Vierte Fortsetzung

IV. Die Juden hatten sich in die Gesellschaftsordnung des Römerreichs eingegliedert. Wenn sie nicht schlechthin aufgegangen sind in die ausdruckslose Masse vernichteter Nationalitäten, die den Umkreis der Mittelmeerländer erfüllte, so beruhte der Unterschied von ihren Mitbürgern allein noch auf der Lehre, zu der sie sich bekannten, und deren Vorschriften sie getreulich nachlebten.

Der religiöse Gegensatz sollte im ausgehenden Altertum größere Bedeutung gewinnen wie jemals zuvor. Der römische Staat hatte dem Judentum an sich nicht feindlich gegenüber gestanden; selbst die grausamen Verfolgungen der hadrianischen Zeit erscheinen wesentlich durch politische Motive bedingt. Bei der weitgehenden Duldung, die Rom fremden Kulten angedeihen Hess, konnten die Juden allerwärts ungehindert ihre Gebräuche üben und erschienen selbst als privilegiert im Vergleich zu ihren Mitbürgern, da sie von öffentlich-rechtlichen Verpflichtungen, die ihren Grundsätzen widersprachen, Befreiung genossen. Als erst die Nachwehen des Bar-Kochba-Krieges überwunden waren, erkannten die Kaiser das palästinensische Schulhaupt als Patriarch oder Ethnarch der Juden an, gestatteten, dass ihm Steuern entrichtet wurden, wie einst an das Heiligtum zu Jerusalem, und zeichneten ihn durch Ehrentitel aus gleich den höchsten Würdenträgern des Reiches. Von bewaffneten Leibwächtern umgeben, durch gotische Sklaven bedient, genoss der Patriarch Juda II. fast königliche Macht und Ansehen. Grade das sonst für die Römerwelt so verhängnisvolle dritte Jahrhundert verbesserte überhaupt die rechtliche und soziale Stellung der Juden. Mit Aufhebung der früheren Unterschiede in der Provinzialbevölkerung erhielten sie das römische Bürgerrecht, soweit sie es noch nicht besaßen. Dass ein oder der andere Kaiser dem Judentum besondere Gunst zuwandte, ist talmudischen Berichten wohl zu glauben. So kam es, dass der Hass gegen die Römer sich zu mildern, die Abschließung an Strenge nachzulassen begann. Soll doch der Patriarch Juda beabsichtigt haben, den Fasttag zur Erinnerung an die Tempelzerstörung abzuschaffen, weil nach Aufhören der Verfolgungen die Trauer bedeutungslos geworden sei. Nur eine beschränkende Maßregel hielt die römische Gesetzgebung aufrecht. Das von Hadrian erlassene Beschneidungsverbot blieb mit der von Antoninus Pius für die Söhne von Juden gewährten Ausnahme bestehen, womit der förmliche übertritt von Proselyten, der vorher nicht ganz selten gewesen sein kann, verunmöglicht war. Hier setzte denn auch, als das Christentum zur Herrschaft gelangte, die gegen das Judentum gerichtete Bewegung ein. Die Verfügung Konstantins, dass jeder Jude, der einen gekauften christlichen oder heidnischen Sklaven zur Beschneidung veranlasst, des Eigentumsrechts an dem Sklaven verlustig geht, darf ihrer Tendenz wegen bereits als Vorläufer von Verordnungen späterer Kaiser gelten, die im Interesse der Kirche die bürgerliche Rechtsfähigkeit der Juden minderten. Schon wenige Jahre nachher untersagte Konstantius ihnen gänzlich, fremde Sklaven zu erwerben, belegte deren Beschneidung mit Todesstrafe und den Ankauf christlicher Sklaven mit Güterkonfiskation.


Die Anfänge römisch-byzantinischer Staats-Kirchenpolitik fallen in das vierte Jahrhundert. Zur Durchführung konnte sie erst gelangen, als die Bekehrung der Reichsbevölkerung in ihrer überwiegenden Majorität zum Christentum den Kaisern die Idee nahe legte, dem wankenden Staatsgebäude in der Einheit der Kirche und des Glaubens eine neue Stütze zu schaffen. Die Ausbreitung des Christentums im Umkreis der Mittelmeerländer gehört zu den merkwürdigsten Vorgängen der Weltgeschichte. Äußere Gewalt staatlichen Zwanges, dessen die späteren Missionen niemals zu entbehren vermochten, förderte sie nur in ihren letzten Stadien. Der feste Grund war gelegt, die weitverzweigte Organisation der Anhängerschaft hergestellt, als noch die Kaiser blutige Verfolgungen über die staatsgefährliche Sekte verhängten. Auf eine Wandlung in der Sinnesrichtung der Menschheit geht das Phänomen zurück, eine Veränderung von Lebensauffassung und Weltanschauung, deren Erzeugnis das Christentum weit mehr ist, als dass es sie hervorrief. Einen, wenn auch noch so kurzen Blick auf diese Wandlungen zu werfen, ist unerlässlich, um den rechten Maßstab für die spätere Gestaltung der Dinge zu gewinnen.

Gleich der wirtschaftlichen trug im Römerreich die geistige Kultur einen aristokratischen Charakter, und hier wie dort tritt der abwärts geneigte Entwicklungsgang unverkennbar zu Tage, wenn man die Reihe der Jahrhunderte im Zusammenhange überblickt. Nicht als ob das eine unmittelbare Ursache des anderen gewesen wäre. Aus gemeinsamer Quelle floss das Sinken von Volkswirtschaft und Bildung. Der Druck des militärischen Despotismus und die Unfähigkeit des Heeres, um das sich alles drehte, dem Grenzschutz gegen die Barbaren andauernd zu genügen, brachten die tief in die Zustände des Altertums eingesenkten Keime des Verfalls zum Reifen. Im alten Athen mochte einst die ganze Bürgerschaft inneren Anteil nehmen an der Pflege von Kunst und Wissenschaft, die Werke der Dichter und Denker waren der Ausdruck echt nationalen Empfindens; jedoch schon bei der Ausbreitung über den Osten verlor die hellenische Kultur an Intensität, was sie an räumlicher Ausdehnung gewann, und den Westen vollends haben die Römer, die auf geistigem Gebiet selbst stets mehr Empfangende als Gebende waren, nur mit einem Firnis von Kultur zu überziehen vermocht, der wohl die darunter fortbestehende Barbarei verdecken, aber den Regenschauern nicht standhalten konnte, die ihn in der Völkerwanderung hinwegschwemmten. Der Glanz der Römerstädte, die Pracht der Theater und Thermen, all die technischen Meisterwerke der Kaiserzeit bargen eine erschreckende Ode und Unfruchtbarkeit des Geistes. Nur eine auserwählte Minderheit beschäftigte sich mit Literatur und Philosophie, die begüterten Aristokraten, um müßige Stunden angenehm auszufüllen, und die Rhetoren von Beruf, denen die Ergötzung der Vornehmen Nahrung bot. Der breiten Grundlage des gebildeten Mittelstandes entbehrend, erschien die Pflege von Künsten und Wissenschaften wie ein kostspieliges Zierstück für die Häuser der Reichen, nicht aber als Selbstzweck, dem ideal gesinnte Männer sich mit Leib und Seele hingegeben hätten. Mit dem Mäzenatentum der Römer war der Typus des schmarotzenden Literaten so eng verknüpft, dass er noch in der Renaissance seine Auferstehung feiern sollte, und wenn Höherstehende zu schriftstellerischer Produktion sich herabließen, bildete ihr Publikum erst recht die kleine Zahl von Standesgenossen. Mit dem geraeinen Volke hatten sie nichts zu schaffen. Beiden aber, den Gönnern und ihren Lobrednern, fehlte der innere Drang, den Kreis menschlicher Erkenntnis zu erweitern, vorwärts zu kommen in dem Verständnis von Außen- und Innenwelt. Lebendigen Forschungseifer konnten schönrednerische Phrasen nicht ersetzen. Der eigenen Schöpfungskraft ermangelnd, blickten die Nachgeborenen voll Bewunderung zurück auf die großen Alten, deren Muster die Dichter nachahmten, deren Systeme die Philosophen reproduzierten, bis ihre zusammenschrumpfende Gefolgschaft hineingezogen wurde in den Strudel, der die Massen erfasst hatte. Wohl machte sich noch in den Zeiten des Verfalles die ungemeine Begabung der Griechen geltend; der hellenistische Osten bewahrte eine gewisse Beweglichkeit des Sinnes, während schon auf dem lateinischen Westen das drückende Bewusstsein von der Greisenhaftigkeit der Welt lastete. Grade die Überlegenheit der alteingewurzelten Kultur des Ostens gegenüber der künstlichen Blüte römischer Bildung gewann auf die geistigen Wandlungen der Menschheit entscheidenden Einfluss.

Die Lehren der griechischen Philosophie konnten niemals tief in die Massen eindringen. Dem Sklaven, der nicht Herr über seine Person war, dem schwer arbeitenden Kolonen, dem Armen, der von der Hand in den Mund lebte, wussten Stoiker und Epikuräer, Anhänger des Plato und des Aristoteles gleich wenig zu sagen. Ihre Moral war die der höheren Gesellschaftsklassen und nicht verwendbar für das Volk, gleichgültig ob sie die Tugend oder den vernünftigen Lebensgenuss anpries. Nicht philosophische Weltanschauung, sondern religiöse Vorstellungen beherrschten die Massen; der alte Götterdienst, für die Gebildeten längst zur leeren Form herabgesunken, blieb in den niederen Schichten lebendig; orientalische Kulte, vom Zauber des Geheimnisvollen umgeben, fanden in den hellenistischen wie in den lateinischen Reichsteilen weiteste Verbreitung. An ihnen stärkte sich die Wundersucht, von der sich selbst die größten Geister des Altertums nicht ganz haben frei halten können. Das Bewusstsein, im alltäglichen Leben unter unmittelbarer Einwirkung übernatürlicher Kräfte zu stehen, erfasste die Menschheit mit unheimlicher Gewalt. Nach Vorzeichen und Prophezeiungen haschte begierig, wer von den Wechselfällen des Daseins umhergeschleudert, des Ankers fest gegründeter Sittlichkeit entbehrte.

Die Wirrnis antiken Aberglaubens konnte auf die Dauer das religiöse Bedürfnis nicht befriedigen; aber mit Notwendigkeit zog sie in ihre Kreise, was von reineren Gedankengängen ihr näher trat. Das Christentum, als jüdische Sekte entstanden, verdankt seinen ursprünglichen Ideengehalt dem Judentum. Hinausgetragen in die empfängliche Zeit streifte es gar schnell den anfänglich ihm anhaftenden Charakter kommunistischer Schwärmerei ab. Die liebevoll gepflegte Erinnerung an den Stifter verknüpfte sich mit einem Mythos, der, Weltanfang und das in nächster Nähe erwartete Weltende umspannend, seinen Mittelpunkt fand in der Person des Erlösers, der gekommen sei, die Welt von der auf ihr lastenden Sündenschuld zu befreien. Griechische Logik vermittelte dem System Geschlossenheit, römisches Organisationstalent einigte die Anhänger zu einer fest verbundenen Körperschaft. Vom Staate weder anerkannt noch folgerichtig unterdrückt, gewann die Religion der niederen Klassen Einfluss auf die höheren, die überdrüssig des leeren Streits philosophischer Schulmeinungen und des nichtigen Wortgeklingels prunkender Schönredner Aufklärung über die höchsten Fragen des Daseins suchten, wo sie untrügliche Gewissheit zu finden meinten. Verzweifelnd an seiner Fähigkeit zur Erkenntnis auf dem Wege des Denkens, flüchtete das müde Geschlecht in die Arme des Glaubens.

Immerhin war erst ein kleiner Teil der Bevölkerung des Römerreichs dem Christentum gewonnen, als der Staat seine Haltung Änderte. Die römische Staatsreligion, in äußerem Formelwerk aufgehend, verfehlte ihren letzten Zweck. Die dem Kaiser gezollte göttliche Verehrung konnte ihm die Treue der Legionen nicht sichern, noch schützte sie ihn vor dem Dolch des Meuchelmörders. Schließlich waren die Kaiser selbst Menschen ihrer Zeit, erfüllt von jenem mirakulösen Triebe, der sorgsam die Augurien sammelte, welche dem Knaben vorausverkündeten, dass er — und wenn auch nur wenige Monate — das Diadem tragen werde. Sie haben im dritten Jahrhundert, als nicht mehr ausschließlich eingeborene Römer zum Thron gelangten, sich orientalischen Kulten zugewandt. Konstantin der Große machte die Wahrnehmung, dass der Christengott, unter dessen Zeichen er den Sieg an der milvischen Brücke über den stärkeren Widersacher Maxentius erfocht, den Dämonen überlegen sei. Ein Traum hatte ihm das Wunder vorher offenbart; das Chrismon festigte seinen Helm gegen Hieb und Stich im Getümmel der Schlachten. Nicht politische Rücksichten waren für die Hinneigung Konstantins zum Christentum entscheidend, sondern eine innere, vermöge unmittelbarer Erfahrung zum Durchbruch gelangte Überzeugung.

Noch war mit dem Kaiser nicht alles gewonnen. Dogmatische Streitigkeiten spalteten die Kirche; Verfolgungen der Ketzer begannen früher als die von Heiden und Juden. Julian „der Abtrünnige" durfte es wagen, der christlichen eine auf hellenistisch-philosophischer Grundlage beruhende Religion entgegenzustellen. Der Versuch scheiterte, und nicht bloß an dem frühen Tode seines Urhebers, bewirkte jedoch, dass die Durchdringung des Staats mit exklusiv christlichen Tendenzen sich um Jahrzehnte verzögerte. Der Ausgang des Kampfes zwischen Christentum und antiker Weltanschauung konnte nicht zweifelhaft sein. Selten genug leistete die Menge Widerstand, wenn bekehrungseifrige Geistliche altehrwürdige Götterbilder zerstörten und Heiligtümer niederrissen. Die Philosophen, selbst religiöser Mystik hingegeben, wussten nicht dem Glauben die reale Erkenntnis entgegenzusetzen. So vollzog der Staat fast nur die Rolle des Totengräbers an dem griechisch-römischen Heidentum, als er die Opfer verbot, die Tempel schloss, den Priesterkollegien und Philosophenschulen die Einkünfte entzog.

In seinem Streben nach Alleinherrschaft stieß das Christentum nur an einer Stelle auf unüberwindlichen Widerstand. Das Judentum, fest begründet in der Lehre, schützte sich durch den Zaun der Gesetze vor dem Eindringen fremdartiger Anschauungen. Rein und unversehrt hütete es seinen Kern, den Einheitsgedanken, inmitten der Zersetzung alter und Hervorbildung neuer religiöser Vorstellungen. Den Kampf um die Beherrschung der Welt konnte und durfte das Judentum nicht aufnehmen. Bei Ausbreitung unter die von unklarem Drange erfüllten Massen hätte es sich Ideenrichtungen anbequemen müssen, die seinem Wesen widersprachen. Durch die Abwehr allein erfüllte es seine Aufgabe, die Lehre unbefleckt zu bewahren. Dem großen Zwecke diente das Riesenwerk des Talmud, das grade in dem Zeitalter, als das Christentum mit der antiken Weltanschauung rang, seine beste Förderung gefunden hat. Abgesondert von der übrigen Welt und doch in steter Berührung mit den Zeitströmungen, entwickelte im Talmud das Judentum folgerichtig seinen Ideengehalt und schuf sich Formen, die Gewähr für Dauer boten. Kein starres Lehrgebäude hat die Denkarbeit der vielen Generationen aufgerichtet, die sich am Talmud betätigten. Den Geist zu bilden war der Zweck, nicht ihn unter das Joch einer einzigen Meinung zu zwingen, während die Kirchenväter mit orientalischer Phantasie und griechischer Logik ein Dogmensystem ausgestalteten, an das zu glauben sie als notwendig für das Jenseits und gar bald auch für das Diesseits hinstellten.