Das ukrainische nationale Leben in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts.

Im Jahre 1772, bei der ersten Teilung Polens, ist die Westukraine, das jetzige Ostgalizien, auf Grund alter Ansprüche der ungarischen Krone auf diese Länder der österreichischen Monarchie zugefallen; einige Jahre später ist auch die jetzige Bukowina hinzugekommen, die früher der Moldau gehörte. Der Übergang der Westukraine von Polen unter die österreichische Herrschaft hat ein neues Wiedererwachen des nationalen Lebens im Lande zur Folge gehabt. Die österreichische Legierung, die unlängst Gelegenheit gehabt hatte, die traurige Lage der ukrainischen Bevölkerung in Ungarn (Komitat Marmaros) kennen zu lernen, hat Maßnahmen zur Hebung des intellektuellen Niveaus und zur Besserung der materiellen Lage der griechisch-unierten Geistlichen nicht nur in Ungarn, sondern auch in Galizien ergriffen. Bei der Bedeutung, welche der unierten Kirche in diesem Lande im Laufe des 18. Jahrhunderts zukam, da diese Kirche in Galizien sich in eine ukrainische Nationalkirche umgewandelt hatte und das Schicksal ihrer Gläubigen in jeder Beziehung teilte, haben diese Maßnahmen wie auch die Pflege, welche die Legierung der Hebung der Bildung der städtischen und ländlichen Bevölkerung und der Besserung der sozialen und ökonomischen Lage des Volkes angedeihen ließ, wichtige Folgen gehabt. Wie bescheiden auch die wirklich durchgeführten Besserungen waren und wie kurzlebig auch sich die ruthenenfreundliche Strömung in der Politik der Legierung erwies, so hat sie doch einen tiefen Eindruck gemacht und das Selbstbewusstsein des ukrainischen Volkes im Lande gehoben, indem sie dasselbe von dem Gefühl der Hoffnungslosigkeit befreite, welches in den letzten Jahren des polnischen Regimes Platz gegriffen hatte. Das Ergebnis hiervon war, dass auch nachdem die Legierung unter den Einfluss des polnischen Adels geriet und in ihrer Stellungnahme dem ukrainischen Element gegenüber eine peinlich empfundene Reaktion eingetreten war, die Energie der nationalen Bewegung nicht ins Stocken geriet und gewisse Fortschritte im nationalen Bewusstsein und auf dem Gebiet der nationalen Kultur in Galizien sich in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts immer mehr bemerkbar machten.

In ukrainischen Gebieten, die nach der Teilung Polens unter russische Herrschaft gelangten (Wolhynien, Podolien, das Gebiet am Westlichen Bug und das Kyjiwer Gebiet), wurde dieser Übergang von keiner Besserung auf dem Gebiet des nationalen Lebens begleitet — eher umgekehrt. Die schrankenlose Gewalt des polnischen (oder polonisierten) Adels über den ukrainischen Bauer wurde unter dem Schutze der russischen Behörden gefestigt und noch enger gezogen. Die subalternen administrativen Organe waren gewöhnlich ein williges Werkzeug in den Händen der polnischen Aristokratie. Sogar die Versuche, an die orthodoxen und polenfeindlichen Tendenzen der Regierung zu appellieren, um sie zum Schutze des geknechteten ukrainischen Volkes zu bewegen, nahmen für solche Protestanten ein trauriges Ende, da jede Opposition gegen die Leibeigenschaft als eine staatsgefährliche Erscheinung verpönt war. Alles, was in die Domäne des polnischen Aristokraten nicht gehörte, also die Schule, Kirche, Literatur, das Kulturleben wurde einer rücksichtslosen Russifizierung preisgegeben. Die Regierung ging sogar daran, aus dem Gottesdienst alle landesüblichen Eigentümlichkeiten auszumerzen, die an das Ukrainische sich anlehnende Aussprache des Kirchenslawischen nicht ausgenommen.


Dieser Umstand macht es erklärlich, warum die ersten Symptome der sich aufs neue regenden nationalen Bewegung in der russischen Ukraine im östlichen Teil, trotz der scheinbaren Russifizierung derselben, zum Vorschein kommen.

Die Erinnerung an das ukrainische Staatsleben war hier noch lange lebendig. Trotz aller sozialen Vorteile, die die russische Regierung den oberen Klassen bei der Abschaffung der Verfassung der Hetmanenzeit zuteilwerden ließ, war der Schmerz in den Herzen der ukrainischen Intelligenz, die die verloren gegangene Autonomie des Landes nicht verschmerzen konnte, sehr rege. Optimistisch veranlagte Köpfe träumten von einer vom Ausland herrühren den Intervention, die der Ukraine ihre Autonomie, wenn nicht die politische Selbständigkeit zurückgeben sollte. Das alles wurde jedoch, mit Rücksicht auf die misstrauische Schnüffelei der russischen Administration, streng geheimgehalten, derartige Pläne wurden sehr selten schriftlich aufgezeichnet und gelangten nur zufällig und lückenhaft in die Öffentlichkeit. So ist es erst vor kurzem bekanntgeworden, dass einer der hervorragendsten Vertreter der ukrainischen Aristokratie, Graf Kapnist, im Jahre 1791 Berlin aufgesucht hatte, um im Auftrag seiner Konpatrioten die preußische Regierung über die Zustände in der Ukraine aufzuklären. Er berichtete über die Unzufriedenheit unter den Kosaken mit der Abschaffung der alten Einrichtungen und über die äußerste Erbitterung des ukrainischen Volkes, das durch die „Tyrannei der russischen Regierung und des Fürsten Potemkin“ in Verzweiflung getrieben wurde. Die Ukrainer wollten wissen, ob sie im Falle einer Erhebung auf eine Unterstützung seitens der preußischen Regierung rechnen dürften. Doch hat die preußische Regierung dem Grafen Kapnist eine ziemlich ausweichende Antwort gegeben. Mit Vorstellungen gleicher Art hatten sich die Ukrainer auch an die Regierung Frankreichs gewendet. Spuren eines solchen Schrittes weisen die Akten der französischen Diplomatie auf. Es hat eine Zeitlang den Anschein gehabt, als ob die Ordnung der alten Hetmanenzeit zurückkehren sollte. Kaiser Paul, der die Politik seiner Mutter scharf missbilligte, ist gleich nach seinem Regierungsantritt darangeschritten, vieles von den Einrichtungen der Hetmanenzeit wiederherzustellen. Als Mann, der den Kaiser dazu bewogen hatte, galt Minister Besborodko, ein ukrainischer Patriot. Aber die Regierung des Kaisers Paul war von kurzer Dauer, und sein Nachfolger Alexander kehrte zu den Prinzipien Katharinas zurück. Er hat auch die von ihr geschaffene Ordnung in der Ukraine wieder in Kraft gesetzt. Als Erinnerung an die Hetmanenzeit ist bloß das Zivilrecht der autonomen Ukraine geblieben, das bis in unsere Zeit hinein in den Gouvernements Tschernyhiw und Poltawa geltend ist.

Die Hoffnungen auf Wiederherstellung der alten Verfassung erwachten oftmals, als die russische Regierung an die Werbung der Kosakenmilizen in der Ukraine schritt. So war es im Jahre 1812 und während des polnischen Aufstandes 1831, als die Behörden der Bevölkerung allerlei Erleichterungen in Aussicht stellten. Während des Krimkrieges hat die Werbung von Freiwilligen eine Gärung unter den Bauern hervorgerufen, da sie die Rückkehr der alten Ordnung erhofften. Alle diese Hoffnungen nahmen gewöhnlich ein ziemlich trauriges Ende, sie erweckten aber im ukrainischen Volke die politische Tradition. Die Regierung wiederum nahm diese Erscheinungen zum Anlass, um verschiedene vermeintliche Kandidaten auf die Hetmanenwürde sowie andere wirkliche oder eingebildete Äußerungen des ukrainischen Irredentismus mit umso größerem Misstrauen zu überwachen.

Die Tradition der Kosakenzeit, die Erinnerung an die heldenhaften Kämpfe der Kosaken um die Unabhängigkeit, die idealisierten Gestalten dieser Ritter der Freiheit und der Gleichheit, welche in der Überlieferung der ukrainischen Intelligenz und in der Volkspoesie, besonders in den Dnieprländern, in frischer Erinnerung fortlebten, weckten wirklich nicht nur patriotische Gefühle, sondern auch politische Gedanken. Die Studien der Geschichte der Kosakenzeit und der Altertümer dieser Periode, die in ukrainischen Familien, Nachkommen der Kosakengeschlechter, mit Vorliebe betrieben wurden, die Sammlung der Denkmäler der Volksüberlieferung, die seit dem zweiten und dritten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts sehr beliebt war, brachten diese Gestalten des nationalen Heroenzeitalters immer wieder in Erinnerung und überlieferten sie von Geschlecht zu Geschlecht als ein heiliges Vermächtnis der Vergangenheit und als eine Verheißung der besseren Zukunft.

Die romantische Volksliebe, die, aus Deutschland und den westlichen slawischen Ländern herkommend, sich unter der ukrainischen Intelligenz, besonders seit den 1820er Jahren, verbreitete, hat das Interesse für Tradition, Ethnographie und die Volkssprache noch mehr verstärkt und sanktioniert, sowie überhaupt einen großen Einfluss auf die weitere Entwicklung der politischen und nationalen Bestrebungen in der Ukraine ausgeübt. Die Studien der Ethnographie und der Volkssprache, die Erforschung des Volkslebens, die Wiedergeburt der Literatur in der Volkssprache, die um die Wende des 18. Jahrhunderts ansetzt und in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts immer neue Fortschritte macht, haben die ukrainische Intelligenz dem Volk nähergebracht und die Entfremdung beseitigt, welche eine der Ursachen der politischen Schwäche der höheren ukrainischen Schichten, des Verfalles des ukrainischen Kulturlebens und der im 18. Jahrhundert erfolgten Russifizierung war. Die ukrainische Volksmasse wird in der Auffassung der ukrainischen Intelligenz des 19. Jahrhunderts zur Hüterin der Schätze der nationalen Kultur, der Kunst und der Volkspoesie von einer hohen, unerreichbaren Schönheit. Aus dieser ästhetischen Verherrlichung des Volkes entwickelt sich mit der Zeit der soziale und politische Demokratismus, der in der Überzeugung gipfelt, dass die soziale und nationale Wiedergeburt der Ukraine nur im engen Bündnis mit dem Volk, in der Hebung der Volksmassen, in der Hingebung an die Interessen dieser Massen ihre Grundlage finden kann.

Anderseits wird durch die Erschließung der unerschöpflichen geistigen Schätze des Volkes das nationale Selbstbewusstsein der Intelligenz unermesslich gehoben. Ein Volk, das so groß ist, das ein riesiges Territorium bewohnt und trotz der Ausdehnung und verschiedenartiger Hemmnisse, trotz politischer und religiöser Zerstückelung die gemeinsame nationale Eigenart, seine nur unbeträchtlich variierende Volkssprache, seine Sitte, Überlieferungen und Poesie so unberührt hergebracht hat, das Volk, welches eine so klangvolle Sprache, die reichste Volkspoesie und Musik, eine so prachtvolle materielle Kultur zu schaffen und aufzurichten verstanden hat, dieses Volk kann unmöglich zugrunde gehen; es birgt das Unterpfand der Wiedergeburt in einer besseren Zukunft in sich. Das wird zum Dogma der ukrainischen Intelligenz, je mehr sich die oberwähnten Strömungen und Erkenntnisse vertiefen. Aus ihrer früheren Verworrenheit kommt die Intelligenz auf einen festen Boden*).

*) Im Rahmen dieses Aufsatzes ist es mir unmöglich, in nähere Erörterung der Tatsachen der literarischen und wissenschaftlichen ukrainischen Bewegung einzugehen. Diesem Gegenstand werde ich vielleicht einen besonderen Aufsatz widmen, um das Problem der ukrainischen Kultur, das heißt die ukrainische Bewegung vom Standpunkte der nationalen Kultur darzulegen.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Die ukrainische Frage in historischer Entwicklung