a) Das Bündnis mit dem Moskowiterreich.

Die Lage der neuen Provinz des polnischen Reiches war nicht derart, dass sie sich ohne weiteres mit der vollendeten Tatsache abzufinden vermochte. Die noch lebendigen Traditionen ihrer Selbständigkeit, die erst seit kurzem verlorene Gleichberechtigung, ja sogar Vorherrschaft der Ukrainer in Litauen, endlich die Konfessionsunterschiede, machten ihnen eine Anpassung an vollkommen fremde Verhältnisse und Einrichtungen Polens fast unmöglich. Das damalige polnische Reich, das im Rausche seiner kulturellen und militärischen Überlegenheit über den Osten schwelgte, unterschätzte die Widerstandskraft des ukrainischen Volkes. Der Expansionsdrang der jungen Republik, die sich vor große historische Aufgaben gestellt sah, ließ ihr keine Zeit, sich zugleich den wenig erfreulichen inneren Zuständen des Reiches zu widmen. Man arbeitete rücksichtslos an der Zusammenschmelzung aller drei Völker zu einer großen polnischen Nation. Was die Ukraine anbetrifft, so musste dieser Versuch aus oben erwähnten Gründen misslingen. Schon in demselben Jahrhundert, — in dem die Union proklamiert wurde, begann in der Ukraine eine Reihe von Aufständen, die nur unter Aufbietung der großen Militärmacht der Regierung bezwungen werden konnten. Der letzte dieser Aufstände, unter der Führung des Hetman*) Bohdan Chmelnytzki (1648) bewirkte sogar den vollständigen Abfall der rebellischen Gebiete und einige Jahre später (1654) die Errichtung einer ukrainischen Republik, die in ständigen Kriegen auf drei Fronten gegen Polen, Großfürstentum Moskau und die Krim ihre Unabhängigkeit fast 100 Jahre zu behaupten wusste. Das Programm der Rebellen war anfangs keineswegs auf den Separatismus von der polnischen Republik gerichtet. Vielmehr gingen ihre Wünsche nicht hinaus über die Grenzen einer nationalen Gleichberechtigung der oberen Schichten des ukrainischen Volkes und seiner Religion und einer territorialen Autonomie des Landes. (Zborower Vertrag 20. August 1649.) Aber zu einer so radikalen Änderung seiner Verfassung war das damalige Polen nicht mehr fähig. Außerdem wuchs die Revolution über die Köpfe ihrer Führer hinaus. Ihr schlossen sich nicht nur der ukrainische Adel und das Zaporoger Heer**), sondern auch Hunderttausende der an die Scholle gebundenen Bauern an, die Chmelnytzki ihr eigenes Programm aufzwangen.

*) Das Wort „Hetman“ findet man oft in deutscher Sprache als Bezeichnung der Führer der russischen Kosaken, eine absolut falsche Anwendung. Dies Wort ist der russischen Sprache ganz fremd. Früher wurde es bei den Polen und Ukrainern gebraucht und bedeutet so viel als „Feldherr“. Später übertrug sich dieser Name auf die Oberhäupter der ukrainischen Republik, denen die höchste Militär- und Zivilgewalt oblag.


**) Die Zaporoger waren ein Militärorden, ähnlich den Malteserritter, die am unteren Dniepr wohnten und ebenso so wie die letzteren die Aufgabe hatten, einen beständigen Kampf gegen „die Ungläubigen“ — die Türken und Tataren zu führen.


Dieses Programm war: die Aufhebung der Leibeigenschaft und die Vertreibung der polnischen Großgrundbesitzer aus der Ukraine. Mit anderen Worten: die Liquidation der ganzen — seit der Zeit der Union — eifrig betriebenen Polonisationspolitik der Republik und der Verzicht auf die führende Rolle des polnischen Elementes in den südlichen Provinzen des Reiches. Unter diesen Umständen war jeder Ausgleich der Ukraine mit Polen nur ein Waffenstillstand. Die Macht der Ereignisse und die plötzlich sich entfaltende kolossale Kraft der Nation drängten die Führer der Ukraine auf den Weg des Kampfes für einen unabhängigen ukrainischen Staat. Bohdan Chmelnytzki nannte sich oft „Fürst“ und sein Land, — das sich seiner Ansicht nach „bis Lemberg, Cholm und Hadiatsch“ erstrecken sollte, — ein „Fürstentum“. Das Band mit Polen war zerrissen und im südlichen Osteuropa entstand plötzlich eine selbständige Macht, die zwar nicht rechtlich anerkannt war, aber ihren Halt in einer großen siegreichen Armee fand. Das Erscheinen eines neuen christlichen Reiches wurde von den Serben und Moldauern bemerkt, die ihre Abordnungen zu Chmelnytzki schickten. Die Türkei, Russland, Siebenbürgen, Moldau und Wallachei, sowie Schweden, wussten sofort die volle Bedeutung dieses neuen Machtfaktors im Osten Europas zu würdigen, der den politischen Plänen jedes dieser Staaten nur dienlich sein konnte. Die Ukraine wurde in den Wirrwarr der internationalen Konflikte des damaligen Osteuropa hineingezogen, die sie zum Zwecke der Erhaltung ihrer Unabhängigkeit auszunutzen suchte. Dieser Unabhängigkeit eines vor kurzem entstandenen, noch nicht konsolidierten Reiches fehlte jedoch ein festes Rückgrat. Dieses glaubte Chmelnytzki im Bündnis mit einem von jenen Staaten zu finden. Nach missglückten Versuchen mit der Türkei schloss der Hetman einen Bündnisvertrag mit dem moskowitischen Reich. Die russischen Gelehrten kennzeichneten diesen Vertrag als „Einverleibung Kleinrusslands“, indem sie diese, gegen den Willen des Hetmans und erst viel später eingetretene Tatsache als in seinem Plane liegend darstellten. Schon eine oberflächliche Analyse des Perejaslawer Vertrages vom 17. Januar 1651 zeigt die ganze Grundlosigkeit dieser Behauptung.

Der Perejaslawer Vertrag war — seiner rechtlichen Natur nach — eine freiwillige Vereinigung zweier unabhängigen Staaten auf der Grundlage der Realunion in der Bedeutung, welche die moderne Wissenschaft dem Worte beilegt, d. h., dass nur die physische Person des Fürsten den beiden Staaten gemeinsam war *). Die Ukraine vereinigte sich keineswegs mit dem Moskowiterreich zu einem Staat. Sie war nur, wie es in der Botschaft des Zaren an die Ukrainer heißt: „Unter Unsere Hohe Hand angenommen und verpflichtet sich, Uns, Unserem Sohne und seinen Nachfolgern zu dienen“, anerkannte also nur den moskowitischen Zaren als ihren Herrscher. Ein anderer Umstand betont diese Tatsache noch schärfer. Es wurde nämlich die Ukraine nach der „Vereinigung“ keinen gemeinsamen Staatsinstitutionen (wie etwa im gewissen Sinne Kroatien dem ungarischen Reichstag) untergeordnet. Sie bildete „die Länder des hetmanischen Regiments“ (im Unterschiede zu dem Territorium des zarischen Regiments) und die moskowitische Regierung führte den amtlichen Verkehr mit ihr durch den „Posolskij Prikas“ (das Auswärtige Amt), später durch das „Ausländische Kollegium“ (Innostrannaja Kollegija) also, in gleicher Weise wie mit einem fremden Staate. Laut dem Vertrage behielt die Ukraine ihre eigene Verwaltung, Gesetzgebung, Gerichtswesen, Heer und Kirche. Das Oberhaupt der Republik (auch alle übrigen Ämter) wurde für die ganze Lebenszeit frei gewählt und brauchte keine Bestätigung in seinem Amte seitens des Zaren. Was besonders interessant ist, war, dass der Ukraine sogar das Recht des diplomatischen Verkehrs mit anderen fremden Souveränen eingeräumt war, von dem sie — wie wir gleich sehen werden — einen sehr ausgiebigen Gebrauch machte. Die Befugnisse dieses Staates waren also viel umfangreicher, als die jetzigen Ungarns in der Doppelmonarchie. Dies Bündnis, das von seinem ukrainischen Schöpfer als etwas Vorübergehendes angesehen wurde, war nur von kurzer Dauer. Zuviel verschiedene Kräfte arbeiteten in verschiedener Richtung, um die unnatürliche Verbindung ohne Störung weiter bestehen zu lassen. Zu fest war die ukrainische Nation mit der abendländischen Kultur verwachsen und in ihr gefestigt, um sich leichten Herzens in die Arme einer asiatischen Despotie werfen zu können. Ganz im Gegenteil! In manchen Städten wurden die zur Beeidigung der Bevölkerung eingetroffenen Bojaren „mit Stöcken verjagt“. Der Metropolit von Kiew und der Archimandrit der Kiewo-Petscherska Lawra erklärten, das sie „lieber sterben, als dem Zaren den Eid leisten“ würden. Auch die Zaporoger verweigerten den Eid. Die ukrainische Geistlichkeit stellte die Religionsgemeinschaft mit Moskau ernstlich in Abrede. Nur als harte Notwendigkeit wurde der Vertrag mit Moskau aufgenommen, den man bei erster Gelegenheit loszuwerden strebte.

*) Die Realunion, im Gegensatz zur Personalunion, kommt zustande, wenn eine und dieselbe Person (bzw. Dynastie) zum Herrscher beider Staaten nicht zufälligerweise durch die gesonderten Thronfolgegesetze derselben berufen wird (wie es z. B. in England und Hannover 1714—1837 der Fall war), sondern vertragsmäßig durch einheitliches Thronfolgerecht in beiden Staaten dazu bestimmt ist. Die Gemeinschaft anderer Organe der Staatsgewalt kommt bei der Realunion häufig aber nicht notwendig hinzu.

Diese Gelegenheit bot sich bald. Die große Aufgabe, die sich die Ukraine stellte, war — wie gesagt — die Einigung aller ukrainischen Länder „bis Lemberg, Cholm und Hadiatsch“ unter der Herrschaft des Hetmans. Noch mehr! Das lange gemeinsame Leben im Großfürstentum Litauen führte die Ukrainer — als stärkeres Element — zur Erweiterung ihrer Ansprüche auch auf weißruthenische Gebiete Polens. Die Verwirklichung dieser Idee wurde aber durch Moskau verhindert, denn dieses beanspruchte die weißruthenischen Länder für sich selbst. Die Hälfte der ukrainischen jedoch wollte es gern Polen überlassen, um des anderen Teiles desto sicherer zu sein. Übrigens betrachtete Moskau die Ukraine als ein Sprungbrett für seine Angriffe gegen die Türkei und deshalb war ihm die Unabhängigkeit des Landes ein Dorn im Auge. Alle diese Umstände führten einen vollkommenen Bruch mit Moskau herbei. Es begann in der Ukraine eine Epoche der Bürgerkriege, an denen alle benachbarten Staaten teilnahmen; eine Epoche übermenschlicher Anstrengungen einer Nation, die, bald mit diesem, bald mit jenem Staate sich verbündend, ihren unbeugsamen Willen durchzusetzen trachtete — ein eigenes von niemandem abhängiges Reich zu behaupten. Inmitten dieser Wirren wurde auch der Perejaslawer Vertrag sehr oft — bald von der Ukraine, bald von Russland — gebrochen, indem erstere überhaupt von keinerlei Zusammenleben mit Moskau hören wollte, letzteres aber die Ukraine zu einer gewöhnlichen Provinz zu degradieren suchte. Immerhin wurde der Vertrag zweimal erneuert (17. 10. 1659 und 22. 08. 1728) und galt als Verfassung des unabhängigen ukrainischen Staates bis zum Tode des Hetmans Daniel Apostol (1734).

Die Bedeutung dieses Vertrages für die Geschichte der ukrainischen Staatsidee liegt darin, dass er der erste Pakt internationaler Natur war, den die Ukraine — seit dem Verlust ihrer staatlichen Selbständigkeit — mit einem anderen Staate schloss. Dies war kein Ausgleich (wie z. B. der Zborower Vertrag) zwischen dem „Zaporogischen Heere S. M. des Königs“ und seiner Regierung, sondern ein diplomatisches Traktat, zu dem zwei unabhängige Reiche ihren souveränen Willen gegeben hatten. Die „Perejaslawer Artikel“ wurden zur historischen Tradition, an die sich manche späteren Freiheitsbewegungen in der Ukraine knüpften.