Konfisziert.

Das hatte ein Abflauen des vor kurzem noch so regen nationalen Lebens unter den Ukrainern Galiziens zur Folge und führte zu den Schwankungen in dem jungen, noch nicht erstarkten Nationalgefühl der galizischen Ruthenen. Aus der Psychologie der Verzweiflung an der Möglichkeit eines selbständigen Emporkommens schießen zum Schluss die Keime der „russophilen“ Strömung unter den Ruthenen empor. Die weniger widerstandsfähigen Elemente verließen unter dem Einfluss der Lockungen von der russisch-panslawistischen Seite das ihrer Meinung nach schon verlorene Banner und suchten Anschluss an die russische Kultur, die schon herausgebildet war und auf festen Grundlagen ruhte. Andere charakterschwache Elemente dagegen gingen in das polnische Lager über.

Eben aus diesem Grunde war das Zuströmen der frischen ukrainischen Kräfte, die infolge der seit 1863 einsetzenden Drangsalierung der ukrainischen Bewegung in Russland ihre Tätigkeit auf den galizischen Boden, in galizische Zeitschriften und Institutionen verlegten, für das galizische Kulturleben von einer nicht hoch genug anzuschlagenden Bedeutung. Dieses Zuströmen hat den ukrainischen Elementen, die sich hauptsächlich aus der jungen Generation rekrutierten und die dem im Jahre 1848 proklamierten Programm treu geblieben waren, im kritischen Moment eine Stütze verliehen und ihnen geholfen, sich moralisch aufzurichten und im politischen Leben Galiziens zur Geltung zu kommen. Von 1880 angefangen ist diese „volkstümliche“ — wie sie genannt wurde — ukrainische Richtung, die trotz der tiefgehenden Unterschiede, die das Leben der Österreichischen und der russischen Ukraine aufwies, enge Beziehungen zur ukrainischen Bewegung in Russland unterhielt, zur führenden Rolle in Galizien gelangt und hat sich einen großen Einfluss auf die Volksmassen erworben — was besonders in Bezug auf den linken Flügel dieser Richtung, die im Jahre 1890 entstandene radikale Partei, gilt. Anderseits verdankt es die ukrainische Bewegung in Russland diesem engen Kontakt, dass sie galizische Hilfsquellen zu ihrer eigenen Entwicklung heranziehen kann. Ukrainische Schriftsteller und Publizisten beteiligen sich eifrig an den galizischen Publikationen, an der Organisierung von kulturellen und Bildungsanstalten. Den Zeitraum 1880 bis 1905, also ein Vierteljahrhundert lang, erscheint Galizien als ein sui generis geistiges Piemont der ukrainischen Bewegung. Die galizischen Zeitschriften wurden zu einer gemeinsamen politischen Tribüne, wo die grundlegenden Fragen, die im Leben der großen russischen Ukraine und der kleinen österreichischen auftauchten, erörtert und gelöst wurden. In den galizischen Institutionen wurde mit vereinten Kräften der russischen und der österreichischen Ukraine das gemeinsame national-kulturelle Vermögen zusammengescharrt, wodurch die Voraussetzungen für die Weiterentwicklung der ukrainischen Kultur geschaffen wurden.


Es ist begreiflich, dass die ganze Bewegung, zum größten Teil über die Grenzen Russlands verbannt, einen unversöhnlichen Charakter der zentralistischen, prohibitorischen Politik des russischen Regimes gegenüber annehmen musste. Anderseits aber wendet sich die Bewegung mit einer großen Intransigenz gegen die polnische Schlachzizenherrschaft in Galizien. Es braucht nicht besonders hervorgehoben zu werden, dass die äußerst feindliche Haltung der russischen Regierung all dem gegenüber, was auf den ukrainischen Separatismus deutete — in dem weiten Sinn des Wortes, den man diesem Termin in Russland beizulegen pflegte — der ukrainischen Bewegung jeden Weg zum Opportunismus verschloss. In Österreich stand die polnische Präponderanz als ein unüberbrückbares Hindernis zwischen den Ukrainern und der Zentralregierung: jedes Kompromiss mit der Regierung hatte die Zustimmung der polnischen Führer Galiziens zur Voraussetzung, was als eine Kapitulation der ukrainischen Bewegung vor denselben gedeutet wurde. Wenn sich unter den galizischen Politikern jemand fand, der die Bereitwilligkeit bekundete, in dieser Richtung allzugroße Konzessionen zu machen, so rief das unvermeidlich in den galizischen Volksmassen und unter den radikal gesinnten russischen Ukrainern eine laute Unzufriedenheit hervor. So war es in den 1890er Jahren, als die Führer der ukrainischen „Nationalpartei“ ein Kompromiss mit der Regierung schlossen. Damals erhob sich unter den russischen sowie den österreichischen Ukrainern eine entschiedene Opposition, wodurch die Urheber des Kompromisses selbst gezwungen wurden, dasselbe rückgängig zu machen. Eine enge Fühlungnahme der beiden Teile der Ukrainer in diesen Jahrzehnten und die gegenseitige Kontrolle in den Angelegenheiten des politischen und öffentlichen Lebens hat sich für das nationale Leben in einem hohen Grad bewährt.

Der kulturelle Fortschritt in der russischen Ukraine ist aber allen Drangsalierungen zum Trotz sehr weit gediehen. Auf diese Jahrzehnte zum Beispiel entfällt ein bemerkenswerter Aufschwung des ukrainischen Theaters, welches sich eines ungewöhnlichen Zuspruches in allen Schichten des ukrainischen Volkes erfreut, seinen Stil und seine Technik zu einer Vollkommenheit bringt und der Entwicklung des nationalen Selbstbewusstseins hohe Dienste leistet. Die ukrainische schöne Literatur hat eine ansehnliche Reihe talentvoller und vielseitiger Schriftsteller hervorgebracht, von denen das Niveau des literarischen Schaffens bedeutend gehoben wurde. Endlich ist es gelungen, das Verbot, das über der für das Volk bestimmten populärwissenschaftlichen Literatur lastete, tatsächlich aufzuheben und der „Petersburger Wohltätigkeitsverein“ schafft in einem kurzen Zeitraum eine ansehnliche Anzahl von Publikationen dieser Art. Die Tagespresse und die wissenschaftliche Literatur blieben allerdings weiterhin eine verbotene Frucht — die Abschaffung dieses Verbotes hat erst die neue Befreiungsepoche, die nach dem Russisch Japanischen Krieg hereingebrochen ist, gebracht.

Die stürmischen Jahre 1904 bis 1906 haben alle an die Oberfläche gebracht, die in den Abgründen der russischen Reaktion schmachteten. Das Hauptinteresse der Bauernmassen — dieser Grundlage des ukrainischen Volkes — bildete die Agrarreform; für die Intelligenz war die Lösung der Verfassungsfragen von vitaler Wichtigkeit. Die ukrainische Intelligenz, welche gemeinsam mit den Wortführern anderer enterbten Kationen auftrat, brachte ihre nationalen Forderungen vor, indem sie vor allem die Aufhebung der Verbote, die das ukrainische Wort knebelten, verlangte. Diese Frage wurde vom Ministerkomitee erwogen und dasselbe ist zur Überzeugung gelangt, dass die Verbote, die auf der ukrainischen Bewegung lasten, und der Schade, der der Aufklärung der ukrainischen Massen durch Unterdrückung der Literatur in ihrer Muttersprache angerichtet wird, sich tatsächlich durch keine Rücksichten rechtfertigen lassen. Die Universitäten Südrusslands haben sich auf eine Anfrage des Ministerkomitees hin in demselben Sinn geäußert und die Petersburger Akademie der Wissenschaften hat sich angelegen sein lassen, in einer ausführlichen Denkschrift, die sie dem Ministerkomitee unterbreitete, die geläufige Auffassung, als ob die russische (das heißt großrussische) Literatursprache eine allgemein russische, den Großrussen und den Ukrainern („Kleinrussen“) im gleichen Masse verständliche Sprache sei, so dass die Ukrainer keineswegs notwendig haben, die Literatur in ihrer Muttersprache zu schaffen, als grundsätzlich falsch zu widerlegen. In der Denkschrift wurde positiv betont, dass die ukrainische Literatur eine natürliche und daher notwendige Erscheinung ist. Dessen ungeachtet ist eine Aufhebung der auf dem ukrainischen Wort lastenden Verbote keineswegs erfolgt. Das geschah erst mit der Erlassung der allgemeinen Pressordnung im Jahre 1906. Durch dieses Gesetz wurden alle speziellen Einschränkungen für einzelne Sprachen, somit auch für die ukrainische, aufgehoben.

Das Ukrainertum wurde grundsätzlich aus den Fesseln befreit, das Bestehen von ukrainischen Zeitschriften, Vereinen und sonstigen Organisationen ist möglich geworden. Die Verfassung des Jahres 1906, trotzdem sie viele Einschränkungen unbehoben ließ, machte es der ukrainischen Bevölkerung möglich, ihre Vertreter zu wählen, so dass die erste und dann auch die zweite Reichsduma ansehnliche ukrainische Fraktionen von Bauernabgeordneten aufwiesen, die übrigens infolge der Kurzlebigkeit beider Dumas keine Zeit hatten, etwas Bedeutendes zu leisten.

Es schien, als ob sich vor der ukrainischen Bewegung in Russland recht erfreuliche Aussichten breiteten. Durch die freiheitliche Bewegung in Russland wurde auch in Österreich eine Bewegung für die Einführung des allgemeinen Wahlrechts gefördert. Im ukrainischen Leben Galiziens ging ein ungewöhnlicher Aufschwung wie nie zuvor vor sich. Es erwachten Hoffnungen, dass die große Ukraine, von den sie fesselnden Banden in Russland befreit, eine Stoßkraft auslösen werde, die auch die übrigen ukrainischen Lande in der Richtung einer Emanzipation beeinflussen wird. Diese Hoffnungen sind nicht in Erfüllung gegangen: die Reaktion war den Hoffnungen und den Versprechungen, welche den Völkern Russlands in den Jahren 1905 und 1906 gegeben wurden, auf den Fersen, und die Ukrainer haben den Schlag besonders schwer verspürt.

Überaus schwer hat sie vor allem die Abänderung der Wahlordnung getroffen, durch welche die Bauern vom Wahlrecht tatsächlich ausgeschlossen wurden. Die ukrainische Bevölkerung hat auf diese Weise ihre Vertretung in der Reichsduma eingebüßt. Die angekündigten Freiheiten — das Koalitionsrecht und die Pressfreiheit — sind in Wirklichkeit ausgeblieben, und das ukrainische Buch, die ukrainische Zeitung, die ukrainischen Vereine werden dabei besonders streng verfolgt.

Vom Senat und dann durch das bekannte Zirkular Stolypins betreffend „Vereine von anderssprachigen Nationen“ wurde wieder der alte Grundsatz der „Einheit und Unteilbarkeit des russischen Volkes“ verkündet und jede Betätigung im ukrainischen nationalen Sinn, sei es auch eine rein kulturelle, als ein „schädlicher Separatismus“ verurteilt. Es ist ein merkwürdiger Widerspruch, wenn die Ukrainer, die angeblich ein Teil des unteilbaren russischen Volkes sind, des Rechtes auf die Pflege irgendwelcher Eigentümlichkeiten ihres Volkes für verlustig erklärt werden und zugleich mit den fremdsprachigen Nationen des russischen Reiches in eine Reihe gestellt, verschiedene Einschränkungen zum Vorteil des „russischen“ Volkes über sich ergehen lassen sollen. Die ukrainischen Vereine, die in vorangegangenen Jahren entstanden waren, wurden fast durchwegs aufgelöst und die Genehmigung zur Eröffnung von neuen Vereinen wurde nicht erteilt. Über die Presse, insbesondere über die Zeitschriften, ergingen unerhörte administrative Maßregelungen, so zum Beispiel, dass der ukrainischen Presse de facto fast jede Möglichkeit, auf das flache Land zu den Bauernlesezirkeln zu gelangen, abgeschnitten wurde. Alles, was die leiseste Sympathie mit dem Ukrainertum andeutete, wurde als ein Verbrechen verpönt und die rücksichtslosesten Repressalien über die derartiger Sympathien beschuldigten Staatsbeamten, Angestellten, Studierenden, überhaupt über alle, denen etwas anzuhaben wäre, verhängt. Das Ukrainertum in Russland musste sich in seine alten Positionen zurückziehen.

Unter dem Einfluss der erlebten Enttäuschungen erwachte in einem Teil der ukrainischen Gesellschaft in Russland die Idee der ukrainischen staatlichen Unabhängigkeit wieder. Die Idee der „selbständigen Ukraine“ tauchte in den heimlichen Vereinigungen der ukrainischen Jugend schon in den letzten Jahren des 19. Jahrhunderts auf und wird nach den erlebten Schicksalsschlägen mit erneuter Energie aufgestellt, wiederum hauptsächlich von den jüngeren Kreisen der ukrainischen Intelligenz, die darin eine radikale Lösung der schweren Lage erblickten. Den älteren Kreisen der ukrainischen Intellektuellen erschien jedoch diese Idee nach wie vor unter den bestehenden Verhältnissen als eine Utopie, da deren Verwirklichung einen grandiosen internationalen Kataklismus zur Voraussetzung hatte. Diesen realpolitisch denkenden Kreisen erschien es als eine leichter zu verwirklichende Aufgabe, auf der bestehenden internationalen Basis nach einer weitgehenden Autonomie der ukrainischen Gebiete in Russland als eines autonomen Landes in dem Rahmen der bestehenden Staatsorganisation zu streben. Doch auch dieser „autonomistische“ Gedanke stieß in Russland auf große Schwierigkeiten — nicht nur bei der Regierung und den nationalistischen russischen Kreisen. Auch in den russischen fortschrittlichen Parteien, zu denen die ukrainische Intelligenz ihrer Weltanschauung nach in engen Beziehungen stand, fand diese Idee keinen Beifall. Nur dank den großen Anstrengungen und einem bedeutenden Aufschwung des Ukrainertums in Russland in den letzten Jahren gelang es bei den russischen fortschrittlichen Parteien in den letzten Jahren (1913 und 1914) eine gewisse Änderung in der Hinsicht herbeizuführen. Diese fortschrittlichen Kreise haben wenigstens gewisse ukrainische Forderungen als gerechtfertigt und ihre Berücksichtigung als dem russischen Staatsinteresse entsprechend anerkannt. Einen solchen Charakter hatten die bekannten Auftritte der sogenannten Kadettenpartei, der Arbeitspartei („trudowyky“) und der Sozialdemokraten in der Session der Reichsduma 1913/14.

Ebenso macht sich bei den galizischen Ukrainern seit dem Jahre 1900 eine starke Bestrebung nach dem Erlangen einer nationalen Autonomie Ostgaliziens in dem Rahmen des österreichischen Staates bemerkbar, diese nach einer „Teilung des Landes“ in zwei Kronländer: 1. „Königreich Galizien und Lodomerien“ (ukrainisch) und 2. „Großfürstentum Krakau mit den Fürstentümern Zator und Auschwitz“ (polnisch). Unter anderem stützen die österreichischen Ukrainer dieses Postulat auf die geschichtliche Tatsache, dass das sogenannte Ostgalizien („Königreich Galizien und Lodomerien“) aus einem anderen staatsrechtlichen Titel und in einer anderen Zeit als das sogenannte Westgalizien („Großfürstentum Krakau“ u. s. w.) von Österreich annektiert wurde, wie auch dass bis zum Jahre 1809 beide Landesteile als zwei besondere Kronländer bestanden. Selbst die parlamentarische Wahlreform, die zirka 30 ukrainische (gegen 76 polnische) Abgeordnete in das „Volksparlament“ brachte, und nachher die galizische Landtagswahlreform des Jahres 1914, die nach längeren Verhandlungen den Ukrainern 27 Prozent der Mandate im galizischen Landtag gab, konnten diese Bestrebungen nach der nationalen Autonomie nicht abschwächen. Die polnischen politischen Kreise widersetzten sich ohne Unterschied dieser Bestrebung der galizischen Ruthenen aufs entschiedenste.

Bei diesem Stande der Dinge ist — früher als man es vermuten konnte — der ganz Europa umbrausende Sturm hereingebrochen, von welchem so viele Völkerschaften eine radikale Änderung ihrer Lage erhoffen und der so wichtige Probleme lösen soll. Auch die Ukrainer haben an den Weltkrieg große Hoffnungen geknüpft. Die nahe Zukunft wird uns eine Entscheidung bringen. Jeder Kenner der osteuropäischen Verhältnisse muss aber im Voraus sagen, dass — wenn die ukrainische Frage durch diesen Weltkrieg nicht gelöst werden wird — dieselbe eine Quelle neuer Erschütterungen in Osteuropa bilden wird. Das ukrainische Problem kann weder aus der Welt geschafft noch totgeschwiegen werden. Es hat sich derart zugespitzt und ist bereits in ein Stadium getreten, wo es nur durch eine Politik des positiven Schaffens gelöst werden kann.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Die ukrainische Frage in historischer Entwicklung