41% der Gesamtbevölkerung 3).
Den Rest derselben umfasst der Wehr-, Lehr-, Gelehrten-, Künstlerstand und die Beamtenschaft. Er betrug
1882 2,2 Millionen Menschen oder 4,92%
1895 2,8 Millionen Menschen oder 5,48%
1907 3,4 Millionen Menschen oder 5,53% der Gesamtbevölkerung 3).
Die aus den angeführten Zahlen ersichtliche Umschichtung der deutschen Bevölkerung hat sich natürlich nicht auf einmal und nicht ohne Stauungen vollzogen. Letztere drücken sich durch die großen Binnenwanderungen und besonders auch durch die Massenauswanderung in den ersten beiden Jahrzehnten nach 1870 aus. Die deutsche Landwirtschaft war außerstande, ihren gewaltigen Zuwachs an Bevölkerung zu behalten und zu ernähren. Letzterer musste sich deshalb anderen Erwerbszweigen zuwenden. Vor allem kam für ihn die industrielle Beschäftigung in Betracht. Der Übergang dazu war aber nicht jederzeit leicht, weil die Entwicklung der Industrie besonders nach 1871, aber auch noch in der Gegenwart großen Schwankungen unterlegen ist, wennschon es der Neuzeit immer mehr zu gelingen scheint, große Störungen durch wirtschaftliche Krisen zu verhindern, die früher oft wie mit elementarer Gewalt ausbrachen und in ihrem Gefolge Hungersnot über die Bevölkerung brachten.
Die deutsche Auswanderung vollzieht sich während der letzten vier Jahrzehnte auf zweierlei Art. Entweder direkt, indem vor allem die ländlichen Volkselemente, gedrängt durch die Unmöglichkeit, auf dem Lande ihren Unterhalt zu suchen, sich dem Auslande zuwenden, oder indirekt, indem sie größtenteils erst in der deutschen Industrie und im Handel nach Beschäftigung suchen und erst infolge der noch großen Unsicherheit der Erwerbsverhältnisse und der Unmöglichkeit in wirtschaftlich ungünstigen Zeiten Unterhalt finden, sich dem Auslande zuwenden.
3) Zahn, Deutschlands wirtschaftliche Entwicklung a. a. O. S. 428 f.
Diese Unterscheidung in direkte und indirekte ländliche Auswanderung hat auch für die jüngste Gegenwart noch ihre Berechtigung.
Die so unterschiedene ländliche Auswanderung war teils eine rein agrarische, d. h. die Landwirtschaft verlor vor allem! ihren kräftigen Arbeiterstand, einen großen Teil von Kleinbauern, die mitsamt der Familie auswanderten, dann Bauernsöhne und Töchter aus allen landwirtschaftlichen Bevölkerungsschichten. Teils ist sie eine solche von Handwerkern und sonstigen Kleingewerbetreibenden auf denn Lande, denen die Industrie ihr Betätigungsgebiet durch ihr Vordringen auch auf dem Lande entriss.
Durch die neuere Entwicklung wurde nicht nur die Landwirtschaft aus ihrer bisherigen Stellung verdrängt, sondern auch das Handwerk, und zwar überall da, wo es zufolge der noch aus dem Mittelalter herüberragenden Wirtschaftsorganisation eine herrschende Stellung innehatte. Die bisher vom Handwerk behaupteten Erwerbsgebiete zog die vordringende Industrie teils direkt in ihr Herrschaftsbereich, teils hat sie das Handwerk in Abhängigkeit zu sich gebracht. Daher die vielen Klagen der Handwerker über Mangel an Erwerb seit der industriellen Entwicklung in Deutschland. Breite Schichten der Handwerkerklassen fanden keinen anderen Ausweg, als ebenfalls auszuwandern, nämlich soweit sie aus ihrer bisherigen Stellung verdrängt wurden, ohne rechtzeitig den Übergang zu anderweitiger Beschäftigung finden zu können. Gerade den Handwerkern war der Übergang wegen ihres gelernten Berufes und der überkommenen Vorurteile des Handwerkerstandes („Handwerk hat goldenen Boden") schwierig. Noch mehr ein gewisser Handwerkerstolz (Selbständigkeit usw.).
Natürlich beteiligten sich auch alle übrigen Erwerbsschichten und Bevölkerungsklassen in mehr oder minder großer Zahl an der Auswanderung. Aber in ihrem eigentlichen Charakter erscheint die gesamte deutsche Auswanderung von 1871 bis zur Gegenwart als eine solche überwiegend landwirtschaftlicher Elemente und breiter Schichten des Handwerkerstandes.
Als sich dann der durch die Entwicklung Deutschlands vom überwiegenden Agrar- zum Industriestaat herbeigeführte Umschichtungsprozess der Bevölkerung vollzogen hatte und die dadurch hervorgerufenen Stauungen nach dem Abzug von Millionen Deutschen vorüber waren — dies war zweifellos seit Mitte der 90er Jahre bereits der Fall — , da ging naturgemäß die Auswanderung zurück.
Es wäre völlig unangebracht, die Auswanderung dieser Zeit auf eine Übervölkerung zurückzuführen. Es wurden durch die Umgestaltungsprozesse lediglich die durch die neue Entwicklung überflüssig gewordenen erwerbstätigen Volkselemente gewisser Berufsgebiete aus dem wirtschaftlichen Organismus ausgeschieden und gezwungen, sich der neuen Entwicklung anzupassen. Soweit sie dazu nicht die genügende Elastizität besaßen, um die Eingliederung in den neuentstandenen Wirtschaftskörper zu erreichen, standen sie vor der unmittelbaren und unerbittlichen Notwendigkeit der Auswanderung. Durch den Export könnte in den letzten zwei Jahrzehnten die Industrie vermehrte Arbeitsgelegenheit schaffen und relativ hohe Löhne zahlen. Damit wurde dann die Bevölkerung allmählich wieder ruhiger und sesshafter, und der Antrieb zur Auswanderung wurde geringer. In gleicher Zeit hatte das eigentliche deutsche Auswanderungsgebiet, die Union von Nordamerika, eine ähnliche Gestaltung seiner wirtschaftlichen Verhältnisse erfahren wie Deutschland.
Während bis 1892 regelmäßig über 100.000 Personen jährlich, in den Jahren 1881 und 1882 sogar über 200.000 Personen Deutschland verließen, ging die Auswanderung seit 1892 gewaltig zurück und schwankt seither jährlich zwischen 20.000 und 40.000 im Durchschnitt. Auch die Leistungen der sozialpolitischen Arbeiterfürsorge (Kranken-, Unfall- und Invalidenversicherung), der Wegfall des Sozialistengesetzes 1890, Versuche einer Kolonisation des deutschen Ostens, eine tiefere Kenntnis von der Lage des Arbeitsmarktes auch in den unteren Erwerbsschichten, halfen den Rückgang der Auswanderung herbeiführen. Besonders aber war es die Verschiebung der wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse der Union, welche der deutschen Auswanderung Schranken setzte. Sie dauert seit Mitte der 90 er Jahre nur mehr in dem Maße fort, als infolge der Verschiedenheit der Bevölkerungsdichtigkeit notwendigerweise auch eine Verschiedenheit der Intensität des Wirtschaftslebens besteht, deren Fortschritte und Umgestaltungen die Eingliederung neuer Bevölkerungsteile gestatten. Die Union erlaubt zweifellos noch für lange Zeit eine Steigerung der Intensität des Wirtschaftslebens, so dass die deutsche Auswanderung dorthin auch aus diesem Grunde nicht sobald gänzlich aufhören wird.
Wie bereits Gelegenheit war auszuführen, herrscht darüber eine Meinung, dass die Darstellung der Ursachen der Auswanderung den Schwerpunkt auf die Klarlegung der wirtschaftlichen Umstände und Beweggründe zu legen habe. Denn im Zeitalter des wirtschaftlichen Individualismus sind diese für den Wechsel des Wohnsitzes und des Betätigungsgebietes der Menschen maßgebend geworden. Arbeitskraft und Kapital strömen heute immer mehr dahin, wo der günstigste Standort für ihre Rentabilität gegeben ist. Die modernen Massenbewegungen des wirtschaftlich tätigen Volkes von Ort zu Ort und von Land zu Land, welche wir im 19. Jahrhundert bei den meisten modernen Kulturvölkern beobachten, sind die Folge der modernen wirtschaftlichen Entwicklung. Diese wurde durch die Einführung der Maschinen und die Anwendung der mechanischen Kraft zur Unterstützung und zum Ersatz der Menschenkraft, überhaupt der Errungenschaften der Naturwissenschaft in das Wirtschaftsleben herbeigeführt. Durch sie wurde eine Umgestaltung des wirtschaftlichen Organismus von solcher Tragweite hervorgerufen, dass der Träger des Wirtschaftslebens, das Volk, in starke Bewegung versetzt und quasi vollständig durcheinander geschüttelt wurde. Die wirtschaftlichen Fortschritte und Umwälzungen sind in Deutschland besonders folgenschwer seit der Gründung des Deutschen Reiches und der Zusammenfassung Deutschlands! in eine wirtschaftspolitische Einheit gewesen. Sie haben eine völlige Neugestaltung des Wirtschaftskörpers in die Wege geleitet.
Die erste Veränderung im wirtschaftlichen Organismus Deutschlands ist durch die Zurückdrängung der Landwirtschaft als Träger des Volkes hinter die Industrie eingetreten. Letztere übernimmt seit etwa Mitte der 70er Jahre in steigendem Umfange die Funktion, der Ernährer des Volkes zu sein, und den konstant fortschreitenden Bevölkerungs-Zuwachs Deutschlands in sich aufzunehmen. Nach 1871 geht die Entwicklung von Landwirtschaft und Industrie auf einige Jahre noch parallel: Die Rentabilität beider ist ungefähr gleich günstig. Dies ändert sich durch den jähen Preisrückgang der landwirtschaftlichen Produkte seit der Mitte der 70er Jahre, welcher in Deutschland durch die überseeische Getreidekonkurrenz eingetreten ist. Die Rentabilität der Industrie gewinnt dadurch einen Vorsprung, der immer stärker wird und vorherrschend bleibt. Es brach über die deutsche Landwirtschaft eine verhängnisvolle Krise herein, welche zum Teil die landwirtschaftliche Bevölkerung entwurzelte, und die Wanderungen derselben in die Industriestädte und nach dem Auslande hervorrief. Dieselben sind auch in der Verschiebung des numerischen Verhältnisses der Land- und Stadtbevölkerung erkennbar.
Die Landbevölkerung hat also nicht nur relativ, sondern auch absolut seit 1871 abgenommen. Der Grund liegt in der folgenden Agrarkrisis, die seit Mitte der 70er Jahre einsetzte. Diese nahm einen chronischen Charakter an und wurde in ihren Folgen nur etwas gemildert durch die seit 1879 geschaffenen Agrarzölle. Sie hat aber trotzdem eine völlige Umwälzung der bis dahin gestellten Grundlagen der Landwirtschaft mit sich gebracht. Bis Mitte der 70er Jahre des 19. Jahrhunderts war der Absatz für die landwirtschaftlichen Produkte und deren Preisverhältnisse sehr günstig. Durch die Entwicklung der Industrie war mit zunehmender industrieller Bevölkerung eine steigende Nachfrage nach agrarischen Produkten hervorgetreten so dass dieselben im Preise noch gestiegen waren. Letztere hatten auf die intensivere Bewirtschaftung des Grund und Bodens anregend eingewirkt und eine starke Bodenspekulation hervorgerufen. Nun kam der jähe Preissturz seit ca. 1875, der durch den raschen Ausbau der modernen Verkehrsmittel unmittelbar veranlasst wurde. Denn durch die Entwicklung des Verkehrs War die deutsche Landwirtschaft den Launen des Weltmarktes preisgegeben. Da der Weltmarktpreis für agrarische Produkte viel niedriger stand, sanken die deutschen Getreide-Produkte auf dieses Niveau. Die deutsche Landwirtschaft kam infolge der hohen Produktionskosten, welche durch die herrschenden hohen Bodenpreise noch erhöht wurden, an den Rand des Verderbens. Die Getreidekonkurrenz kam aus Amerika.
Als infolge der industriellen Krisis in den Vereinigten Staaten 1873 die brotlos gewordenen industriellen Arbeiter nach dem Ausbau des Eisenbahnnetzes nach dem Westen, um dem Schrecken der Arbeitslosigkeit zu entgehen, sich dorthin wandten und die weiten Prärieflächen dem Anbau unterwarfen, da strömten die durch günstige Ernten erzielten Getreidemengen auch auf den europäischen Markt und brachten die hier herrschenden Getreidepreise zum Sinken. Die neuen Ansiedler, unter denen sich viele Deutsche befanden, welche im Laufe des 19. Jahrhunderts nach der Union ausgewandert waren, wurden in ihrem kolonisatorischen Ziele durch die amerikanischen Eisenbahnverwaltungen unterstützt. Es war nämlich der amerikanische Westen mit dem Osten durch eine Eisenbahnlinie verbunden worden, und die Regierung hatte den Eisenbahngesellschaften weite Bahnstrecken rechts und links der Eisenbahn zugewiesen. Auf diesem jungfräulichen Boden siedelten sie die beschäftigungslosen Arbeiter aus den östlichen Industriezentren an. Sie verfolgten dabei das Ziel, durch den Transport von Getreide nach dem Osten die Eisenbahnlinien rentabel zu gestalten. Begünstigt durch eine zielbewusste Tarifpolitik, gelangte das massenhaft geerntete Getreide nach dem Osten, wurde Von hier aus den Elevatoren in den Hafenstädten auf die Schiffe verfrachtet und nach dem europäischen Getreidemarkt gebracht. Das Getreide strömte nach England und nahm den deutschen Landwirten hier ihren bisherigen Ausfuhrmarkt. In der Union herrschten, wie gesagt, in den 80er Jahren außerordentlich günstige klimatische Verhältnisse. Die ungewöhnliche Feuchtigkeit kam den damals noch unbewässerten Steppengebieten des amerikanischen Westens sehr zu statten. Und wenn auch nicht absolut erweisbar, so ist es doch nicht unwahrscheinlich, dass, wie Professor Brückner meint 2), hier ein Zusammenhang zwischen Klimaschwankungen und Völkerwanderung gegeben sei.
2) Klimaschwankungen usw., S. 289 ff.
Die Konjunkturverhältnisse für die deutsche Landwirtschaft wurden noch verschlimmert durch die Verbesserung der Verkehrsmittel und den Ausbau der Verkehrswege in Russland und Indien, wodurch auch die dort gebauten Getreidemengen dem europäischen Markte zugänglich gemacht wurden.
Die deutsche Industrie hatte durch den Milliardensegen infolge des deutschen Sieges über Frankreich 1870/71 eine außerordentliche Kräftigung erfahren. Sie konnte sich von dem ausländischen Leihkapital emanzipieren und nahm infolgedessen einen ungeahnten Aufschwung, der, wenn auch unter Schwankungen, bis zur Gegenwart angehalten hat. Derselbe wurde erreicht zuerst durch die Eroberung des inländischen Absatzmarktes, und seit den 90er Jahren immer mehr durch die Erweiterung des Exportes. Der deutsche Exportindustrialismus sowie der in den beiden letzten Jahrzehnten ebenfalls stark hervortretende Exportkapitalismus haben eine noch stärkere Bevölkerungszunahme in Deutschland begünstigt und ermöglicht. Das Industriesystem in Deutschland zeigte sich im steigenden Maße befähigt, die deutsche Bevölkerung zu ernähren und eine Besserung der sozialen Lage aller Volksschichten herbeizuführen.
Die durch die Industrialisierung Deutschlands hervorgerufenen Umgestaltungen drücken sich besonders auch in einer starken Verschiebung der Bevölkerung aus. 1882 war es noch die Landwirtschaft, welche den Grundstock der deutschen Bevölkerung versorgte, bereits 1895 hat die Industrie diese Aufgabe übernommen. Es lebten von der Landwirtschaft nach den Berufs- und Betriebszählungen in Deutschland im Jahre
1882 19,2 Millionen Menschen oder 42,51%
1895 18,5 Millionen Menschen oder 35,74%
1907 17,7 Millionen Menschen oder 28,65%
der Gesamtbevölkerung 3),
von der Industrie dagegen im Jahre
1882 16,1 Millionen Menschen oder 35,51%
1895 20,3 Millionen Menschen oder 39,12%
1907 26,4 Millionen Menschen oder 42,75%
der Gesamtbevölkerung 3).
Mit dem Emporblühen der Industrie hat auch der deutsche Handel eine starke Ausbreitung erfahren, der sie in ihrer Aufgabe unterstützte. Von ihm lebten (d. i. vom Handel und Verkehr) im Jahre
1885 4,5 Millionen Menschen oder 10,02%
1895 6,0 Millionen Menschen oder 11,52%
1907 8,3 Millionen Menschen oder 13,41% der Gesamtbevölkerung 3).
Den Rest derselben umfasst der Wehr-, Lehr-, Gelehrten-, Künstlerstand und die Beamtenschaft. Er betrug
1882 2,2 Millionen Menschen oder 4,92%
1895 2,8 Millionen Menschen oder 5,48%
1907 3,4 Millionen Menschen oder 5,53% der Gesamtbevölkerung 3).
Die aus den angeführten Zahlen ersichtliche Umschichtung der deutschen Bevölkerung hat sich natürlich nicht auf einmal und nicht ohne Stauungen vollzogen. Letztere drücken sich durch die großen Binnenwanderungen und besonders auch durch die Massenauswanderung in den ersten beiden Jahrzehnten nach 1870 aus. Die deutsche Landwirtschaft war außerstande, ihren gewaltigen Zuwachs an Bevölkerung zu behalten und zu ernähren. Letzterer musste sich deshalb anderen Erwerbszweigen zuwenden. Vor allem kam für ihn die industrielle Beschäftigung in Betracht. Der Übergang dazu war aber nicht jederzeit leicht, weil die Entwicklung der Industrie besonders nach 1871, aber auch noch in der Gegenwart großen Schwankungen unterlegen ist, wennschon es der Neuzeit immer mehr zu gelingen scheint, große Störungen durch wirtschaftliche Krisen zu verhindern, die früher oft wie mit elementarer Gewalt ausbrachen und in ihrem Gefolge Hungersnot über die Bevölkerung brachten.
Die deutsche Auswanderung vollzieht sich während der letzten vier Jahrzehnte auf zweierlei Art. Entweder direkt, indem vor allem die ländlichen Volkselemente, gedrängt durch die Unmöglichkeit, auf dem Lande ihren Unterhalt zu suchen, sich dem Auslande zuwenden, oder indirekt, indem sie größtenteils erst in der deutschen Industrie und im Handel nach Beschäftigung suchen und erst infolge der noch großen Unsicherheit der Erwerbsverhältnisse und der Unmöglichkeit in wirtschaftlich ungünstigen Zeiten Unterhalt finden, sich dem Auslande zuwenden.
3) Zahn, Deutschlands wirtschaftliche Entwicklung a. a. O. S. 428 f.
Diese Unterscheidung in direkte und indirekte ländliche Auswanderung hat auch für die jüngste Gegenwart noch ihre Berechtigung.
Die so unterschiedene ländliche Auswanderung war teils eine rein agrarische, d. h. die Landwirtschaft verlor vor allem! ihren kräftigen Arbeiterstand, einen großen Teil von Kleinbauern, die mitsamt der Familie auswanderten, dann Bauernsöhne und Töchter aus allen landwirtschaftlichen Bevölkerungsschichten. Teils ist sie eine solche von Handwerkern und sonstigen Kleingewerbetreibenden auf denn Lande, denen die Industrie ihr Betätigungsgebiet durch ihr Vordringen auch auf dem Lande entriss.
Durch die neuere Entwicklung wurde nicht nur die Landwirtschaft aus ihrer bisherigen Stellung verdrängt, sondern auch das Handwerk, und zwar überall da, wo es zufolge der noch aus dem Mittelalter herüberragenden Wirtschaftsorganisation eine herrschende Stellung innehatte. Die bisher vom Handwerk behaupteten Erwerbsgebiete zog die vordringende Industrie teils direkt in ihr Herrschaftsbereich, teils hat sie das Handwerk in Abhängigkeit zu sich gebracht. Daher die vielen Klagen der Handwerker über Mangel an Erwerb seit der industriellen Entwicklung in Deutschland. Breite Schichten der Handwerkerklassen fanden keinen anderen Ausweg, als ebenfalls auszuwandern, nämlich soweit sie aus ihrer bisherigen Stellung verdrängt wurden, ohne rechtzeitig den Übergang zu anderweitiger Beschäftigung finden zu können. Gerade den Handwerkern war der Übergang wegen ihres gelernten Berufes und der überkommenen Vorurteile des Handwerkerstandes („Handwerk hat goldenen Boden") schwierig. Noch mehr ein gewisser Handwerkerstolz (Selbständigkeit usw.).
Natürlich beteiligten sich auch alle übrigen Erwerbsschichten und Bevölkerungsklassen in mehr oder minder großer Zahl an der Auswanderung. Aber in ihrem eigentlichen Charakter erscheint die gesamte deutsche Auswanderung von 1871 bis zur Gegenwart als eine solche überwiegend landwirtschaftlicher Elemente und breiter Schichten des Handwerkerstandes.
Als sich dann der durch die Entwicklung Deutschlands vom überwiegenden Agrar- zum Industriestaat herbeigeführte Umschichtungsprozess der Bevölkerung vollzogen hatte und die dadurch hervorgerufenen Stauungen nach dem Abzug von Millionen Deutschen vorüber waren — dies war zweifellos seit Mitte der 90er Jahre bereits der Fall — , da ging naturgemäß die Auswanderung zurück.
Es wäre völlig unangebracht, die Auswanderung dieser Zeit auf eine Übervölkerung zurückzuführen. Es wurden durch die Umgestaltungsprozesse lediglich die durch die neue Entwicklung überflüssig gewordenen erwerbstätigen Volkselemente gewisser Berufsgebiete aus dem wirtschaftlichen Organismus ausgeschieden und gezwungen, sich der neuen Entwicklung anzupassen. Soweit sie dazu nicht die genügende Elastizität besaßen, um die Eingliederung in den neuentstandenen Wirtschaftskörper zu erreichen, standen sie vor der unmittelbaren und unerbittlichen Notwendigkeit der Auswanderung. Durch den Export könnte in den letzten zwei Jahrzehnten die Industrie vermehrte Arbeitsgelegenheit schaffen und relativ hohe Löhne zahlen. Damit wurde dann die Bevölkerung allmählich wieder ruhiger und sesshafter, und der Antrieb zur Auswanderung wurde geringer. In gleicher Zeit hatte das eigentliche deutsche Auswanderungsgebiet, die Union von Nordamerika, eine ähnliche Gestaltung seiner wirtschaftlichen Verhältnisse erfahren wie Deutschland.
Während bis 1892 regelmäßig über 100.000 Personen jährlich, in den Jahren 1881 und 1882 sogar über 200.000 Personen Deutschland verließen, ging die Auswanderung seit 1892 gewaltig zurück und schwankt seither jährlich zwischen 20.000 und 40.000 im Durchschnitt. Auch die Leistungen der sozialpolitischen Arbeiterfürsorge (Kranken-, Unfall- und Invalidenversicherung), der Wegfall des Sozialistengesetzes 1890, Versuche einer Kolonisation des deutschen Ostens, eine tiefere Kenntnis von der Lage des Arbeitsmarktes auch in den unteren Erwerbsschichten, halfen den Rückgang der Auswanderung herbeiführen. Besonders aber war es die Verschiebung der wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse der Union, welche der deutschen Auswanderung Schranken setzte. Sie dauert seit Mitte der 90 er Jahre nur mehr in dem Maße fort, als infolge der Verschiedenheit der Bevölkerungsdichtigkeit notwendigerweise auch eine Verschiedenheit der Intensität des Wirtschaftslebens besteht, deren Fortschritte und Umgestaltungen die Eingliederung neuer Bevölkerungsteile gestatten. Die Union erlaubt zweifellos noch für lange Zeit eine Steigerung der Intensität des Wirtschaftslebens, so dass die deutsche Auswanderung dorthin auch aus diesem Grunde nicht sobald gänzlich aufhören wird.
Auswanderer, Schiffsuntergang
Auf dem Promenadendeck
Auf der Brücke
Am Cap der guten Hoffnung
Beladen eines Bananenfrachters
Beladen eines Öltankers
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