1. Entwicklung bis zum Untergang des selbständigen ruthenischen Staates.

Die Idee eines ukrainischen Staates ist keineswegs eine neue, ist nicht etwa erst in modernen Zeiten für vorübergehende, politische Ziele dieses oder jenes Staates künstlich konstruiert. Ihr Entstehen fällt mit der Morgenröte der europäischen Geschichte zusammen und ihre Existenzberechtigung ist begründet durch die geographische Lage der Ukraine, die in dieser Hinsicht ein abgesondertes Gebiet längst des Dniepr-Stroms darstellt, sowie auch durch die politischen Verhältnisse des Ostens und (seit Ende des XVIII. Jahrhunderts) des gesamten Europas. Trotz der wahrhaft schrecklichen Geschichte des Landes verschwand der Gedanke einer selbständigen Ukraine weder im Lande selbst, noch in der politischen Welt unseres Erdteils.

Der Staatendrang des ukrainischen Volkes offenbarte sich in den verschiedensten Formen: Zuerst in Staatenbildungen, wie Fürstentum Kiew, Königreich Galizien und Lodomerien (bis zur Hälfte des XIV. Jahrhunderts) und der ukrainischen Republik (Hetmanat 1654—1734), ferner in der Form einer autonomen Provinz eines fremden Staates (1734—1781), bald wieder in blutigen, periodisch sich wiederholenden Aufständen gegen jeden Staat, dem die Ukrainer zwangsweise unterjocht wurden (Kämpfe gegen Litauen, Polen und Russland). Als durch diese Kämpfe das Volk vollkommen erschöpft und fast verblutet war, das Land ebenfalls ähnlich Deutschland nach dem 30jährigen Kriege — ganz verwüstet dalag, suchte sich die nicht ganz erloschene Idee der ukrainischen Selbständigkeit neue Wege, um sich zu behaupten, Wege geheimer Gesellschaften und unterirdischer Propaganda. Zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts (1905), als sich für Russland die Möglichkeit eines legalen Kampfes der Nationalitäten zu eröffnen schien, nahm die Bewegung des ukrainischen Volkes für seinen eigenen Staat die gleichen Formen an, die den Nationalitätenkampf in Westeuropa nach 1848 kennzeichnet: Volksaufklärung, Organisation und parlamentarische Tätigkeit. In allerletzter Zeit, als das kommende große Jahr seine Schatten schon voraus warf, verließ die ukrainische Bewegung abermals die Wege des legalen Kampfes und trat mit ihren staatsrechtlichen Idealen unverhüllt und offen auf. Die Formen dieses Kampfes des ukrainischen Volkes und seine staatliche Existenz änderten sich im Laufe der Zeiten mit dem Wechsel der politischen Verhältnisse. Ebenso wechselten (wie übrigens überall) diejenigen Gesellschaftsklassen, die als Träger und Vorkämpfer der staatlichen Bestrebungen der Nation auftraten, aber das Ziel dieser Bestrebungen blieb dasselbe. Es war gerichtet auf die Erfüllung eines mehr oder weniger empfundenen Bedürfnisses einer großen Nation, die selbständige Staatenexistenz zu erringen.


Schon im zehnten Jahrhundert unserer Ära vereinigten sich verschiedene ostslawische Stämme, die auf beiden Seiten des Dniepr-Stroms angesiedelt waren, zu einem ruthenischen Staat mit der Hauptstadt Kiew. Die gemeinsame Gefahr des durch verschiedene Nomadenhorden beunruhigten Ostens verschmolz diese Länder zu einem Staat, unter der Führung fachmännischer Staatengründer — der normannischen Fürsten. Dieser Staat, der sich aus verschiedenen halb unabhängigen Teilfürstentümern, unter der Oberherrschaft des Großfürsten von Kiew, zusammensetzte, erlangte seine Blüte unter Wladimir dem Großen. Dieser Fürst, der die Nomaden von den Grenzen seines Reiches fernzuhalten verstand, schloss seine Völker noch enger zusammen durch das Band einer gemeinsamen Kultur und Religion, die die damaligen Ruthenen*) von Byzanz erhielten, und schuf aus ihnen ein einheitliches Ganzes. Die lebhaften Handelspolitischen Beziehungen Kiews zur westeuropäischen Welt entzogen das Reich Wladimirs dem einseitigen Einfluss der byzantinischen Kultur und ebneten zuerst die Wege von Kiew nach dem Westen und nach Rom. Dies bestimmte später die Richtung der ganzen kulturgeschichtlichen Entwicklung der Ukraine und führten zum Emporblühen einer mannigfaltigen westeuropäischen Kultur in ihren Ländern. Der Widerspruch der äußeren Expansion des Reiches und seiner inneren Konsolidierung führte bald zu einer beträchtlichen Schwächung der ganzen Schöpfung Wladimirs.

*) Der Name „Ukraine“, „ukrainisch“ wurde, obwohl im XII. Jahrhundert schon entstanden, erst vom XVII. Jahrhundert ab als Bezeichnung des Ruthenischen Volkes allgemein verbreitet: ein Namenswechsel, der in der Geschichte nicht vereinzelt dasteht (vergl. Das Beispiel Rumäniens, das früher Moldau bzw. Walachei hieß). Der Name „Kleinrussen“, den die Moskoviter dem ukrainischen Volk geben, ist künstlich erfunden. Allerdings ist dieser ganze Namensstreit und der damit verknüpfte über die sprachliche und völkische Unabhängigkeit der Ukrainer von den Russen für die Berechtigung staatsrechtlicher Ansprüche der ersteren von keiner Bedeutung. Die Zugehörigkeit zu den verschiedenen Nationen hindert ja auch die schweizerischen Deutschen, Franzosen und Italiener nicht, einen Staat zu bilden. Andererseits konnte die nahe Verwandtschaft der Deutschen und Holländer, die bis vor nicht langer Zeit in einem Namen sich äußerte (Bis etwa 1600 galt die niederländische Sprache als deutsch – „dietsch“. Im Englischen bedeutet noch „Dutch“ holländisch) es nicht verhindern, dass diese zwei Stämme desselben Volkes in zwei Staaten sich organisieren.

Das Emporkommen der nordischen (russischen) Fürstentümer, die schon damals die politische Hegemonie über Kiew an sich zu reißen suchten (die Zertrümmerung Kiews durch den russischen Fürsten Andrej 1169) — versetzte dem Kiew'schen Staate eine unheilbare Wunde, an der er unter dem Druck der tatarischen Invasion — langsam zusammenbrechen musste. Nach der Eroberung Kiews durch die Tataren 1240 verwirklichte sich die ukrainische Staatsidee in der Form des galizisch-wolhynischen Reiches. Dieser Staat, dessen Fürsten eine lebhafte Teilnahme an der Geschichte des Abendlandes zeigten und einst lange Zeit um den österreichischen Thron zu kämpfen hatten, ging durch dieselbe Ursache zu Grunde, wie das Reich Wladimirs. Die tatarische Invasion vernichtete auch die Selbständigkeit dieses Reiches, wie so mancher anderen Länder. Das ukrainische Territorium wurde teilweise durch Polen (Gaiizien), teilweise durch Litauen (Wolhynien und Kiew) in Besitz genommen. In Litauen errang sich das kulturell höherstehende ukrainische Element binnen kurzem die Vormachtstellung. Die ruthenische (bzw. weiß-ruthenische) Sprache herrschte am Hofe des litauischen Fürsten, im Privatleben der Magnaten, sogar in der litauischen Gesetzgebung. Es unterliegt keinem Zweifel, dass der kleinere, auf niedrigerer Kulturstufe stehende litauische Stamm mit der Zeit die Hegemonie im Staate dem ukrainischen Volke hätte überlassen müssen, wenn nicht harte Notwendigkeit es zur Bereinigung mit der polnischen Republik gezwungen hätte. Am 15. August 1381 vereinigte Jagiello der inzwischen polnischer König geworden war — seine litauischen (auch ukrainischen) Länder mit den polnischen. Er begann ein verzweifelter Kampf um die Vormachtstellung im Reiche zwischen dem (katholischen) polnisch-litauischen und dem (griechischen) ukrainischen Element, der in der Schlacht bei Wilkomir (0l. 09. 1435) zu Ungunsten der letzteren entschieden wurde. Hierbei fand fast der ganze ukrainische Adel seinen Untergang. So wurden die ukrainischen staatsrechtlichen Bestrebungen in Litauen im Keime erstickt. Nach dieser Schlacht war eine Einverleibung der ukrainischen Länder in Polen nur noch eine Formalität. So kam es zu dem angeblich freiwilligen Akt der Lubliner Union 1569, die diese drei Länder, Polen, Litauen und die Ukraine — unter der Hegemonie des ersteren — vereinigte. Eine politische Kombination, die nicht einmal volle hundert Jahre zu leben vermochte. Auf den Trümmern des ukrainischen Staatsgedankens wurde diese Kombination aufgebaut. Das Wiedererwachen dieses Gedankens 80 Jahre später ließ sie zusammenbrechen.