c) Die Ukraine und Hartmann-Bismarck.

Die Anhänger eines „kleinen Krieges“ von 1855 haben bald die Folgen ihrer Politik einsehen müssen. Die Macht Russlands war bei Sewastopol nichts weniger als gebrochen worden. Nicht einmal 25 Jahre nachher standen die russischen Armeen vor den Mauern Konstantinopels. Die neue Machtentfaltung Russlands musste es unbedingt in einen Konflikt mit Österreich-Ungarn und Deutschland hineintreiben. Eine Reihe von Reibungen zwischen Russland und Deutschland (1874, 1875, 1876 und 1879), die nur einen Weg für das letztere, die russische Freundschaft zu erhalten, ließen, nämlich sich als Instrument bei den antitürkischen und antiösterreichischen Plänen Russlands gebrauchen zu lassen, führte zur Neuorientierung der deutschen Politik. Sie wurde in dem gegen Russland gerichteten Dreibunde (zuerst Zweibunde) gefunden. Damit war die ganze Richtung der Politik des Deutschen Reiches auf ganze Jahre hinaus gegeben, die früher oder später unbedingt zum Bruche mit seinem östlichen Nachbarn führen musste. Dies Ereignis (der Abschluss des deutsch-österreich-ungarischen Bündnisses) hat statt einer friedlichen Wendung der russischen Politik nur das herbeigeführt, dass sie von jetzt an nicht nur gegen Österreich-Ungarn, sondern auch gegen dessen neuen Verbündeten Front machte. Wenn früher das Wort galt, dass der Weg nach Konstantinopel über Wien führe, so führte jetzt dieser Weg nach dem Wort Alexanders II. „durch das Brandenburger Tor“. Die neue Orientierung der deutschen Politik zwang die Deutschen immer, die Möglichkeit eines Krieges mit Russland ins Auge zu fassen und damit zu rechnen. Im Jahre 1887 (bulgarische Krise) schien die Unbekümmertheit Russlands über alle Vorschriften des Völkerrechtes bis zur Unverschämtheit sich zu steigern. Das Bemühen des Zarenreiches, über die Unabhängigkeit Bulgariens sich hinwegsetzend, dieses Land zum Sprungbrett nach Konstantinopel zu machen, rief eine ungeheure Aufregung in Deutschland hervor. Jetzt, wie schon oftmals vorher, rief die Notwendigkeit, mit Russlands Vergrößerungsplänen sich wieder ernstlich zu befassen, die ukrainische Frage als Gegenstand der politischen Erwägungen wieder hervor. Diesmal wurde die Frage viel eingehender und ernstlicher als bisher erwogen, in einem von Bismarck inspirierten Artikel Hartmanns in der „Gegenwart“, der die Zerstückelung Russlands und die Errichtung eines ukrainischen Staates empfahl, als einer Präventivmaßregel, die endlich Europa und Deutschland von dem schweren Drucke des Zarismus befreien sollte *).

*) Vergl. „Gegenwart“ XII, 1887 und I., 1888.


Auf den ersten Blick scheint es ganz absurd, solche Pläne Bismarck zuzuschreiben, dessen russische Politik in ganz anderem Ideenkreise sich bewegte, man muss aber — um das zu verstehen — den großen Umschwung berücksichtigen, den in der russischen Politik des ersten Reichskanzlers die Zeit nach 1871 vollbrachte, und der ihn zu den Anschauungen führte, die er vorher selbst als „kindische Utopien“ bezeichnet hatte. Vor 1871 waren alle Kombinationen, die sich auf irgendwelche Weise gegen den Zaren und sein Reich wendeten „kindische Utopien“. Zwischen Russland und Preußen „gab es (damals) keine Gegensätze“. Damals sollte man sich Russland warmhalten, um bei der bevorstehenden Abrechnung mit drei anderen Nachbarn Preußens seiner Neutralität gesichert zu sein. Außerdem hätte jeder bewaffnete Konflikt mit dem Zarenreich als eine notwendige Konsequenz die Ausrottung der polnischen Frage nach sich gezogen, was Bismarck unter allen Umständen vermeiden wollte. Das waren — kurz gesagt — die Ursachen, die dem Fürsten nicht gestatteten, einen anderen Weg in den Beziehungen zu Russland einzuschlagen, als eben denjenigen, den er nach seinem besten Wissen und Gewissen gewählt hatte. Natürlich wirkten hier auch die leisen Nachklänge einer verhallten Idee mit, der heiligen Allianz, die eine so große Rolle in der auswärtigen Politik der Gegner Bunsens gespielt hatte. Nach der deutschen Einigung war die Lage ganz anders. Vorher hatte Bismarck behauptet: „Wenn Österreich und Russland im Orient Beschäftigung finden, so hatte es im Interesse ihres damals weniger mächtigen Nachbarn gelegen, sie darin nicht zu stören . . . und ihren Druck auf unsere Grenzen dadurch abzuschwächen.“*) Nach 1871 hatte die oft in Österreich gehegte Idee einer Revanche für Königgrätz (Graf Beust!) ausgespielt. Gegen diese Idee brauchte Deutschland nicht mehr einen Anhalt bei Russland. Vielmehr musste es trachten, irgend eine Stütze gegen eine andere Revancheidee (für Sedan!) zu finden, und es konnte diese Stütze gewiss nicht in dem schon damals mit Frankreich kokettierenden Russland finden. In Frankfurt dachte noch Bismarck (Bericht an Manteuffel 16. 06. 1854), „dass Österreich sich früher oder später mit Russland über das Schicksal der Türkei im Guten verständigen muss“. Diese Illusion wurde aber nach 1876 auch vernichtet, als Russland die Zertrümmerung Österreichs, seines Rivalen im Nahen Osten, unverhüllt zum Zwecke seiner Politik machte. Die Macht der Ereignisse hatte Deutschland auf das Bündnis mit Österreich hingewiesen, dass letztere aber auf den Weg eines unvermeidlichen Konfliktes mit Russland. Die verzweifelten Versuche des Kanzlers, Russland durch das Dreikaiserbund-System von seiner aggressiven Politik abzuhalten, zerbrachen an dem russischen Größenwahn, und wenn früher der absolute Mangel au Reibungsflächen mit Russland und die Möglichkeit eines dauernden Friedens mit ihm für den Kanzler ein feststehendes Axiom war, so schrieb er schon 10.09.1879 (Brief an den König von Bayern aus Gastein), dass er sich „der Überzeugung nicht erwehren könnte, dass der Friede durch Russland, und zwar nur durch Russland bedroht sei.“ Später überzeugte er sich sogar, „dass selbst ein vollständiges Indienststellen unserer Politik in die russische uns nicht davor schützt, gegen unseren Willen und gegen unser Bestreben mit Russland in Streit zu geraten“ (die Rede im Reichstag 06. 02. 1888).

Die Rede, in der Bismarck solche Ansichten verkündete, fiel gerade in diejenige Zeit, als der Artikel Hartmanns erschien. Dass mit dem Inhalt dieses Artikels der Kanzler auch vor seinem Erscheinen vertraut war, ist für jeden wahrscheinlich, der den Meinungsumschwung Bismarcks in Bezug auf seine russische Politik genau studierte. Wenn man schon an die Unvermeidlichkeit eines Krieges mit Russland (wie es Bismarck 1888 tat) dachte, so könnte man den Gedanken sehr zugänglich sein, die Hartmann in der „Gegenwart“ niederschrieb: „Sobald aber Russland durch einen Angriffskrieg um chimärischer Zwecke willen als ein gefährlicher und mutwilliger Friedensstörer erscheinen sollte, würde die Selbsterhaltungspflicht Deutschlands und Österreichs zu dem Bestreben nötigen, die etwaigen Siege und die zeitweilige Zerrüttung des Angreifers zu einer dauernden Verminderung seiner Offensivkraft durch bedeutende Gebietsabtrennungen zu benutzen.“ Aus diese Gedanken — besonders was die Ukraine anbelangt — konnte einer desto leichter kommen, der so ausgezeichnet wie der Kanzler die historische Rolle der Ruthenen kannte, ebenso wie auch ihre Fähigkeit, in dem Lauf der Geschichte sich tatkräftig einzumischen, wie z. B. im Jahre 1648 (s. die Rede Bismarcks 18.03.1867 im Preußischen Landtag). Man darf auch nicht vergessen, dass Hartmann seine Pläne bloß als eine Abwehr gegen kriegerische Absichten Russlands darstellte, mit welchem Deutschland im Übrigen keine Interessengegensätze habe. Das aber war auch Bismarcks Meinung! Wie dem auch sei, für jeden, der sich auf den Standpunkt Bismarcks von 1888 stellte, waren die Projekte Hartmanns nur eine logische Konsequenz, die der Mann, welcher das Amt eines Reichskanzlers bekleidete, nicht offen und nicht selbst aussprechen durfte.

Nach der Meinung Hartmanns ist die Zusammenfassung von zwei Gebieten, russischen einerseits, ukrainischen und weißruthenischen andererseits, in einem Staat keine natürliche Notwendigkeit. „Weder die geographischen noch die ethnographischen Gründe sind vorhanden, die eine solche Zusammenfassung dieser Gebiete rechtfertigen könnten“. Die Russen bewohnen das Gebiet der Wolga und des Dons (was übrigens auch nicht ganz uneingeschränkt richtig ist). Diese Flüsse in ihrer ganzen Länge zu besitzen, ist eine wirkliche Notwendigkeit für Russland. Nicht aber der Besitz des Dniepr-Fluss-Gebietes, des Gebietes des ukrainischen und weißruthenischen Volkes. Dieses Stromgebiet ist von Russland durch die Wasserscheide der Düna-DonischenLandhöhe getrennt, der Dniepr selbst berührt das russische Gebiet nirgends. Es ist deshalb kein Zufall, dass beide Flussgebiete von Völkern ungleichartiger Nationalitäten bewohnt sind, von den Russen und Ukrainern. Der russische Nationalstaat ist durch die in ihm gegebenen ethnographischen Bedingungen, ganz ebenso wie durch seine geographischen Grundlagen nach Südosten hingewiesen, aber nicht nach Westen. „Jedenfalls — meint Hartmann — könnte in geographischer und handelspolitischer Hinsicht jeder der beiden Teile den anderen ganz gut entbehren.“ Diese Erwägungen führen Hartmann zu seinem Projekt (dass auch die Lostrennung der Ostseeprovinzen, Finnlands und Litauens voraussieht) der Errichtung eines „Königreiches Kiew“ im Stromgebiet des Dniepr und Pruth. Ein solcher Dnieprstaat oder ein Königreich Kiew würde in seinen 18 Millionen (damals, 1888) Einwohnern ganz wohl die Grundlage zu politischer Selbständigkeit besitzen. Der neue Staat hätte von Österreich die Garantie seines Besitzstandes gegen Russland erhalten und wäre mit der Donaumonarchie in ein Schutz- und Trutzbündnis eingetreten. Die so skizzierte Verkleinerung Russlands um mehr als 34 Millionen Köpfe — schließt Hartmann seine Ausführungen — dürfte ausreichen, um auch den Gläubigsten unter den Weltherrschaftsträumern klarzumachen, dass Europa noch immer über Mittel verfügt, „um zu verhindern, dass die Bäume in den Himmel wachsen!“

Das Projekt Bismarck-Hartmann, das nicht nur konkreter ausgeführt als jenes von Bunsen, sondern seinem Inhalt nach viel umfassender und radikaler war — fand jedoch einen ganz anderen Empfang als jenes von Bunsen, ein Zeichen, wie reif die uns interessierende Idee geworden ist *). Ein Traum von 1791, eine „kindische Utopie“ von 1854 und ein politisches Bedürfnis von 1888, so war der Etappengang der ukrainischen Staatsidee in der politischen Welt Deutschlands.

Die Weltherrschaftsräume Russlands, das Deutschland und Österreich das Los der Türkei und Schwedens bereiten wollte, wiesen allmählich auch die Deutschen auf die politischen Kombinationen hin, die noch im siebzehnten und achtzehnten Jahrhundert brennendes Bedürfnis für die durch Russland bedrohten Mächte waren.

*) Das Projekt Hartmann-Bismarck war überhaupt nur eine weitere Entwicklung der Idee, die damals in Deutschland viel verbreiteter waren, als man annimmt. Eine Reihe von politischen Schriften und Broschüren hat sich in den achtziger Jahren mit derselben Frage eines Krieges mit Russland befasst, wie z. B.: B. —C. „Hauptziel des Österreichisch-Russischen Krieges der Zukunft“, Hannover 1887, J. P. „Strategische Studien über den Österreichisch-Russischen Krieg“, Leipzig 1889, Oberstlt. Haymerle, „Das strategische Verhältnis zwischen Österreich und Russland“ u. a. Einige von diesen Schriften, wie z. B. die von J. P. erkannten schon deutlich, dass „nur durch die Zurückschiebung der russischen Grenze bis an die Düna und Dniepr dauerhafte Resultate erzielt und alle schwebenden Fragen gelöst werden könnten“.