An den christlichen Adel deutscher Nation von des christlichen Standes Besserung, vom August 1520

Die 95 Thesen hatte Luther noch als treu ergebener Sohn des Oberhaupts der katholischen Kirche geschrieben, fern von dem Gedanken, ein Reformator der Kirche zu werden, oder sich gar von ihr zu trennen. Aber der Geist in ihm ging über sein Denken und Verstehen weit hinaus, und der Gang der Ereignisse vom Oktober 1517 bis in den Sommer 1520, dessen vorn Meldung geschah, und die Gegner selbst mussten ihn weiter treiben. Während die, so auf des Pabsts Seite stunden, immer noch hofften, der Streit werde in Bälde sich gelegt haben, arbeitete es in ihm, und es überkam ihn, dass er noch nicht einmal recht angefangen habe. Als er einmal mit Lor. Süß über Feld reiste, kniete er unterwegs vor seiner Wagenkiste nieder, und betete eine gute Weile mit großem Ernst, und sagte: „Nu, habe ich meine Büchse geladen; geht mir die recht ab, so soll sie gewiss durchdringen. Ich will an den deutschen Adel (aus welchem ihm von U. v. Hutten, Sylv. v. Schauenburg, Frz. v. Sickingen kurz zuvor sehr ermutigende Schreiben zugekommen waren) ein Büchlein schreiben; gelingt mir's damit, dass sie zum Worte Gottes treten, so sollt ihr sehen, was folgen wird.“ Diese Büchse hat sich unmittelbar hintereinander in drei Meisterschüssen entladen, in den Schriften: „An den christlichen Adel“ etc., „Von der Freiheit eines Christenmenschen“ und „Von der babylonischen Gefangenschaft der Kirche“. In diesen tritt er nun wirklich als Reformator wider das Pabsttum auf. Und wie? „Was mich betrifft, schreibt er während der Abfassung der ersten Schrift, so sind die Würfel gefallen, Roms Gunst und Wut ist verachtet. Ich will mich mit ihnen nimmermehr versöhnen, noch mit ihnen Gemeinschaft haben; sie mögen meine Bücher verdammen und verbrennen. Ich dagegen, ich müsste denn kein Feuer haben, will verdammen und öffentlich verbrennen das ganze päbstliche Recht, diese vielköpfige Schlange der Ketzereien, und mit der bisher angebotenen und vergeblich erwiesenen Demütigung solls ein Ende haben, die Feinde des Evangeliums sollen dadurch nicht mehr aufgeblasen werden.“ Wie Wolkenbruch und Gewittersturm stürzt er in der Schrift: „An den christlichen Adel deutscher Nation“ zuerst die drei Mauern des Pabsttums darnieder, dahinter es sich bisher verwahrt und verborgen hatte, zeigt dann im zweiten Teil die Scheuel und Greuel der durch Beraubung der deutschen Nation reich gewordenen großen Babylon (Offenb. 18.); und räumt endlich, im dritten Teil der Schrift, mit seinen Reformationsvorschlägen gründlich auf und schneidet dem Pabsttum alle Sehnen ab. Auf Grund der Taufe, des Evangeliums und des Glaubens spricht er in ihr das allgemeine Priestertum allen Christen zu. Zwischen Laien und „Priestern“ sei kein innerlicher Unterschied; die Priesterweihe schaffe keinen andern Menschen, keinen besondern Stand mit unverlierbarem Charakter; zwischen beiden sei bloß ein Unterschied des Amts, des sich freilich Niemand anmaßen dürfe; die Geistlichen seien wie die Laien der weltlichen Obrigkeit und bei Vergehen ihrer Strafe unterworfen. An die Stelle der Pabstkirche mit der Sonderung in Geistliche und Laien, als zwei wesentlich verschiedene Ständen, setzte er so die „allgemeine Kirche“.

Wir sehen, „der Gang Luther war ein riesenhafter auch in der Verneinung. Zwei Jahre, bevor Zwingli in Verwerfung der Fasten den entscheidenden Schritt zur Reformation in Zürich tat (1522). führte Luther in seiner Schrift an den Adel deutscher Nation einen erschöpfenden Angriff gegen das Ganze der Missbräuche und drängte den Unwillen der Nation und der Jahrhunderte in den Erguss einer Flugschrift“, in welcher er, „aus dem tiefsten Beweggrunde positiver religiöser Erkenntnis und Sehnsucht“ „mit unerschrockener Freimütigkeit das Verderben der Kirche und seine Quellen schildert, und mit der ganzen Macht volkstümlicher, durch sittliche Entrüstung geschärfter Beredsamkeit rügt“. Bereits nennt er aus 2 Thess. 2. 3. 4. hin, den Pabst als solchen den Antichrist, und spricht ihm selbst den Besitz des Kirchenstaats ab. Man muss, um das Gewaltige in ihr zu verstehen, beim Lesen dieser Schrift in die Zeit Luthers sich zurückversetzen, da die Christenheit dem Pabste noch zu Füßen lag, und man wird im Zweifel sein, „ob man mehr über die Größe des Geistes, der in ihr herrscht, oder über die Kühnheit, welche zu ihrer Bekanntmachung gehörte, erstaunen solle“. Schont er doch im letzten (27.) seiner Vorschläge der weltlichen Gebrechen und des Adels selbst nicht, an den er sich mit seiner Schrift wendet. Aber er tut, wie der Eingang der Schrift zeigt, diesen kühnen Schritt nicht, wie die so zuvor gegen den Pabst sich erhoben, „mit Bertrauen großer Macht oder Vernunft“, sondern im Sinne und mit den Worten Davids gegen den Riesen Goliath. „Ich komme zu Dir im Namen des Herrn Zebaoth, des Gottes des Zeuges Israel, den du gehöhnet hast“.


Diese Schrift tat ihre volle Wirkunng. Zu Anfang August 1520 erschienen, war sie schon am 18. desselben Monats in mehr als 4.000 Exemplaren verbreitet. Sie lähmte die Wirkung der Bannbulle, mit welcher Dr. Eck eben von Rom nach Deutschland zurückkehrte, bei dem unbefangenen und denkenden Teile der Nation. Andere dagegen, welche wohl auch eine Kirchenverbesserung wünschten, erschraken beim Anblick der tiefen Kluft, über welche Luther, die Brücke zwischen ihm und dem Pabsttum abbrechend, weggesetzt war. Gleich den 22.000 Mann Gideons (Richt. 7, 3.) kehrten sie wieder um mit den Worten: Das ist eine harte Rede, wer kann sie hören?