Das Halytsch-Wolhynische Reich. Ukrainische Fürstentümer Litauens und der vollkommene Verfall des ukrainischen Staatswesens.

Der Untergang des Kyjiwer Staates bedeutete allerdings nicht, dass das staatliche Leben der Ukraine zugrunde gerichtet wurde. Die Rolle, welche die Kyjiwer Fürsten im politischen Leben der Ukraine gespielt hatten, versuchten zuerst die Fürsten von Tschernyhiw zu übernehmen, deren Besitztümer nicht so arg durch den mongolischen Überfall hergenommen wurden wie die Länder von Kyjiw und Perejaslawl. Doch wurden diese Bestrebungen von keinem Erfolg gekrönt, da der Mongoleneinfall des Jahres 1239, der mit einer ungeheuren Wucht im Dnieprgebiet gewütet hatte, auch das Fürstentum von Tschernyhiw um seine letzten Kräfte gebracht hat. Bedeutend größere Voraussetzungen dazu, um zur Kraftentwicklung und zum politischen Ansehen zu gelangen, besaß das Fürstentum von Halytsch-Wolhynien, welches um die Wende des 12. Jahrhunderts (1199) durch Vereinigung des Fürstentums Wladimir in Wolhynien mit dem Fürstentum Halytsch in den Händen des Fürsten Roman, eines Spross der älteren Linie des Kyjiwer Fürstenhauses, entstanden ist.

Der tatarische Andrang hatte schon in vorangegangenen Jahrhunderten eine Wanderung der ukrainischen Bevölkerung vom Süden und Osten her nach Wolhynien und den Karpatenländern hervorgerufen. Der Mongoleneinfall unter Anführung des Batu hat diese Verlegung des wirtschaftlichen und kulturellen Lebens aus dem Dnieprgebiet nach den westlichen Ländern besiegelt. Durch diese Wanderung wird die Tatsache erklärt, weshalb der Westen im 12. und 13 Jahrhundert zur Kraft und Bedeutung aufgeblüht ist. Fürst Roman und sein Sohn Danylo (Daniel) streben, nachdem sie hier festen Fuß gesetzt hatten, danach, auch die östlichen ukrainischen Länder unter ihre Herrschaft und ihren Einfluss zu bringen, doch scheitern diese Versuche an dem Widerstand der Goldenen Horde, die die Bewegung ukrainischer Stadtgemeinden gegen das Fürstenregime anfachte und sich bemühte, der weiteren Machtentfaltung der Fürsten von Halytsch-Wolhynien entgegenzusteuern. Gegen die Politik dieser Fürsten waren auch Ansprüche Polens und Ungarns gerichtet, die schon längst darauf hinarbeiteten, die westlichen Gebiete der Ukraine an sich zu reißen. Die Pläne des Danylo, einen Bund zum Kampfe gegen die Tataren zustande zu bringen, scheiterten an der Gleichgültigkeit der westlichen Nachbarn. Diese Pläne haben dem Fürsten nur die Königskrone aus den Händen des Papstes eingebracht (1252), seinen Plan musste er aber vorläufig fallen lassen.


Der Staat von Halytsch-Wolhynien existierte beinahe noch ein Jahrhundert darauf, und hier hatte das kulturelle und politische Leben der Ukraine seine Zuflucht. Allein die Ostukraine blieb außerhalb der Einflusssphäre dieses Staates. In der Geschichte der Ukraine ist dieser Zeitperiode eine nicht zu unterschätzende Bedeutung beizumessen, da in diesem Zeitabschnitt die vordem vorherrschend gewesenen byzantinischen Elemente durch neue Einflüsse, die von Westen her aus Deutschland kamen, neutralisiert wurden. Dadurch eröffneten sich der weiteren Entwicklung der ukrainischen Kultur recht erfreuliche Aussichten. (Diese neuen Einflüsse vermittelten insbesondere die auf dem deutschen Recht gegründeten Stadtgemeinden, die Anfang des 13. Jahrhunderts in Halytsch-Wolhynien auftreten.) Aber ein Bund Polens und Ungarns (Vertrag 1336) hat diesem westukrainischen Staat ein jähes Ende bereitet. Der Umsturz, der 1340 von den halytsch-wolhynischen Bojaren angezettelt wurde, die mit der Politik des Fürsten Georg Boleslaw unzufrieden waren und Lubart, einen Fürsten litauischer Dynastie, statt seiner einsetzen wollten, hat den Königen von Polen und Ungarn Anlass gegeben, gegen Halytsch gemeinsam ins Feld zu ziehen. Es begann ein hartnäckiger Kampf um die halytsch-wolhynischen Länder, der schließlich zu einer Annexion des Halytsch und des Cholmlandes durch Polen geführt hat, durch welche nicht nur das Land seiner staatlichen Unabhängigkeit beraubt, sondern auch die Stellung der höheren ukrainischen Klassen — des Adels (Bojaren) und des städtischen Patriziertums — untergraben wurde, und welche die Vernichtung der alten sozialen Formen sowie des kulturellen Lebens in diesem Lande zur Folge hatte. Der Schlag war um so empfindlicher, da zu jener Zeit gerade Halytsch (samt Wolhynien) der Zufluchtsort des ukrainischen kulturellen Lebens war.

In Wolhynien, das die polnischen Angriffe abgewehrt hatte, wurde unter der Herrschaft Lubarts (1340 bis zirka 1385) das frühere politische und nationale Leben kontinuiert. In den ukrainischen Ländern im Dnieprgebiet entstanden in diesem Jahrhundert ebenfalls einige große Fürstentümer unter der Herrschaft der Fürsten der litauischen Dynastie, so die Fürstentümer Kyjiw, Tschernyhiw Ssiwer, Turiw-Pinsk im Prypetgebiet, wo die alten sozialen Formen, die Überlieferungen des Rechtes und der Kultur der Kyjiwer Periode, nach überstandenen Erschütterungen, allerdings in einigermaßen geschwächter Form, zum Teil sich fortentwickelten, zum Teil wieder auflebten. Der Übergang der ukrainischen sowie der weißrussischen Länder unter die Herrschaft der Dynastie Gedimins hat sich im Allgemeinen unter Beibehaltung der alten Formen und Überlieferungen, unter Schonung der Erbschaft der Kyjiwer Periode vollzogen. „Das Überlieferte wollen wir nicht antasten und keine Neuerungen einführen“ — das war das Losungswort der litauischen Politik. Oft ist es vorgekommen, dass der Übertritt unter das Protektorat oder die Herrschaft der litauischen Dynastie freiwillig erfolgte — so war es mit Wolhynien der Fall. Die litauischen Fürsten, indem sie den Thron des neuerworbenen Fürstentums bestiegen, traten zum Glauben und zur Nationalität der neuen Untertanen über, protegierten die Kirche und die alten Kulturtraditionen, respektierten alte Formen und Rechtseinrichtungen, so dass das Neue nur verhältnismäßig langsam sich den Platz eroberte, unter dem Einfluss der allgemeinen Verhältnisse, in denen sich die Entwicklung des Großfürstentums Litauen vollzog.

In diesem Rahmen der Fürstentümer, die der Gewalt des Großfürsten von Litauen untergeordnet waren, lebten die Traditionen des politischen Lebens der Ukraine, abgesehen von einigen Schwankungen und Unterbrechungen, bis in die zweite Hälfte des 15. Jahrhunderts fort. Erst nach dem Tode des Swytryhajlo (Swidrigajlo), Fürsten von Wolhynien (gestorben 1452), und des Simeon Olelkowytsch, Fürsten von Kyjiw (gestorben 1470), werden die Zentral- und Ostgebiete der Ukraine endgültig zu einfachen Provinzen des Großfürstentums Litauen. Von dieser Zeit an unterliegen die ukrainischen Länder einer unmittelbaren Einwirkung des sozialpolitischen Prozesses, der sich gerade um diese Zeit infolge der immer mehr zunehmenden Annäherung Litauens an Polen, nach erfolgter politischer Union dieser Staaten (1385), für das ukrainische (und weißrussische) Element, seine nationalen Interessen und Traditionen überaus ungünstig gestaltete. Dank dem traditionellen Konservatismus des Großfürstentums Litauen und dank dem Prinzip der Landesautonomie, welches der Verfassung dieses Staates zugrunde lag, wurzelten sich die neuen, immer mehr den polnischen nachgebildeten Formen der gesellschaftlichen Ordnung immerhin viel langsamer ein, als das in den westlichen, dem Polen unmittelbar unterstellten Gebieten (Halytsch [Galizien], Cholmgebiet, Podolien) der Fall war, wo das polnische Recht schon im Jahre 1430 endgültig eingeführt wurde. Immerhin hat das ukrainische Element auch in Litauen den Untergang der Formen, die seine nationalen Interessen gewissermaßen wahrten, sehr schmerzlich zu spüren bekommen.

Unter der ukrainischen Aristokratie im Großfürstentum Litauen nehmen wir Anzeichen einer Opposition gegen den neuen politischen Kurs wahr, da die Aristokratie bei diesem Kurs, der ausschließlich die litauisch-katholischen Elemente begünstigte und diesen den Vorrang gab, die ukrainischen und weißrussischen dagegen einer völligen Verarmung und Einflusslosigkeit preisgab, sich vom politischen Leben des Großfürstentums gänzlich ausgeschaltet sah. Gleichwie das litauisch-polnische Element sich auf die Solidarität des katholischen Glaubens stützt, sucht die ukrainische Aristokratie dieser Zeit Hilfe bei den Glaubensgenossen in Moskowitien. Auf diese Weise kam die Verschwörung der des Kyjiwer Fürstentums enthobenen Fürsten Olelkowytsch im Jahre 1481, die Verschwörung der Fürsten Hlynskys (Glinski) im Jahre 1507 und der Übertritt der Fürsten von Tschernyhiw zu Moskowitien (1480 bis 1500), an welches die Besitztümer dieser Fürsten grenzten, zustande. Gleichzeitig ruft der ukrainische Adel Galiziens die Unterstützung der Wojewoden von Moldau. Doch haben diese Ausbrüche nicht vermocht, eine dauernde Besserung der Lage des ukrainischen Elementes herbeizuführen. Moskowitien hat diese Auftritte, die im Zeichen einer Unterdrückung des orthodoxen Glaubens stattfanden, dazu benützt, um von Grenzlanden Besitz zu ergreifen: es hat das Gebiet von Tschernyhiw und die Stadt Smolensk besetzt und die Besetzung von Kyjiw vorbereitet. Das konnte aber zur Erleichterung der Lage des ukrainischen Volkes in dem polnisch-litauischen Staate in keiner Weise beitragen.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Die ukrainische Frage in historischer Entwicklung