Die Entwicklung des ukrainischen politischen Gedankens um die Mitte des 19. Jahrhunderts.

Unter den dargelegten Einflüssen bildete sich der ukrainische politische Gedanke heraus, der, das Sehnen nach entschwundener Unabhängigkeit und nach den verhallten Ruhmestaten der Kosaken allmählich abstreifend, zu politischen Programmen und zur schöpferischen Arbeit in neuen Verhältnissen, im Geiste der Anforderungen der Neuzeit überging. Das früheste einigermaßen ausgearbeitete Programm ist uns aus den 1840er Jahren bekannt. Dieses Programm wurde von der ukrainischen Organisation in Kyjiw, die unter dem Namen der „Brüderschaft des Cyrill und Methodius“ bekannt ist und eine wichtige Rolle in der weiteren Bewegung spielte, aufgestellt. Die „Brüderschaft“ wurde anfangs 1846 organisiert, ihr gehörten die begabtesten und einflussreichsten Vertreter der ukrainischen Intelligenz an (der Dichter Schewtschenko, Ethnograph und Schriftsteller Kulisch, Historiker Kostomarow, Rechtshistoriker Hulak und andere), die einen zahlreichen Anhang fanden; wie eines der Mitglieder bezeugt, ist im Laufe eines Jahres die Zahl der Mitglieder in verschiedenen Zentren der Ukraine, ungeachtet eines sehr konspirativen Charakters der „Brüderschaft“, auf hundert gestiegen. Ihnen leuchtete das Ideal einer slawischen Föderation, ein Bund der slawischen Republiken voran, unter denen auch die ukrainische Republik als ein besonderes selbständiges Glied auftritt. Die Verfassung sollte eine demokratische und radikal-liberale sein: alle Privilegien und Standesunterschiede sind abzuschaffen; alles, was das Volk erniedrigt, soll aufhören; es soll eine uneingeschränkte. Freiheit des Wortes, des Gedankens und der Religion garantiert werden; es sind Maßnahmen zur Hebung der allgemeinen und der politischen Bildung des Volkes zu treffen. Folgende Mittel wurden zuerst zur Erreichung jener Ziele anempfohlen: Schaffung einer populären Literatur für das Volk, Annäherung an das Volk zwecks mündlicher Propaganda, Fühlungnahme mit der Schuljugend der Mittel- und Hochschulen, um die Jugend im Sinne der Ideen der „Brüderschaft“ zu beeinflussen. Allein die praktische Betätigung der „Brüderschaft“ wurde im Keime unterdrückt, da schon im Frühjahr 1847 die leitenden Männer der „Brüderschaft“ infolge einer Anzeige eines Studenten, der die Gespräche der Mitglieder der „Brüderschaft“ belauscht hatte, verhaftet und zu schweren Strafen, wie Gefängnis, Verschickung, Verbot zu schreiben und Werke zu veröffentlichen, verurteilt wurden.

Diese Maßregelung hat einen gewissen Stillstand nicht bloß in der Weiterentwicklung der ukrainischen politischen Idee, sondern auch auf dem Gebiet der Kulturarbeit überhaupt zur Folge gehabt, da die begabtesten und rührigsten Vorkämpfer zur Untätigkeit verurteilt wurden. Als sie aus der Verbannung zurückkehrten und ihre nationale Arbeit wiederum in Angriff nahmen, wurden sie durch die damaligen Verhältnisse (Abschaffung der Leibeigenschaft in Russland, Organisierung des Bauernstandes) zur Arbeit zum Wohle des Volkes, wie Hebung der Bauernschaft, Schaffung der populären Literatur, Errichtung der ukrainischen Schulen, mit fortgerissen. Verfolgungen der ukrainischen Literatur, die im Jahre 1863 unter der bekannten Losung des damaligen Ministers des Innern Walujew: „Eine ukrainische Sprache hat es nie gegeben, gibt es nicht und darf es nicht geben“, einsetzten, haben auch die Betätigung in dieser Richtung unmöglich gemacht. Nachdem dann die Repressalien nachgelassen hatten, wurde die kulturelle Arbeit in den 1870er Jahren wiederaufgenommen, wobei sich besonders die Kyjiwer Organisation, die sogenannte „Hromada“ (Gemeinde), in welcher sich die hervorragendsten Vertreter des neuen Geschlechts der ukrainischen Intelligenz vereinigten, hervorgetan hatte.


Die Tätigkeit der ukrainischen Intelligenz wandte sich wieder der Kulturarbeit zu: der Erforschung der ukrainischen Denkmäler, der Geschichte, der Sprache und der Ethnographie, der Förderung der ukrainischen Literatur, des Theaters und der Musik sowie der Popularisierung der Wissenschaft in der Volkssprache. Die leitenden ukrainischen Kreise missbilligten die Tätigkeit der revolutionären und terroristischen Geheimbünde, die die Rührigsten unter der ukrainischen Jugend in einer großen Anzahl an sich rissen, unter anderem aus dem Grunde, weil die Revolutionäre zentralistisch gesinnt waren und die nationalen Forderungen der von Russland geknechteten Völker überhaupt, des ukrainischen Volkes insbesondere nicht genügend berücksichtigten. Die nationalgesinnten Ukrainer gravitierten zu konstitutionell-liberalen Programmen, wobei man diese Programme im Sinne des nationalen Autonomismus ergänzte, und legten ein besonderes Gewicht auf die wissenschaftlichen und kulturellen Bestrebungen der ukrainischen Bewegung.

Trotz einer solchen Mäßigung in der Gesinnung sah die Regierung der Tätigkeit dieser ukrainischen Kreise mit Unwillen zu, da sie eine nationalukrainische Bewegung überhaupt verpönte, in was für loyalen und gemäßigten Formen sie sich auch immer äußern mochte. Die Regierung hielt an dem Grundsatz der „Einheit des russischen Volkes“ fest, an dem Prinzip einer völligen Einheitlichkeit der Literatursprache, der Schule, der Literatur und Kultur für alle ostslawischen Völker — Großrussen, Ukrainer und Weißrussen — so dass jede Bestrebung zur Schaffung einer ukrainischen Literatur und Literatursprache, alles, was die Hebung des nationalen Gefühls bei den Ukrainern fördern könnte — somit auch die ukrainischen wissenschaftlichen Forschungen — der Regierung unerwünscht, die „russische Einheit“ gefährdend schien. Der kulturelle Separatismus war nach der Auffassung der Regierung bloß die erste Stufe, die in weiterer Folge zum politischen, staatlichen Separatismus führe. Der ukrainische kulturelle sowie auch politische Separatismus wird der russischen Regierung zu einem Schreckgespenst. Durch ihn wird ihre Stellungnahme den ukrainischen Bestrebungen gegenüber bestimmt.

Daraus erklärt sich, warum sogar die bescheidene und in politischer Hinsicht ganz harmlose Tätigkeit der Kyjiwer Ukrainer unterdrückt wurde. Die Institutionen und Pressorgane, die den Mittelpunkt der wissenschaftlichen Tätigkeit der Ukrainer bildeten, wurden unterdrückt, und im Frühling 1876 ist der berühmte Ukas erlassen worden, durch den das Schicksal der ukrainischen Bewegung für mehrere Jahrzehnte besiegelt wurde.

Danach wurde gestattet, künftighin nur historische Denkmäler und belletristische Werke in ukrainischer Sprache zu veröffentlichen, und das auch nur unter Beibehaltung der russischen Rechtschreibung und unter der strengsten Aufsicht der Zensur. Ukrainische Konzerte, Theatervorstellungen und Vorträge wurden gänzlich verboten.

Diese Einschränkungen waren schon an und für sich schwer genug, ihre Strenge wurde jedoch durch weitere Auslegung der Zensur- und Verwaltungsbehörden noch wesentlich verschärft. Das Ergebnis war, dass nicht nur die populäre und wissenschaftliche Literatur unterdrückt wurde, was dem Sinne des Ukas entsprach, sondern auch alle anderen Werke in ukrainischer Sprache zur Drucklegung nicht zugelassen wurden. Man hat nur die Veröffentlichung ganz inhaltsloser und unbedeutender Schriften genehmigt. Dieser Zustand dauerte eine lange Zeit, da der Ukas erst 1906 außer Kraft gesetzt wurde. Das Verbot betreffend die Konzerte und Theatervorstellungen wurde bald de facto aufgehoben — auf Vorstellung der Gubernialbehörden, die selbst zur Überzeugung gelangt waren, dass das Verbot seinen Zweck verfehlt hat und nur zur Aufreizung der Bevölkerung beiträgt — allerdings wurden die Veranstaltungen dieser Art an überaus strenge polizeiliche Vorschriften gebunden.

Und wirklich haben diese Einschränkungen nicht vermocht, die ukrainische Bewegung in Russland zu vernichten, vielmehr im Gegenteil — sie führten eine Radikalisierung dieser Bewegung herbei und entzogen dem sogenannten „Ukrainophilentum“ den Boden, welches bestrebt war, eine gemäßigte, loyale Mittellinie einzuschlagen, da die Politik der Regierung diese Richtung ebensowenig duldete wie jedwede radikal-nationale Strömung. Es war ausgeschlossen, die ukrainische Bewegung einfach aus der Welt zu schaffen. Sie hat im Laufe des 19. Jahrhunderts zu viel an kulturellen und politischen Kräften zugenommen, als dass so etwas möglich gewesen wäre. Die Bewegung hatte bereits bleibende Erfolge auf dem Gebiet der nationalen Literatur und Kultur hinter sich. Sie fühlte einen festen Boden in den Volksmassen einer 20 Millionen (zurzeit schon zirka 35 Millionen) zählenden Nation unter sich, die an ihrer Nationalität hartnäckig festhielt und unerschöpfliche Entwicklungsfähigkeiten erraten ließ, welche nur durch äußere Bande eines reaktionären Regimes festgehalten wurden. Die ukrainische Intelligenz durfte ihre Pflichten dem Volke gegenüber und ihre nationalen Ziele nicht verleugnen. Wer aber in Treue ausharren wollte, der musste zu seinem Ziele streben, ohne darauf zu achten, ob das den regierenden Sphären lieb ist und wie sie sich demgegenüber verhalten.

So kämpft die ukrainische Intelligenz in Russland in den 1880er bis 1900er Jahren unaufhaltsam fort, indem sie trachtet, jede Möglichkeit für die nationale Arbeit auszunützen, welche die russischen Verhältnisse ab und zu boten. Was aber in Russland unmöglich verwirklicht werden konnte, suchte den Weg über die Grenze auf den Boden der österreichischen Ukraine.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Die ukrainische Frage in historischer Entwicklung