a) Die Ukraine und Kanzler Hertzberg *).

Die Abschaffung des hetmanischen Regiments war nur der erste Schritt zur restlosen Einverleibung der Ukraine ins russische Reich. Ihr folgten bald andere: die Abschaffung der selbständigen ukrainischen Armee, an deren Stelle 28 russische Kavallerieregimenter gebildet wurden, die Auflösung des Zaporogischen Heeres (1775), die Einführung des Gesetzes von der Einteilung in Gouvernements, durch die die Ukraine in administrativer Hinsicht den Provinzen Russlands vollkommen gleichgestellt wurde, und — schließlich — die Einführung der Leibeigenschaft (1783). Einige Bestimmungen des Privatrechtes in der Ukraine — waren das einzige, was von besonderen Einrichtungen in diesem Lande noch geblieben war.

In solchem Zustand trat die Ukraine in die letzte Periode ihrer Geschichte. Die separatistischen Bestrebungen, die auch in dieser Zeit nie erloschen, werden zu Ende dieser Periode besonders populär. Gleichzeitig gewinnt die Idee des ukrainischen Staates auch unter den Männern der Politik in Westeuropa Anhänger.


Am Ende des achtzehnten Jahrhunderts hatten einige der mit Russland benachbarten Mächte aufgehört, bei der Erhaltung des politischen Gleichgewichtes in Osteuropa in Betracht zu kommen. Diese Aufgabe übernahmen jetzt andere Staaten.

Österreich und Preußen, das waren die Mächte, auf denen jetzt mit seiner ganzen Macht der nordische Koloss lastete. Gleichzeitig — mit der Notwendigkeit eines Naturereignisses — wird auch der deutschen politischen Welt die Idee überliefert, die die alten Wahrer des osteuropäischen Gleichgewichts sich zu eigen gemacht hatten: die Idee ukrainischer Selbständigkeit.

Ein erster Versuch der ukrainischen Irredentisten, für ihre alten Ideale den neuen im Aufsteigen begriffenen Stern des politischen Himmels von Europa — Preußen — zu gewinnen, fand am Ende des achtzehnten Jahrhunderts statt. Im April 1791 schickte der ukrainische Adel seinen Vertreter, den Adelsmarschall Grafen W. Kapnist nach Berlin, der in einer geheimen Audienz von dem Minister Hertzberg empfangen wurde. Der Delegierte schilderte die trostlose Lage seiner „zur äußersten Verzweiflung getriebenen“ Landsleute, und im Namen der letzteren fragte er den Minister, ob die Ukraine im Falle eines Krieges zwischen Preußen und Russland auf „die Protektion des Königs“ rechnen und ob er ihr helfen könne, „von der moskowitischen Tyrannei sich zu befreien?“ Die Lage der Ukrainer zu dieser Zeit der katharinischen „Reformen“ war in der Tat verzweifelt. Sie sahen sich plötzlich aller ihnen feierlich zugesagten, mit Blut und Eisen von ihren Großvätern erkämpften Rechte beraubt. Die ukrainischen Irredentisten warteten nur auf den geeignetsten Moment in den internationalen Beziehungen, um die Tyrannei auf eine oder andere Weise los zu werden. Dieser Moment kam sehr rasch. Zu der Zeit, als Graf Kapnist nach Berlin ging, befanden sich Österreich und Russland im Kriege mit der Türkei. Die Haltung Preußens, insbesondere aber Hertzbergs war zu Beginn des Krieges ausgesprochen russenfreundlich. Seine Pläne — mit Hilfe Russlands Danzig und Thorn für Preußen zu gewinnen, — gestatteten dem Minister nicht, mit dem Zarenreich offen zu brechen. Vielmehr hoffte er die wohlwollende Neutralität Preußens mit entsprechenden Konzessionen in Polen erkauft zu sehen. Aber die freundschaftlichen Absichten Hertzbergs zerschellten an dem Eigensinn Russlands, der die preußische Politik nach ganzentgegengesetzter Seite richtete. Am 02. 09. 1788 schloss Russland ein Abkommen mit Polen, dessen Ziel war, jeder Vergrößerung Preußens in Polen zuvorzukommen. Zudem warfen die unerwarteten Siege der Türkei den ganzen Hertzberg'schen Plan über den Haufen. Die Rückgabe Galiziens an Polen, das als Kompensation für die abzutretenden Städte Thorn und Danzig dienen sollte, und für dessen Verlust Österreich aus den eroberten türkischen Gebieten sich wieder entschädigen sollte, — wurde mit einem Male illusorisch. Als aber Russland noch dazu Dänemark gegen Schweden aufzuwiegeln begann, nahm die preußische Politik — vielleicht gegen den besten Willen ihrer Lenker — einen russenfeindlichen Charakter an. Im Jahre 1788 gelangte Hertzberg zu der Ansicht, dass er nicht mit gekreuzten Armen zusehen dürfe, „gue 1a Russie subjugue au même temps la Pologne, la Suêde et le Danemark, et que 1'éguilibre du nord ainsi renverse“. Einige Zeit später' schrieb König Friedrich Wilhelm II. von seiner Absicht, Russland den Krieg zu erklären, dem Sultan Selim III. und dass er nur auf das Erscheinen der englischen Flotte in der Ostsee warte, die seine Küstenprovinzen schützen sollte.

*) Vergl. E. F. Hertzberg, dessen Leben von J. W. Wolf, Berlin 1795. — Sr. Hertzberg, Oeuvres politiques. Berlin 1795. — Dr. B. Dembinski, Tajna misya Ukrainca w Berlinie 1791, Krakau 1896. (Die geheime Mission eines Ukrainers in Berlin 1791.)

In diesem Moment traf der ukrainische Delegierte bei dem preußischen Hofe ein. In demselben Moment, als Preußen „l'équilibre du nord“ zu retten im Begriff war, erschien dort der Vertreter der Nation, deren staatliche Unabhängigkeit seitens aller Staaten, die bisher den Kampf für die Aufrechterhaltung dieses Gleichgewichtes gegen Russland aufnahmen, immer zum Programm ihrer auswärtigen Politik gemacht worden war. Graf Kapnist wurde nicht abgewiesen, man empfing ihn gut und der fließend französisch sprechende, an den französischen Enzyklopädisten gebildete Delegierte machte auf den preußischen Minister den besten Eindruck. Aber Preußen war noch nicht zum Bruche mit Russland bereit, und so kam es, dass Graf Hertzberg die erbetene Hilfe zwar nicht ausdrücklich verweigerte, aber auch den Ukrainern keine bindenden Versprechungen machte. Andererseits wollte er wieder den Grafen Kapnist und die hinter ihm Stehenden nicht verstimmen. Er gab ihm zu verstehen, dass es von der Ukraine selber abhängen werde, was für eine Haltung ihr gegenüber Preußen beobachten würde. „Vorläufig ist der König im Frieden mit Russland, aber wenn es zum Kriege kommt, ist es Sache der Ukraine, das Notwendige zu tun, um die preußische Hilfe zu erlangen.“ Diese Antwort des Ministers wurde von Friedrich Wilhelm II., der in die ganze Angelegenheit eingehend eingeweiht war, vollkommen genehmigt. Zum Kriege kam es jetzt nicht und die ukrainische Revolution blieb auch aus: Mit dem siegreichen Russland allein seine Sache auszukämpfen, wäre nicht angebracht gewesen.

Kaum verdichteten sich damals bei der preußischen Regierung die ukrainischen Pläne, (falls solche überhaupt existierten) zur Idee der Errichtung eines ukrainischen Staates. Erstens befasste sich die preußische Politik zu dieser Zeit (Teilung Polens!) mit nichts weniger, als mit Errichtung neuer Staaten. Zweitens gab es zwischen Preußen und Russland keine unüberbrückbaren Gegensätze, keine strittigen, zu der Existenz des Staates notwendigen Provinzen um deren Besitz man anderswo jahrhundertelange Kämpfe geführt hatte. Die Feindschaft gegenüber Russland wurde Preußen erst 1791 gegen seinen Willen aufgezwungen. Sie betrachtete man eher als eine peinliche Eventualität, an die man nicht gerne sich gewöhnen wollte, als etwas Vorübergehendes. Nichtsdestoweniger bewies der Empfang des Grafen Kapnist bei Hertzberg ebenso wie die Erstattung eines speziellen Memorandums in dieser Sache an den König, sowie auch die Korrespondenz in dieser Angelegenheit zwischen dem preußischen Gesandten in Petersburg — von der Goltz — und seiner Regierung die ganze Aufmerksamkeit, die man in den preußischen Regierungskreisen der ukrainischen Sache zu widmen begann. Warum Kapnist sich gerade an Preußen und nicht an eine andere Macht wandte, liegt auf der Hand. Frankreich wurde durch die Revolutionsereignisse aus der europäischen Politik ausgeschaltet, Österreich durch Aufstand in Brabant, drohende Bewegung in Ungarn, Böhmen, Tirol und Italien gebunden und in den Krieg verwickelt. Als fast einziger Staat in Europa hatte Preußen die Bewegungsfreiheit, die eben die ukrainischen Separatisten auszunützen suchten.

Wir wissen nicht, welche konkreten Pläne und Vorschläge Kapnist nach Berlin mitgebracht hat, ebenso, was für ein Endziel des Unternehmens seinen Landsleuten vorschwebte, aber schon die ganze Lage der Dinge in der Ukraine, sowie auch die Stelle, an die sich die Ukrainer wandten (eine auswärtige Macht), sprechen dafür, dass dies Ziel nur die Wiederherstellung des ukrainischen Staates sein konnte. Wahrscheinlich wurde in den Absichten des ukrainischen Adels der katharinischen Zeit in ihren Plänen Preußen dieselbe Rolle zugedacht, die Schweden zur Zeit Mazeppas spielen sollte. Immerhin stellt die Tatsache, dass sich die Ukrainer an die neue, erst emporkommende Macht wandten, deren zukünftige Größe auch für sie noch ein Geheimnis sein musste, die Ukrainer, als Leute dar, die mit großem politischen Verständnis den Lauf der internationalen Beziehungen verfolgten, die Ukraine aber als ein Land, das durch die Gewaltpolitik der Regierung nicht in Ohnmacht sank, sondern stets wachsam auf jede Änderung der europäischen Konstellation achtete und in den Gang der Ereignisse sich einzumischen bereit war. Seit dieser Zeit ist die Idee der Wiederherstellung der Ukraine in der europäischen Politik nicht geschwunden.