Allgemeine Bemerkungen. Die Periode des Kyjiwer Staates.

Die Geschichte der ukrainischen Frage, wie sie sich heute darstellt, reicht bis in die Mitte des 17. Jahrhunderts, in die Zeit der großen ukrainischen Volkserhebung des Jahres 1648 zurück, durch welche das Problem des ukrainischen Staates in voller Klarheit aufgerollt, doch nicht zur Verwirklichung gebracht wurde, indem eine Teilung der ukrainischen Länder zwischen das moskowitische bleich und Polen erfolgte. Von diesem Zeitpunkt an beginnt der darauffolgende Verfall des ukrainischen nationalen Lebens sowie die nach einer Zeitlang wieder aufgetauchte Bestrebung des Volkes, sich national aufzurichten, alle Hemmnisse, die der kulturellen, sozialen und politischen Entwicklung im Wege stehen, abzuschaffen, was zum gegenwärtigen nationalen Kampfe in den Grenzen des russischen Reiches und der österreichischen Monarchie führte.

Doch wurzeln die Verhältnisse, durch welche die neueste Phase der ukrainischen Bewegung bedingt wurde, tief in den verflossenen Jahrhunderten, und zwar nicht nur im politischen Leben des Volkes, sondern auch in den geographischen Eigenschaften des von dem Volke bewohnten Territoriums, in der Lage und physischen Beschaffenheit sowie auch in den Bedingungen der Kolonisierung des Landes.


Ein weitausgedehntes, fruchtbares, gut bewässertes Land, wie das jetzt von den Ukrainern bewohnte Territorium, welches bereits für die alten Griechen eine Kornkammer war, da sie von hier die wichtigsten Nahrungsmittel — Getreide und gesalzene Fische — in ansehnlichen Mengen bezogen; das später, am Anfang der Neuzeit, Zentral- und Westeuropa mit großen Massen von Getreide, Vieh und Holz versorgte; das Land, welches ungeheure Vorräte an Eisen, Steinkohle, Salz und an anderen Mineralien besitzt, so dass es in unserer Zeit als einer der wichtigsten Lieferanten von Weizen, Fleisch, Zucker, Salz, Eisen, Quecksilber und anderen Produkten für ganz Osteuropa gilt, — dieses Land ist bereits seit Alters her zu einer ersehnten Beute geworden, die die Eroberungslust der Nachbarn aus vielen Gründen anlockte. Seine Lage im Zentrum einer ausgedehnten Ebene, die Zentraleuropa mit Zentralasien verbindet, an dem großen Wege, welchen die Völker seit Urzeiten fast unaufhörlich durchwanderten und auf welchem der Austausch der Kulturen und Kulturerrungenschaften stattfand, an der Küste des Schwarzen Meeres, das einen überaus günstigen Weg für den Verkehr nach dem fernen Osten und Süden bietet, — all das machte die Ukraine zu einem heißersehnten Land für alle bedeutenden politischen Gebilde, die in unmittelbarer Nachbarschaft, ja mitunter weit vom Bereich der Ukraine auftauchten und an politischer und kultureller Ausdehnung gewinnen wollten, und das umso mehr, als die natürlichen Grenzen des Landes auf einer großen Länge keine beträchtlichen Verkehrshindernisse, wie Bergrücken, tief eingeschnittene Täler, Wasserflächen und dergleichen, aufweisen.

Indem wir nicht zu weit ins Altertum greifen, wollen wir nur der Bestrebungen der griechischen Staaten einerseits, dann Roms, Byzanzens, der mittelalterlichen Republiken Italiens, Polens, Ungarns, Litauens, der Türkei und Russlands erwähnen, um jeden Preis in den Besitz des Landes zu kommen, um die Naturschätze des Landes, seine Handelswege und Kulturverbindungen, die bis nach Kaukasus, Mesopotamien, Mittelasien, Persien, Indien und China reichten, sich zunutze zu machen. Anderseits bringen dieselbe Tendenz die Eroberer zum Vorschein, die von Osten her gegen Westen ziehen, so die alte persische Monarchie (Feldzüge des Darius), die Eroberungspläne des arabischen Kalifats und der später auftretenden türkischen Staaten in Mittelasien und Turkestan.

Und ebenso zeigte jede politische Organisation, welche auf dem ukrainischen Territorium auftauchte, sobald sie es zu einer gewissen Stärke gebracht hatte, das Bestreben, ihre Besitzungen oder ihren Machtkreis auf die benachbarten Gebiete, die sich gegen Osten und Westen hin erstrecken, auszudehnen. So war es mit den gotischen Königen, den Kyjiwer Fürsten und den Chanen der Goldenen Horde der Fall.

Die slawische Kolonisation, welche sich auf diesem Territorium in dem 6. bis 8. Jahrhundert besonders rege entwickelte, brachte dasselbe in Besitz der südlichen Gruppe der ostslawischen Stämme, aus denen sich später der ukrainische Volksstamm herausbildete*). Diese Stämme ließen sich damals in den Gegenden am Mittel- und Unterlauf des Dniepr, des südlichen Bug und Dniestr nieder, besetzten auch einen großen Teil des Dongebietes, von wo sie, wie überhaupt von den Küsten des Schwarzen Meeres, im Laufe des 9. und 10. Jahrhunderts durch die Ungarn und dann Pazinaken verdrängt wurden. Der auf die Periode der kolonisatorischen Expansion folgende Prozess der sozialen und politischen Entwicklung brachte es zur Bildung eines Staates im Dnieprgebiet mit Kyjiw (Kiew) als Zentrum. Der Kyjiwer Staat, nachdem er das Stadium einer Abhängigkeit von Chasaren, den normannischen (warägischen) Gefolgschaften und von Byzanz überwunden und diese vom Osten, Norden und Süden her kommenden Beeinflussungen zu einem festen Staatsgefüge zusammengeschmolzen hatte, tritt in 9. und 10. Jahrhundert in eine Periode reger Aktivität, eines großen Expansionsdranges über, indem er bestrebt ist, sich der Handelswege in Osteuropa zu bemächtigen und ostslawische wie auch sonstige Stämme, die im Bereich dieser Wege angesiedelt waren, seiner Herrschaft zu unterwerfen.

*) Die Bezeichnung „Ukraina“, „ukrainisch“, die erst in letzter Zeit sich in Bezug auf das ukrainische Volk auf dem ganzen von ihm bewohnten Gebiet eingebürgert hat, wird jetzt auch in Bezug auf die verschiedenen Phasen der historischen Entwicklung des Volkes in der gesamten ununterbrochenen Ausdehnung seiner Geschichte gebraucht. In den Geschichtsquellen kommt diese Bezeichnung zuerst im 12. Jahrhundert vor, wobei mit diesem Termin die Grenzmarken des damaligen ukrainischen Territoriums bezeichnet werden. Die Ereignisse des 17. bis 19. Jahrhunderts, die die östliche Ukraine zum Zentrum des politischen und kulturellen Lebens des ukrainischen Volkes gemacht haben, brachten es dazu, dass die Bezeichnung schließlich zu einem allgemeinnationalen Namen des Volkes wurde und die Benennungen: „Kleinrussen“, „Südrussen“ verdrängte. Der uralte, hergebrachte Name „Russj“, der sich ursprünglich auf den südlichen, ukrainischen Stamm bezog, wurde durch andere Benennungen ersetzt, sobald das nördliche, großrussische Volk begann, sich diesen Namen beizulegen.

In diesem Streben war Kyjiw genötigt, gegen einen ernsten Nebenbuhler zu kämpfen, gegen Nowgorod, den nördlichen Herd normannischer Einflüsse, wo sich wichtige politische und Handelsinteressen konzentrierten. Aus den ersten Seiten der Kyjiwer Chronik (10. Jahrhundert) klingt nur zu oft der Widerhall dieses Wettbewerbes und der Kämpfe, aus denen Kyjiw immer siegreich hervorging. Die Kyjiwer Fürsten Swjatoslaw (gestorben 972), Wolodym^r (Wladimir) der Grosse (gestorben 1015 ) und Jaroslaw (gestorben 1054) haben der Hegemonie Kyjiws und der Ukraina im System des Kyjiwer oder des „ruthenischen“ Staates feste Stützen geschaffen*).

*) Die Herkunft des Wortes „Russj“ bleibt bis jetzt unaufgeklärt. Es unterliegt allerdings keinem Zweifel, dass im 11. und 12. Jahrhundert, wahrscheinlich auch früher, dieser Name auf das engste an Kyjiw und sein Gebiet gebunden war.

Ihre Besitzungen erstreckten sich von der Kubanjmündung bis zum San im Westen und reichten im Norden bis zu den Großen Seen und Ausflüssen der Wolga. Die wichtigsten Zentren, die diese entlegenen Länder beherrschten, waren die ukrainischen Städte im Stromgebiet des Dniepr: Kyjiw, Tschernyhiw, Perejaslawl. Hier hat das politische und kulturelle Leben Osteuropas jener Zeit seinen Mittelpunkt gehabt. Das Christentum, für welches von Wolodymyr dem Großen um das Jahr 990, und zwar in byzantinischer Form, feste Grundlagen geschaffen wurden, sowie die byzantinische Hierarchie und Literatur und die byzantinische Kunst haben die Grundlagen der neuen Kyjiwer Kultur gelegt, die Schritt um Schritt mit dem Recht des Kyjiwer Staates, von den südlichen ukrainischen Zentren aus, sich den Weg gegen Ost und Nord in die weiß- und großrussischen sowie in die finnischen Lande, wenn wir die jetzt geläufige Terminologie gebrauchen wollen, bahnte.

Doch war diese Hegemonie der ukrainischen Zentren im Dnieprgebiet nicht dauerhaft. Durch den Andrang der tatarischen Horden, der im 11. und 12. Jahrhundert andauerte, wurden gerade die Gebiete Kyjiws und Perejaslawls besonders schwer betroffen. Durch diesen Andrang wurden die wirtschaftlichen Grundlagen, die die Macht und Bedeutung dieser Zentren geschaffen hatten, zugrunde gerichtet. Die nördlichen und nordöstlichen Lande waren in dieser Hinsicht in einer viel günstigeren Lage.

Die slawischen Kolonien am Finnischen Meerbusen und an dem Oberlauf der Wolga, wo sich ein neues ostslawisches Volk — die Großrussen — herausbildete und zur Geltung kam, sind unter Führung der Fürsten aus der jüngeren (Perejaslawer) Linie der Kyjiwer Dynastie um die Mitte des 12. Jahrhunderts zu einem kraftvollen Fürstentum geworden, dessen Herrscher in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts tatkräftig daranschreiten, die Hegemonie Kyjiws zu untergraben und auf den Trümmern des Kyjiwer Staates ihre Oberherrschaft aufzurichten. Zu diesem Zwecke werden die Zwistigkeiten der ukrainischen Fürsten geschickt genährt, gegen die Kyjiwer Fürsten ihre jüngeren Verwandten aufgehetzt und Kyjiw selbst ein völliger Ruin bereitet, indem der Handel und der Wohlstand dieses Staates unterwühlt und sein Ansehen untergraben werden. Das war die Nebenbuhlerschaft des neuentstandenen großrussischen Staates (aus dem später das Großfürstentum Moskau entstand) mit seiner ukrainischen Metropole — eine Nebenbuhlerschaft, die wirklich zur Zerrüttung und zum Untergang des Kyjiwer politischen Systems und dessen alten Zentrums nicht wenig beigetragen hat, was Anfang des 13. Jahrhunderts schon ganz deutlich zum Vorschein tritt.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Die ukrainische Frage in historischer Entwicklung