b) Die Ukraine und die Bethmann-Hollweg'sche Partei.*)

Die Ausrottungspolitik Katharinas II. hatte jede nationale Opposition im öffentlichen Leben der Ukraine unterdrückt. Von dieser Zeit an hörten die Unabhängigkeitsbestrebungen in diesem Lande zwar nicht auf, mussten jedoch für ihr Fortleben andere, passendere Formen suchen. Diese Formen waren dieselben, in welchen damals die irredentistisch-revolutionäre Aktion in Europa (insbesondere in Italien) ihre Zuflucht suchte: Geheime Verbrüderungen und Freimaurerlogen.

*) Vergl. „Preußisches Wochenblatt“ 1851-1854; Ch. K. Bunsen, Aus seinen Briefen und nach eigenen Erinnerungen von seiner Witwe. Deutsche Ausgabe von F. Nippold, Leipzig 1868; L. v. Ranke, Aus dem Briefwechsel Friedrich Wilhelms IV. mit Bunsen, 1873; „Unter Friedrich Wilhelm IV.“, „Denkwürdigkeiten des Ministerpräsidenten Otto v. Manteuffel“, Berlin 1901; Dr. W. Schmidt, „Die Partei Bethmann-Hollweg und die Reaktion in Preußen“, Berlin 1910.


Das erste und das zweite Dezennium des neunzehnten Jahrhunderts waren für die politische Entwickelung der Ukraine sowie auch Russlands, von großer Bedeutung. Die französischen Feldzüge 1813 und 1814 sowie der Einzug in Paris brachten die russischen Offizierskreise in nähere Berührung mit den Revolutionären Frankreichs, die nicht spurlos an ihnen vorüberging. Die Lehre von den „droits de l'homme et des citoyens“ musste einen tiefen Eindruck auf die Bürger eines Staates machen, wo es überhaupt keine „Bürger“ sondern „Untertanen“ gab, wo erst vor kurzem (zur Zeit des Kaisers Paul) das Wort „Bürger“ aus dem Sprachlexikon gestrichen worden war. Das trübselige russische Leben zu Anfang des neunzehnten Jahrhunderts führte endlich das mit den liberalen Ideen vertraut gewordene Offizierskorps gleich nach der Beendigung des Krieges auf den Weg geheimer Verschwörung, die eine gewaltsame Änderung der Regierungsform bezweckte. Das ganze Land wurde mit einem Netz von Geheimgesellschaften überzogen, es entstand eine revolutionäre Bewegung (die sogenannten Dekabristen), die im Dezember 1825 mit einem misslungenen Pronunciamento endete.

In der Ukraine nahm diese Bewegung einen ausgesprochen national-ukrainischen Charakter an *), deren Ziel dasselbe war, welches viele ukrainische Generationen vergebens zu erreichen trachteten: die politische Unabhängigkeit ihres Landes. Die Freimaurerlogen waren die beliebteste Form dieser Bewegung in der Ukraine. Die Revolutionen in Spanien, Neapel und Piemont sowie die seitens der Kongresse zu Laibach und Verona getroffenen Maßregeln, zwangen viele durch diese Revolutionen Kompromittierte, ihr Land zu verlassen. Manche von ihnen wandten sich nach der Ukraine. Die hier entstandene Freimaurerbewegung trug deshalb denselben Charakter, wie in Italien, wo manche irredentistischen Gesellschaften (Carbonari) von den Freimaurern ihre Organisationsformen und ihren Ritus entlehnten.

*) Vergl. Semevsky, Politiveskija idei dekabristov (Die politischen Ideen der Dekabristen). Sptb. 1909. — Is pisem i pokasanij dekabristov (Aus den Briefen und Auslagen der Dekabristen). – Biblioteka dekabristov (Die Bibliothek der Dekabristen). Moskau 1906 —1907.

Diese Logen bestanden überall in der Ukraine fort. 1818 wurde die Loge der „Liebe zur Wahrheit“ in Poltawa gegründet. Zugeordneter Meister der Loge war ein ukrainischer Großgrundbesitzer S. Kotschubej, der Redner war Major J. Kotlarewky, der bekannte Dichter, von dem die ganze moderne ukrainische Literatur ihren Anfang nimmt, Zu den Mitgliedern gehörten der Perejaslawer Adelsmarschall W. Lutaschewitsch, Oberstleutnant Glinka und andere. Drei von diesen (Lukaschewitsch, Kotschubej und ein Dritter) wurden 1825 verhaftet. Derselbe Lukaschewitsch gehörte auch der Loge der „vereinigten Slawen“ in Kiew an, die 87 Mitglieder zählte. Ferner gab es Logen in Schytomir und Kremenetz (Wolhynien), sowie in anderen Städten desselben Gouvernements.

Außerdem — wie aus den Aussagen mancher russischen Dekabristen vor dem höchsten Strafgerichtshof nach 1825 übereinstimmend hervorgeht, gab es auch eine geheime ukrainische Gesellschaft unter der Führung Lukaschewitschs, deren Ziel die Erkämpfung der ukrainischen Unabhängigkeit war. Der Sitz der Gesellschaft und ihr Tätigkeitsgebiet war vorwiegend das Gouvernement Tschernyhiw. Die Tätigkeit der ukrainischen Gesellschaften und Logen vollzog sich — vermutlich — im Kontakt mit den polnischen, aber nur in lockerer Verbindung mit den russischen. Alle Versuche der russischen Revolutionäre, in nähere Beziehungen zu den Ukrainern zu treten, waren misslungen: die Zentralisierungstendenzen der Russen schreckten die letzteren ab.

Der durch das Interregnum verursachte Ausbruch des Aufstandes, den die geheimen Gesellschaften für eine spätere Zeit vorbereiteten, führte ihren Zusammenbruch herbei. Den größten Umfang (außer Petersburg) nahm der Aufstand in der Ukraine an, wo in Wasylkiw das ukrainische Tschernyhiwsche Regiment meuterte. Das Regiment marschierte schon nach Schytomir, um sich mit der achten Division zu vereinigen, wurde aber inzwischen von den Regierungstruppen Überfallen und geschlagen. Hochverratsprozesse und Hinrichtungen endeten die Bewegung der Dekabristen und auch der ukrainischen Separatisten. Die letzteren hoben ihr Haupt erst wieder um 1840, als die Anzeichen des kommenden Jahres 1848 sich deutlich bemerkbar machten. 1846 entstand in Kiew eine geheime Gesellschaft, zu der die besten ukrainischen Patrioten gehörten, unter anderem der größte ukrainische Dichter Taras Schewtschenko. Zu dieser Zeit der finsteren Reaktion des ersten Nikolaus, zur Zeit, wo die ukrainische Sprache proskribiert wurde, die ganze glorreiche Vergangenheit der Ukraine in den Schmutz gezogen und jede nationale Regung als Verrat gebrandmarkt wurde, da wurden die glühenden Worte dieses Dichters, der in seinen von brennendem. Hass gegen Russland erfüllten Werken die Vergangenheit und die Freiheitskämpfe seines Volkes verherrlichte, zum politischen Programm. Dieses Programm, das auch das der oben erwähnten Gesellschaft wurde, war einfach der Kampf um die Unabhängigkeit der Ukraine, die als freier Staat in föderativen Beziehungen zu den anderen slawischen Völkern stehen sollte. Die Ideale der Gesellschaft, die einen bedeutenden Fortschritt in der Entwickelung der ukrainischen politischen Ideologie darstellen, konnten auch nicht auf Verwirklichung rechnen. Die Ukraine der fünfziger Jahre wurde wieder zu einem toten Land, wie überhaupt das ganze russische Imperium zur Zeit Nikolaus I. Ein politisches System, das überhaupt für keine geistige Entwicklung Platz übrigließ, verjagte auch die einst so lebendige ukrainische Staatsidee in den engen Kreis der Verschwörerligen. Es schien, als ob man diese Idee zu den vielen anderen verkrachten Ideen in die Rumpelkammer der Weltgeschichte werfen wollte. Es kam aber anders. Dieselbe Tatsache, die das Verblassen dieser Idee in der Ukraine selbst verursachte, hat ihr zu ihrem Wiederauftauchen in der politischen Welt Westeuropas verholfen. Diese Tatsache war der über jedes Maß hinaussteigende Machtzuwachs Russlands.

Die Zeit von 1815 bis 1855 war die Zeit einer gewaltigen, noch nie dagewesenen Vormachtstellung Russlands. Ein scheinbar einheitlicher und starker Staat, an dem sich die Wogen der Revolution brachen, war das Russland Nikolaus I., eine überall geachtete, ja gefürchtete Macht, die bald gerufen (Willagoß), bald ungerufen in alle Angelegenheiten der europäischen Politik sich hineinmischte, als Schiedsrichter oder als Bändiger der Revolutionäre. Bekanntlich war Nikolaus 1. ein ausgesprochener Anhänger einer radikalen Lösung der türkischen Frage. Das führte ihn 1853 zum Konflikt nicht nur mit der Pforte, sondern auch mit den Westmächten, zu einem Konflikt, in den Preußen nur zufälligerweise nicht hineingezogen wurde. Die unbegrenzten Prätentionen Russlands, die nicht nur die Interessen Englands und Frankreichs verletzten, sondern auch mittelbar die Großmachtstellung der beiden größten deutschen Staaten bedrohten, rollten wieder die alte Frage auf: die der Herabminderung der russischen Kraft auf eine niemandem gefährliche Stufe.

Unter den verschiedenen Mitteln, die dazu geeignet zu sein schienen und die in der damaligen politischen Welt diskutiert wurden, befand sich auch die Idee eines freien ukrainischen Staates. Wie seltsam es auch anmuten mag, so ist diese Idee nicht in den mit Russland Krieg führenden Mächten England, Frankreich und der Türkei, sondern im neutralen Preußen entstanden. Vielleicht spielte hier die unmittelbare Nachbarschaft Russlands eine Rolle und die unklare Ahnung eines immer mehr sich verstärkenden Interessengegensatzes zu diesem Reiche*). Die Neutralität, die Preußen während des Krimkrieges beobachtete, und die seiner bisherigen freundschaftlichen Politik Russland gegenüber vollkommen entsprach, war nur unter sehr schwierigen Umständen durchzuführen und zwar nicht nur im Hinblick auf die äußere Lage des Königreiches, das von den Westmächten zum Aufgeben seiner Passivität gedrängt wurde, sondern auch auf seine innerpolitischen Angelegenheiten. Es gab eine ziemlich starke Gegenströmung in Preußen, deren Einflüsse bis zu den Hofkreisen Hinaufstiegen, und die im Bündnis mit England und Frankreich das Wohl ihres Vaterlandes zu finden glaubten.

*) Einige Tatsachen aus dem Leben Napoleons I. lassen uns vermuten, dass nur sein plötzlicher Untergang ihn verhinderte seine ernste Aufmerksamkeit der ukrainischen Frage zu widmen. Nach seiner Rückkehr aus Russland befahl Napoleon seinem Referenten im Ministerium des Äußeren C. L. Lesur, dessen Tätigkeit darin bestand, dem Kaiser über den Stand dieser und jener Teile Europas, die ihn zur Zeit interessierten, genaue Referate zu erstatten, eine Geschichte der Ukraine zu schreiben. Die Aufgabe wurde prompt erfüllt. Deren Ziel blieb aber unbekannt. Mag sein, dass nach dem Schreckensjahr 1812 der Kaiser daran dachte, neue Mittel zur Bekämpfung Russlands zu finden und sich an die Bitten des Fürsten Josef Poniatowski erinnerte, der ihm flehend geraten hatte sich nach der Ukraine statt nach Moskau zu wenden. In Bezug auf diese Tatsache ist es nicht ohne Interesse, dass man in der Feldbibliothek des Kaisers in Russland ein Buch des ukrainischen Dichters Kotlarewsky gefunden hat, der — wie gesagt — ein Mitglied einer jener Geheimgesellschaften in Süd-Russland war, deren Ziel die Erkämpfung der unabhängigen Ukraine gewesen ist. (Vergl. „Ukrainische Rundschau“, 6/7, 18912, Napoleon I. und die Ukraine. Von S. Podoljanyn.)

Diese Leute, die die Regierung zum Kriege gegen Russland an der Seite der Westmächte aufforderten, und in deren Kreise die Idee einer unabhängigen Ukraine populär war, gruppierten sich in der sogenannten Bethmann-Hollweg'schen, oder nach dem Namen ihres Parteiorgans („Preußisches Wochenblatt“) Wochenblattpartei. Die Männer dieser Partei waren keine Dilettanten in der Politik, noch weniger jeder Berührung mit der Welt der Wirklichkeit ledig gewordene Phantasten. Von Namen seien nur einige genannt: Graf Fürstenberg-Stammhausen, Moritz August von Bethmann-Hollweg, Mitglieder der Preußischen ersten Kammer, Baron Karl Christian Bunsen, der preußische Gesandte in London, Graf Albert Pourtalès, vortragender Rat im Auswärtigen Amt u. a. Viele von den Mitgliedern der Partei hatten also im Staatsdienste hohe Stellungen inne und besaßen deshalb Beziehungen zu den höchsten Stellen der Regierung. Der Legationsrat Graf v. d. Goltz sollte sogar besondere Beziehungen zum Hofstaat des Prinzen von Preußen haben, wo sein Bruder Adjutant war. Bunsen war ein persönlicher Freund des Königs, mit welchem er sich in lebhaftem Briefwechsel befand. Sybel nennt sie „eine Gruppe vornehmer Beamten und Diplomaten *), für den Prinzen von Preußen sind sie — wie er sich in einem Briefe an Manteuffel äußert, (08. 03. 1854) — „die einzigen würdigen, passenden, ehrenwerten Mitarbeiter“. Und sogar ihr politischer Gegner von damals, Bismarck, musste bei all seiner Abneigung gegen ihre Pläne zugeben, dass „die Leute der Wochenblattpartei zweifellos kluge Köpfe“ waren **). In dieser Partei vereinigten sich alle guten preußischen Patrioten, die die ganze Abhängigkeit ihres Vaterlandes vom Zaren schmerzlich empfanden, da Preußen — nach dem Ausspruch Bismarcks — als „russischer Vasall“ lebte; die weder Olmütz noch Schleswig vergessen konnten. Sie glaubten die Zeit gekommen, diesen unerträglichen Zuständen ein Ziel zu setzen und aus Preußen auch de fakto eine unabhängige Großmacht zu schaffen. Das Mittel, die russische Vormundschaft loszuwerden und das Zarenreich künftighin für die Großmachtstellung Preußens unschädlich zu machen, erblickten die Freunde Bunsens eben in dem mit Hilfe der Westmächte geführten Kriege und in einer beträchtlichen Gebietsschwächung Russlands. Zur Begründung dieses Programms wurde die Theorie des Freiherrn von Harthausen benutzt, dass die vier kolossalen Gebiete, aus denen Russland sich zusammensetzte, mit ihrer einander ergänzenden Produktion dem Reich mit der Zeit eine solche Stärke (falls sie vereint blieben) verleihen würden, dass sein Übergewicht nicht mehr zu brechen wäre ***). Es unterliegt keinem Zweifel, dass das Werk Haxthausens, der die nationale Individualität der Ukraine stark betont, auch die Teilungsprojekte der Bethmann-Hollweg'schen Partei beeinflusste, in denen die Ukraine auch berücksichtigt wurde. Die Partei war der Meinung, dass nicht nur der Platz Preußens auf der Seite Englands und Frankreichs war, sondern auch, dass der Krieg nicht nur Gegensätze lokalen Charakters beseitigen sollte. Vielmehr sollte er tiefer liegende Ziele verfolgen, deren Realisierung zur Umgestaltung der ganzen Karte Europas führen würde. „Nur eine Politik“, schrieb das „Wochenblatt“ am 05. 08. 1854, „welche die Machtverringerung und Schwächung Russlands zum Ziele hat, entspricht dem Interesse Deutschlands . . . Nur für eine solche darf und soll Preußen auftreten und sein Schwert in die Waagschale legen.“

*) Vergl. Sybel, Die Begründung des Deutschen Reiches.
**) Vergl. Bismarck, Gedanken und Erinnerungen Bd. I, Kap. 5.
***) Vergl. „Preußisches Wochenblatt“ 29./IV. 1854 den Artikel „ Die jetzigen Motive des russischen Krieges“.


Für die Absichten der Wochenblattpartei besonders charakteristisch sind außer dem „Preußischen Wochenblatt“ die Denkschriften, die einzelne Mitglieder verfassten, und die sie einflussreichen Persönlichkeiten vorlegten. Bunsen entfaltete eine gewaltige Agitation, um seinen König zum Bruche mit Russland zu bewegen. Am 02.03.1854 hatte er eine „Geheime Denkschrift über die gegenwärtige Lage und Zukunft der russischen Krise“ entworfen, die er gleich nach Berlin schickte*).

*) Vergl. „Deutsche Revue“ 1882, S. 152 sf.

„Die orientalische Frage — schreibt Bunsen darin ist eine europäische geworden; die türkische Krise hat sich in eine russische umgewandelt. Jetzt, wo der Krieg schon ausgebrochen sei, wäre es verhängnisvoll, dies zu vergessen. Es handelt sich jetzt darum, das zu tun, was Friedrich der Große, ja selbst Napoleon nicht hatte tun können: Russlands Übermacht zu brechen“ oder „Russland auf seine natürlichen Grenzen in Europa zurückzuweisen.“ Das würde ermöglichen, „den beiden deutschen Großmächten die verlorene freie europäische Politik im Belange des wahren Gleichgewichtes wieder zu gewinnen.“ Nach diesen Erwägungen allgemeiner Natur geht Bunsen auf die Mittel ein, die die Ziele seiner Politik verwirklichen sollen. Diese Mittel waren — Gebietsabtretung Russlands. Zu diesen zu amputierenden Gebieten gehörten Finnland, die Ostseeprovinzen, Polen und — was uns jetzt interessiert, ein Teil der ukrainischen Provinzen. „Konstantinopel — schreibt Bunsen — ist so wenig in den christlichen als in türkischen Händen sicher, solange Russland das Schwarze Meer beherrscht. Daraus folgt unabweisbar, dass man Russland nicht allein die Krim, sondern auch Bessarabien, Cherson und Taurien entreißen muss.“ Nach dem Projekte Bunsens sollten diese Gebiete an Österreich fallen.

So ungefähr sah das Projekt Bunsens aus. Mögen diese im Entwürfe entwickelten Absichten für die damalige politische Welt phantastisch scheinen, sie verraten doch eine gesunde, tiefblickende Beurteilung der gegenwärtigen Situation. Bunsen sah ganz klar, dass Russlands Vergrößerungspläne unter keinen Umständen auf dem Wege eines friedlichen Ausgleiches oder etwa der Teilung von Einflusssphären aufzuhalten seien und dass nur rücksichtslose Entschlossenheit imstande sei, diese Politik zum Einlenken zu zwingen. Ebenso scharf erkannte er den wichtigsten wunden Punkt des russischen Imperiums und hatte auch begriffen, wem Russland seine Größe und seine weltgeschichtliche Rolle zu verdanken hat. Alle bisher stets empfohlenen Palliative, Russlands Länderhunger zu bezwingen, die Erhaltung der türkischen Integrität, die Errichtung eines Schutzwalles aus den selbständigen Balkanstaaten, erachtete Bunsen als unzureichend. Das allein wirkende Mittel, die russische Gefahr unschädlich zu machen, sei die Wegnahme derjenigen Provinzen, durch deren Besitz das Zarische Reich groß geworden war, also auch der am Schwarzen Meere gelegenen ukrainischen Provinzen. Im Hinweisen auf die große Wichtigkeit dieser Gebiete für das Schicksal Russlands als einer Großmacht liegt das Verdienst Bunsens und seiner Parteigänger.

Ohne Zweifel nahm Bunsen bei seinem Entwurf Rücksicht auch auf die Nationalitätenverhältnisse der abzutrennenden Länder überhaupt, und derer am Pontus insbesondere. Die Theorie Haxthausens, der Russland als ein aus zwei Völkern zusammengesetztes Reich darstellt, lenkte freilich seine Aufmerksamkeit auf den Umstand, dass gerade das Österreich zufallende Gebiet von einer dem Russentum fremden Nation bewohnt ist. Man hat aber auch einen direkten Hinweis, dass die Partei ausdrücklich die Abtrennung der ukrainischen Gebiete bezweckte. Davon schreibt Bismarck in seinen „Gedanken und Erinnerungen“, dass die Partei des Wochenblattes „allen Ernstes in umfangreichen Denkschriften die Frage erörterte, wie Preußen als Vorkämpfer Europas das Ziel einer völligen Zerstückelung des russischen Reiches und Verteilung seines Gebietes an die Nachbarn erreichen könne“*); und an anderer Stelle: „Ich erinnere mich der umfangreichen Denkschriften, welche die Herren (gemeint ist die Bethmann-Hollweg'sche Partei) unter sich austauschten. Darin war als Ziel aufgestellt ... die Zerstückelung Russlands, der Verlust der Ostseeprovinzen, des Gesamtgebietes der Republik Polen . . . und die Zersetzung des Überrestes durch Teilung zwischen Groß- und Klein-Russen.“**)

*) Bismarcks Gedanken und Erinnerungen“, Bd. I., S. 110
**) Ebenda I, 5. Kapitel


Näheres von diesem letzteren Plane wissen wir nicht. Immerhin steht absolut fest, dass, wenn nicht gerade die Idee eines ukrainischen Staates, so wenigstens eine Neuorganisierung des von Russland losgetrennten ukrainischen Gebietes am Schwarzen Meere sich wieder als ein notwendiges Glied erwies in der Kombinationskette, deren Ende in der Erschütterung der russischen Weltmacht bestand, und die die Gedanken der preußischen Diplomaten ernstlich beschäftigte. Es hat sich noch einmal herausgestellt, dass, wer sich mit der russischen Weltmachtfrage befasste, notwendigerweise auf das ukrainische Problem stoßen musste. Allerdings ist nicht die Verwirklichung der ukrainischen Staatsidee in ihrem vollen Umfang zum Zweck der Partei geworden. Aber anders konnte es auch nicht sein. Die Zeit der größten Kämpfe der ukrainischen Nation für ihre Selbständigkeit war vorbei. Die Zeiten des Erwachens der ganzen Nation, die erst im zwanzigsten Jahrhundert eingetreten sind, waren damals noch nicht gekommen. Früher und später befasste sich die politische Welt Europas mit der Idee eines Staates an dem Dniepr-Gebiet, aber nicht zu der Zeit des ersten Nikolaus. Damals waren die Gegensätze zwischen Russland und den Westmächten noch nicht so zugespitzt, um sich nachdrücklich nach den radikalen Mitteln, sie aus der Welt zu schaffen, umzuschauen.

Dem Plane Bunsens und Genossen war es nicht beschieden, zur Verwirklichung zu gelangen. Preußen wahrte seine Neutralität, Bunsen und andere „Ruhestörer“ fielen, und bald darauf schrieb Graf Pourtalès (08. 05. 1854) an Bunsen: „Ich bin um eine schöne, große Hoffnung ärmer.“ Die Oberhand gewann die andere Richtung, die der traditionellen Freundschaft mit Russland. Die Gegner der Wochenblattpartei, die mit Bewunderung nach Russland blickten, das 1852 die polnische, 1819 die ungarische Revolution niedergeworfen hatte, die letzten Vorkämpfer der heiligen Allianz konnten sich nicht mit „Revolution“ (Napoleon III.) und „Heidentum“ (die Türkei) gegen „Legitimität“ und „Christentum“ (das zarische Russland) vereinigen. Sie scheuten sich, den Weg zu betreten, den 60 Jahre später Russland gegen sie gegangen ist, eben im Bunde mit der „Revolution“ (Frankreich) und dem „Heidentum“ (Japan)! Einige von den Gegnern Bunsens hatten vielleicht von ihrem Standpunkt aus Recht, wenn sie meinten, dass sogar der Sieg Preußen keinen Nutzen bringen würde, da die Einigung Deutschlands doch von Österreich und Frankreich nicht geduldet werden würde. Ein Gegner dieser Ansichten war auch Bismarck, der die Pläne der „Westmächtler“ für kindisch hielt. Bekanntlich legte der Fürst sehr wenig Bedeutung der eventuellen Besetzung Konstantinopels durch die Russen bei und unterschätzte die Wichtigkeit dieser Stadt für die Weltherrschaftspläne Russlands. Damals waren auch die Kämpfe, die er voraussah — mit Österreich und Frankreich — noch nicht ausgefochten. Bismarck wollte seinen eventuellen Verbündeten nicht reizen und für die Zukunft nicht verstimmen in Bezug auf die Aufgabe, die er für die wichtigste hielt. Außerdem fürchtete Bismarck die Aufrollung der polnischen Frage, die bei jedem Bruche mit Russland unvermeidlich gewesen wäre. „Einen sicheren Bundesgenossen gegen zukünftige Feinde Preußens“ sah Bismarck in Russland und „Rückendeckung gegen Polen.“*) Dabei fürchtete er die Wiederholung der „Koalition des Siebenjährigen Krieges“. Das waren die wahren Ursachen seiner und vielleicht auch andersseitiger Opposition gegenüber den Plänen der Wochenblattpartei. Die Schwäche Deutschlands, das von vielen Feinden umgeben, noch uneinig war, die Rivalität der deutschen Großmächte unter einander, endlich die Reminiszenz der heiligen Allianz, die imponierende Stellung Russlands und die Rücksichten auf die innere Politik hatten dazu beigetragen, dass den kühnen Plänen der Bethmann-Hollweg'schen Partei die Erfüllung nicht beschieden war.

*) „Gedanken und Erinnerungen“ I. 5. Kap.

Aber die ukrainische Frage wurde zu dieser Zeit doch aufgerollt und zum Gegenstand eines regen Gedankenaustausches zwischen einer Reihe von Diplomaten und Politikern gemacht. Diese Frage musste sich mit Notwendigkeit jedem Gedanken, die Großmachtstellung Russlands zu beeinträchtigen, zugesellen. 34 Jahre später wird diese Frage — nun aber in konkreterer Form — von neuem in die politische Öffentlichkeit Deutschlands eingeführt. Den Anlass dazu gab wieder ein neuer Sprung der russischen Erweiterungspolitik.