Die ukrainische Wiedergeburt im 16. und 17. Jahrhundert. — Das Kosakentum. — Der Kampf gegen das polnische Regime und der Aufstand des Chmelnyzkyj.

Um die Mitte des 16. Jahrhunderts und in der zweiten Hälfte desselben ist im ukrainischen Leben eine große Niedergeschlagenheit eingetreten. Die höheren Klassen, jeder Anteilnahme an dem politischen Leben beraubt, sahen sich gezwungen, sich mit der herrschenden Nation zu assimilieren. Das ukrainische Bürgertum war mannigfachen Drangsalierungen ausgesetzt. Die Bauern haben ihr Recht der Freizügigkeit und des Grundbesitzes eingebüßt und sind zu Leibeigenen geworden. Sie wurden für die Fronarbeiten immer mehr in Anspruch genommen und sind dadurch zur Rolle des Landgutsinventars herabgesunken. Die orthodoxe Kirche — die in damaligen Verhältnissen die Nation vertrat — ist in eine Abhängigkeit von der ihr und dem Volke abgeneigten oder gar feindselig gesinnten Regierung geraten und befand sich infolgedessen in einem krisenhaften Zustand der Auflösung. Bis dahin ging dieser Prozess in den Grenzen des Großfürstentums Litauen in einem langsameren Tempo vor sich; von der Mitte des 16. Jahrhunderts angefangen greift der Einfluss der polnischen Einrichtungen immer heftiger um sich. Im Jahre 1569 aber wurden fast alle ukrainischen Lande, die dem Großfürstentum Litauen angehörten, von demselben losgerissen und der polnischen Republik unmittelbar eingegliedert, und zwar: Wolhynien, der östliche Teil von Podolien, Podlassje (das Gebiet am westlichen Bug) und das Kyjiwer Gebiet. Der polnische Adel siedelt sich in den neuerworbenen Gebieten massenhaft an. Die höheren Schichten des ukrainischen Volkes unterliegen der Polonisierung und das ukrainische Nationalleben löst sich langsam auf.

Der tiefgreifende Verfall hat aber in dem ukrainischen Volke eine Reaktion hervorgerufen und die Bestrebung zur nationalen Wiedergeburt erweckt. Diese Bewegung setzt zuerst im ukrainischen Bürgertum der Westukraine ein, das, in seinen „Brüderschaften“ vereinigt, eine moralische Wiedergeburt des Volkes fördert, die Abschaffung der in der Kirche Platz greifenden Missstände anstrebt, die Volksaufklärung und die Aufrichtung einer nationalen Organisation unterstützt. An der Spitze dieser Bewegung schreitet die Brüderschaft von Lemberg, die, um das Jahr 1540 und zum zweiten Mal im Jahre 1586 reorganisiert, unter ein besonderes Protektorat des Konstantinopeler Patriarchen gestellt wurde.


Aber bei den Zuständen, die in der Westukraine Platz gegriffen haben, wo nämlich der nationalukrainische Adel zugrunde gerichtet wurde und die Union mit der römisch-katholischen Kirche, welche von einem Teil des Episkopats angenommen wurde (1596), eine große Verwirrung brachte, konnte diese Bewegung, die eine kirchliche und nationale Regeneration anstrebte, keinen festen Fuß fassen. Es ist dieser Bewegung die Unterstützung und der Zufluchtsort sehr zustatten gekommen, die sie in dem gefährlichsten Moment in der Ostukraine bei dem neuen sozialpolitischen Faktor, der Ende des 16. und Anfang des 17. Jahrhunderts auftauchte — wir meinen das ukrainische Kosakentum — gefunden hatte.

Mit dem den türkisch-tatarischen Sprachen entlehnten Wort „Kosak“ bezeichnete man Leute, die in der Steppe Jagd, Fischerei und das Freibeutertum trieben. Dieser Beruf ist in der Ostukraine besonders nach den von den Krimtataren Ende des 16. Jahrhunderts angerichteten Verheerungen, die einen ansehnlichen Teil des Gebietes am unteren Lauf des Dnieprstromes in eine Wüste verwandelt hatten, zur Blüte gelangt. Diese ukrainische Miliz, die fortwährend an der Zahl wuchs, hat in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts eine eigene Kriegerrepublik in der Steppe gebildet, zu deren Zentrum die sogenannte „Ssitsch“ geworden ist, auf einer unzugänglichen, versumpften Insel unterhalb der Dnieprstromschnellen, „Porohy“ genannt, gelegen, daher der Name Saporoger-Ssitsch“ (Saporoger = hinter den „Porohy“)Von diesem Zufluchtsort aus verbreiteten die „Saporoger“ ihre Einflusssphäre allmählich auf die ukrainische Bevölkerung am Unterlauf des Dniepr und sind im Laufe der Zeit aus einer rein militärischen Macht zu einem hochwichtigen politischen Faktor geworden.

Indem die Kosaken ihre Immunität, das heißt die Befreiung von jeder anderen Gerichtsbarkeit und Staatsgewalt sowie von Steuern und Dienstleistungen in Bezug auf alle diejenigen, die sich der Gewalt und der Jurisdiktion des Saporoger-Heeres unterwerfen, proklamieren, gewinnen sie eine ungeheure Anziehungskraft über die Volksmassen, die eben um das Ende des 16. Jahrhunderts aus den westlichen und nördlichen Gebieten der Ukraine nach Osten Zuströmen, um der immer schwerer werdenden Last der Leibeigenschaft zu entkommen. Das Kosakentum erachtet sich als eine unabhängige politische Macht, verhandelt mit den Nachbarstaaten, bietet ihnen seinen Beistand und seine Dienste an und tritt gleichzeitig als Vertreter der nationalen Interessen des ukrainischen Volkes auf. In dieser Eigenschaft treten die Kosaken in enge Beziehungen zu den Überresten des seiner Nation treu gebliebenen Adels und zu der Hierarchie der orthodoxen Kirche. Unter dem Schutz der Kosaken wurde in den Jahren 1610 bis 1620 in Kyjiw die Hierarchie der orthodoxen Kirche wiedereingesetzt, es werden daselbst Kultur- und Bildungsanstalten errichtet, hier beginnt eine rege kulturell-nationale Bewegung, die ihr Zentrum aus Galizien nach Kyjiw verlegt.

Schon vom letzten Dezennium des 16. Jahrhunderts angefangen setzten wiederholte Zusammenstöße des Kosakentums mit der polnischen Legierung ein. In diesen Zusammenstößen neigt sich das Glück bald auf die eine, bald auf die andere Seite und sie enden mitunter mit einem Misserfolg der Kosaken und mit den Repressalien der polnischen Regierungen gegen alle, die an der Bewegung teilgenommen haben. Diese Misserfolge und die darauffolgenden Repressalien hatten unter anderem eine massenhafte Auswanderung der ukrainischen Kosaken und Bauern zur Folge, die sich in die Leibeigenschaft, in die man sie zwang, nicht fügen wollten und über die damalige moskowitische Grenze nach den öden Gegenden am Donez und Don zogen, wo im Laufe des 17. Jahrhunderts neue ukrainische Ansiedelungen, die sogenannte „Slobidska Ukraina“ — auf dem Gebiet der heutigen Gouvernements Charkiw, Woronez und Kursk — entsteht. Dessen ungeachtet nimmt die soziale und politische Gärung in der Ostukraine an Intensität zu und jeder neue Zusammenstoß legt immer größere Energie des ukrainischen Volkes an den Tag, bis endlich eine andauernde Periode der Repressalien (1638 bis 1647) zum Aufstand des ukrainischen Volkes im Jahre 1648 unter Anführung des Bohdan Chmelnyzkyj führte.

Der Aufstand hatte seinen Ausgangspunkt in den Zwistigkeiten zwischen den Kosaken und der polnischen Regierung gehabt, die anfangs über das gewöhnliche Maß der häufigen Vorkommnisse dieser Art nicht hinausgingen. Allein durch die Umstände verschiedenartiger Natur begünstigt und dank dem Talent des Anführers, hat derselbe wider Erwarten einen ungewöhnlichen Umfang angenommen. Die polnischen Armeen wurden in mehreren aufeinander folgenden Schlachten besiegt und vernichtet; der Aufstand breitete sich über die ganze Ukraine, bis an die am äußersten Westen liegenden Gebiete aus. Die Forderungen der Aufständischen gingen bald über die traditionellen Grenzen der Beschwerden hinaus, die die Kosaken und die orthodoxe Geistlichkeit vorzubringen pflegten. Es ist der Gedanke der Befreiung des ukrainischen Volkes in seinen ethnographischen Grenzen aufgetaucht, die Idee der Niederwerfung des polnischen Schlachzizenregimes und des Wiederaufbaues des einstigen ukrainischen Staates. Ungeachtet der ansehnlichen Kräfte des Aufstandes, die von den Teilnehmern selbst auf ungefähr 300.000 Mann geschätzt wurden, achteten es die Anführer des Aufstandes für kaum möglich, das Werk der Befreiung ihres Volkes mit eigenen Kräften vollbringen zu können. Chmelnyzkyj wankte zwischen zwei Kombinationen. Die eine Möglichkeit, im Sinne der Pläne, die den Kyjiwer geistlichen Würdenträgern schon längst vorschwebten, war ein Bündnis der orthodoxen Staaten — Moskowitiens, der Ukraine, der Moldau und der Balkanslawen — welches sich gegen Polen und die Türkei richten sollte. Der andere Plan sah die Einverleibung der Ukraine in das System der Vasallen-Staaten, gleich der Krim, Moldau und Transsylvanien, unter der Oberhoheit der Türkei voraus. Verschiedene Umstände, nicht zuletzt auch die Zerrüttung des türkischen Staatswesens, haben Chmelnyzkyj bewogen, sich für Moskau zu entschließen. Die moskowitische Regierung hat es lange nicht gewagt, das Protektorat über die Ukraine anzunehmen, da sie einen Krieg mit Polen befürchtete, der schweren Niederlage eingedenk, die Polen dem moskowitischen Staate Anfang des 17. Jahrhunderts zugefügt hatte. Erst im Jahre 1653 ist die moskowitische Regierung aus ihrer Unentschlossenheit herausgetreten und, nachdem sie in das Protektorat über das Kosakenheer und die Ukraine einwilligte, wurde Polen der Krieg erklärt. Im März 1654 wurden die sogenannten „Artikel des Bohdan Chmelnyzkyj“, durch welche die Beziehungen der Ukraine zum moskowitischen Staate festgesetzt wurden, beschlossen.

Die Artikel wurden in Eile, ohne allseitige und reife Überlegung der Sache verfasst, so dass viele Fragen unaufgeklärt blieben und sich überhaupt Spuren der vorangegangenen Verhandlungen erkennen ließen, in denen Chmelnyzkyj vor den zu weitgehenden Konzessionen nicht zurückscheute, um nur um jeden Preis die Moskowiter in einen Krieg mit Polen zu verwickeln*).

Durch die Artikel wurde eine freie Wahl des Hetmans, eines Staatsoberhauptes des ukrainischen Staates, wie sich dieser in den Jahren 1648 bis 1654 unter dem Schutze des Kosakenheeres herausgebildet hatte, das Recht, diplomatische Beziehungen zu anderen Staaten zu unterhalten, eine vollständige Unabhängigkeit der Gerichte, ein dem Oberbefehl des Hetmans unterstelltes ukrainisches Kosakenheer und die Unabhängigkeit der ukrainischen Kirche festgesetzt.

*) Durch diese Ungewissheit in vielen Fragen wird es erklärt, warum die Staatsgelehrten, die ukrainischen sowie die russischen, über die Qualifizierung der staatlichen Beziehungen der Ukraine zum moskowitischen Reiche, wie diese Beziehungen durch den Vertrag vom Jahre 1651 geschaffen wurden, zu keiner Einigung gelangen können. Die einen sehen darin eine Personalunion. Manche der Gelehrten vertreten die Meinung, dass die Ukraine durch den Vertrag ein Vasalle Moskaus geworden, andere dagegen, dass der Vertrag der Ukraine bloß eine weitgehende Landesautonomie gewährleistete.

Unaufgeklärt blieb die Frage hinsichtlich der Rolle der moskowitischen Regierung in der Zivilverwaltung der Ukraine sowie in finanziellen Angelegenheiten. In der Tat stand es so, dass die politische und die Finanzverwaltung dem Wirkungskreis der Hetmanen vorbehalten blieben, doch weigerte sich die moskowitische Regierung, die Unantastbarkeit dieser Verwaltungszweige für die Zukunft zu garantieren. In dieser Frage sowie in der Frage der Kirchenautonomie, die die moskowitische Regierung in den „Artikeln“ anerkannt, aber späterhin um jeden Preis aufzuheben trachtete, ist es bald zu Unstimmigkeiten zwischen der ukrainischen und der moskowitischen Regierung gekommen. In den letzten Jahren der Regierung Chmelnyzkyjs wurde zu einem totalen Bruch mit Moskowitien gerüstet: die ukrainische Regierung rechnete auf eine Unterstützung seitens Schwedens und es wurde bereits ein Vertrag ausgearbeitet, in dem Schweden seine Hilfe der Ukraine zur Gewährleistung einer völligen Unabhängigkeit und Unantastbarkeit des Landes versprach. Die ukrainischen Politiker hegten augenscheinlich den Plan, die Ukraine als einen neutralisierten Staat unter dem Schutz ihrer Nachbarn auszugestalten. Der Misserfolg der letzten Kampagne Chmelnyzkyjs und der darauffolgende Tod dieses populären Hetmans hat der Verwirklichung dieses Planes neue Hemmnisse gestellt.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Die ukrainische Frage in historischer Entwicklung