Zweite Fortsetzung

II. In der sozialen Wertschätzung hatte bei den Römern wie bei den Griechen der klassischen Zeit der Landbau den Vorrang behauptet; ihm zunächst stand der Großhandel. Kleinhandel und Handwerk galten als schmutzige Gewerbe, die des freien Bürgers unwürdig, von Freigelassenen oder Sklaven ausgeübt wurden. In Rom kam es wohl vor, dass der Herr seine kunstfertigen Sklaven selbständig ihr Gewerbe treiben Hess, um an ihrem Gewinn sich zu bereichern. Der Senator, dem Standespflicht anderen Erwerb als den aus dem Ertrage seiner Landgüter untersagte, machte seine Kapitalien durch Mittelspersonen, Klienten oder Freigelassene, im Handel nutzbar. Der vornehme Römer arbeitete nicht, und es war das Verhängnis der Weltstadt, dass der geringere das Beispiel des höheren nachahmte. Die staatlichen Getreidespenden lieferten Nahrung, die öffentlichen Spiele sorgten für Zerstreuung. Jeder Bürger von Rom fühlte sich als ein Stück Weltherrscher und blickte stolz herab auf die Untertanen, die im Schweiße ihres Angesichts sich abmühten, ihn zu speisen und zu ergötzen. So ergoss sich schon früh, ganz abgesehen von den importierten kriegsgefangenen Sklaven, um die reiche Arbeitsgelegenheit zu benützen, ein Strom fremder Einwanderer nach Rom, schmarotzender Griechen, leichtfertiger Syrer — und Juden. Rom selbst war jedenfalls die erste Stadt des lateinischen Westens, in der Juden ihren dauernden Aufenthalt genommen haben; denn was von ihrer Beteiligung an den Fahrten der Phönizier nach Spanien gesagt wird, beruht doch mehr auf Vermutungen. Die Juden Roms fanden bereits bei Cicero Beachtung, sie wehklagten am Scheiterhaufen ihres großen Schutzherrn Caesar. Der Zahl nach können sie immer nur eine verschwindende Minorität gebildet haben in dem Völkergewimmel, das die Weltstadt erfüllte; noch weniger zeichneten sie sich durch Reichtum aus; aber ihr Zusammenhalten verlieh ihnen Bedeutung. Wenn ein Statthalter in seiner Provinz den Juden zu nahe trat, durfte er sicher darauf rechnen, nach der Heimkehr in Rom von der Menge ausgepfiffen zu werden.

Als Juden zuerst im Westen sich niederließen, waren sie längst weithin über die Landschaften des Ostens verbreitet. Die Diaspora der hellenistischen Zeit hatte den neu gegründeten Griechenstädten jüdische Bewohner zugeführt. Besonders zahlreich siedelten sie sich in Alexandria an, zu Philos Zeit nahmen sie zwei von den fünf Quartieren der Stadt ein, schon früher machten sie mehr als ein Achtel der Gesamtbevölkerung Ägyptens aus. Ein anderes Zentrum des Judentums in der Zerstreuung ist Antiochia geworden, die Hauptstadt Syriens. Von den vielen Gemeinden in Kleinasien geben unter anderem noch Inschriften Zeugnis; aber auch in Griechenland selbst haben Juden gelebt, in Athen, Korinth, auf den Inseln des Archipelagus und in Mazedonien. Zur vollen Wahrheit wurde das alte Orakel, dass jedes Land und jedes Meer von jüdischem Volke erfüllt sei, in der römischen Kaiserzeit. Gleich wie zuvor im griechischen Osten breiteten sich nunmehr die Juden im lateinischen Westen aus. In Britannien, Spanien, bei den äußersten der Gallier, den Morinern (in Belgien) und da, wo der Rhein sich in zwei Arme spaltet, wohnten im 4. Jahrhundert Juden. Zu Köln in der Provinz Germanien müssen sie eine ansehnliche Gemeinde gebildet haben. In Nieder-Pannonien (Ungarn) sind (lateinische) Grabsteine von Juden gefunden worden. Die meisten Spuren ihres Daseins weist Italien auf. Aus den Ruinen Pompejis ist ein irdenes Gefäß zu Tage getreten, dessen einstmaligen Inhalt die Aufschrift als rein im rituellen Sinne (koscher) bezeichnet. Katakomben zu Venosa, Grabsteine aus Kapua, Tarent, Brescia und anderen Städten deuten auf die Existenz jüdischer Gemeinden hin. Am bedeutendsten blieb wohl stets die in Rom selbst, wie ihre Begräbnisplätze und die Zahl der Synagogen beweisen.


Die Ausbreitung der Juden hat an den Grenzen des Römerreichs nicht Halt gemacht; es ist nicht einmal wahrscheinlich, dass in der späteren Kaiserzeit die Mehrzahl innerhalb des Reichs ansässig war. Palästina, einst unerschöpflich an Menschen, begann gleich den anderen Provinzen zu veröden. Babylonien, die Gegend zwischen Euphrat und Tigris, wurde für viele Jahrhunderte der Mittelpunkt jüdischen Lebens; dort waren ganze Landstriche so ausschließlich von Juden bevölkert, wie selbst kaum noch in der alten Heimat; Nahardea am Euphrat, Pumbadita, der Sitz des Lehrhauses, und Machuza am Tigris, wo die angesehensten Familien von Proselyten stammten, galten als rein jüdische Städte. In Sura, dem Sitz des zweiten großen Lehrhauses, war die Bewohnerschaft gemischt; und auch anderwärts in der Zerstreuung bildeten die Juden einen starken Bruchteil der Bevölkerung des parthisch-persischen Reiches. Dass die äußersten Ausläufer der Diaspora bereits damals nach Indien und China gelangten, ist wenigstens nicht ganz unglaublich. In dem viel näher gelegenen Arabien sollten jüdische Stämme erheblichen Einfluss auf die Entstehung des Islam gewinnen, und die dunkelfarbigen Juden Abessiniens haben an die anderthalb Jahrtausende ein der übrigen Welt nur wenig bekanntes Dasein geführt.

Die Ausbreitung der Juden des Altertums über drei Erdteile lässt sich nicht aus einer Ursache allein erklären. Äußerer Zwang hat dabei mitgewirkt; aber aus der babylonischen Gefangenschaft war doch nur ein kleiner Teil der gewaltsam in die Ferne verpflanzten nach Palästina zurückgekehrt, als Kyros ihnen die Erlaubnis zur Wiederansiedlung in der Heimat gab, und wohin die von den Römern als Sklaven fortgeschleppten gekommen sind, bleibt dem Spiel von Vermutungen anheimgestellt. Den Charakter der Freiwilligkeit trug jedenfalls in allen wesentlichen Stücken die überaus bedeutsame Diaspora der hellenistischen Zeit. Als später vollends die Römerherrschaft im Umkreis der Mittelmeerländer Staatsgrenzen beseitigte und Nationalitäten unterschiede verwischte, waren die Schranken gefallen, die den einzelnen hindern konnten, seinem Erwerbe nachzugehen, wo sich ihm die bessere Aussicht auf Vorwärtskommen bot. Dass wirtschaftliche Beweggründe auf die Zerstreuung der Juden maßgebenden Einfluss übten, ist kaum je bezweifelt worden. Nur hat man ungerechtfertigter Weise dem Handel eine Rolle zugeschrieben, die er seiner Natur nach nicht zu spielen vermochte. Wohl begab sich der Kaufmann auf Reisen, um durch Warenumsatz sein Kapital zu vermehren; aber gesättigt vom Gewinn, des mühevollen Umherziehens überdrüssig, kehrte er in die Vaterstadt zurück, legte das Kapital in Land an und beschloss in behaglicher Ruhe seine Tage als Grundbesitzer, wenn er es nicht vorzog, durch spekulative Beteiligung an den Geschäften anderer Kaufleute ohne eigene Tätigkeit sein Vermögen weiter zu vergrößern oder auch zu gefährden. Zur dauernden Niederlassung des Kaufmanns in fernen Ländern war keine unbedingte Notwendigkeit vorhanden; im Gegenteil hinderte das bewegliche Element, das der Handel in sich barg, die Sesshaftigkeit. Handelskolonien haben zu allen Zeiten bei Konjunkturänderungen sich eben so schnell aufgelöst, als sie entstanden. Wenn die Juden heimisch wurden, wohin sie kamen, so können nicht Handelszwecke sie zur Auswanderung bewogen haben.

Die Juden Palästinas und Babyloniens waren kein Handelsvolk. Anschauungen, wie sie der Talmud äußert, sind nicht vereinbar mit der Denkweise, die eine rege kommerzielle Beschäftigung hätte hervorrufen müssen: Die Weisheit ist nicht bei Handelsleuten und (reisenden) Kaufleuten zu finden. Wer Geld um Zinsen ausleiht, wird dem Hazardspieler gleich als lasterhafter Mensch erachtet. Nur für eine Bevölkerung, die sich wesentlich aus Ackerbauern und Handwerkern zusammensetzte, passen solche Grundsätze. Dass sie später unter andern Verhältnissen nicht mit dem gleichen Starrsinn aufrecht erhalten wurden, wie von der Kirche das aus derselben Quelle geflossene Wucherverbot, folgte aus der Anpassungsfähigkeit des Judentums, das den Sinn der Lehre höher achtete als den toten Buchstaben. Gänzlich der Dazwischenkunft des Handels entbehren konnte naturgemäß das Wirtschaftsleben Palästinas selbst in der vorexilischen Zeit nicht. Babylonien wurde von den großen Straßen durchschnitten, auf denen der Warenaustausch in Asien sich bewegte. Von den Häfen des persischen Meerbusens gelangten die Produkte Indiens stromaufwärts nach der Gegend, wo das alte Babylon, das parthische Ktesiphon und später Bagdad, nahe bei einander gelegen, als Zentren des Welthandels sich ablösten. Es wäre kaum anzunehmen, dass die Juden sich nicht sollten an dem regen, sie umflutenden Verkehrsleben beteiligt haben, selbst wenn wir nicht die Inschrift des Denkmals zu Ehren des Hebräers Julius Aurelius Schalmalath besäßen, das ihm im Jahre 257 Rat und Volk der Wüstenstadt Palmyra wegen seiner Verdienste bei Führung der Karawanen aufstellen ließen. Der jüdische Kaufmann war wohl zu keiner Zeit, in den Stammsitzen wie in der Zerstreuung, eine unbekannte Erscheinung; aber die Masse des Volkes fand in anderen Erwerbszweigen ihre Nahrung. Den Wert der Arbeit, auf dem Felde und in der Werkstätte, wusste die jüdische Anschauungsweise viel besser zu würdigen, als es die Griechen und Römer bei ihrer aristokratischen Gesinnung vermochten. Man hat berechnet, dass über hundert von den Weisen des Talmud das bei den klassischen Völkern verachtete, schmutzige Gewerbe des Handwerks betrieben. In der großen Synagoge zu Alexandria, einer prächtigen Basilika griechischen Stils, die im Bar-Kochba-Kriege der Zerstörung anheimfiel, hatte jedes Gewerbe seine besonderen Plätze. Gold- und Silberarbeiter, Nagel-, Nadel-, Hufschmiede und Weber saßen getrennt von einander, so dass zugereiste fremde Handwerksgenossen sich leicht ihnen anschließen konnten.

Auf das Wirtschaftsleben der Juden in der talmudischen Epoche des näheren einzugehen, die mannigfaltigen Berufsarten herzuzählen, in denen sie sich nachweislich betätigten, gehört nicht zur Aufgabe dieses Buches. Es genügt festzustellen, wie das die kundigsten Forscher übereinstimmend anerkennen, dass die jüdische Diaspora des Ostens durchaus keine besondere Vorliebe für kommerziellen Erwerb, für Groß- oder Kleinhandel bezeugte; und es liegt kein Grund zur Annahme vor, dass im Westen andere Verhältnisse obgewaltet haben sollten. Die am schwersten zu erfüllende Vorbedingung jeder dem Zuständlichen zugewandten Betrachtung ist, sich loszureißen von hergebrachten Vorstellungen, die aus unmittelbarer Anschauung der Gegenwart gebildet, zur Übertragung in eine ferne Vergangenheit sich nicht eignen können, schon deshalb nicht, weil die dabei stillschweigend vorausgesetzte Stabilität der Verhältnisse undenkbar ist. Einreißend und aufbauend hat der Fluss der Entwicklung unausgesetzt das Bestehende verändert. Wenn die Juden in der Neuzeit vorzugsweise mit Handel sich beschäftigten, so beweist dies eben nicht, dass ein gleiches im Altertum der Fall war. Ein für ihre Eingliederung in das Wirtschaftsleben des Römerreichs interessantes Moment verdient daher besondere Beachtung: Der Grundbesitz der Juden, ihre Beschäftigung mit Ackerbau und die daraus sich ergebende Verteilung auf die Gesellschaftsklassen der Possessoren und Kolonen.