Fünfte Fortsetzung

V. Die Stellung der Juden in Staat und Gesellschaft war gerade in den Zeiten des Übergangs durchaus keine ungünstige gewesen. Zerstreut über den Erdkreis, in die sozialen Klassen eingereiht, teilten sie unterschiedslos Leiden und Gefahren mit den anderen Bewohnern der Mittelmeerländer. Sie trugen die Lasten des Staats und genossen seinen Rechtsschutz. Es fehlt nicht an Gesetzen, die von Kaisern des 4. Jahrhunderts zu ihren Gunsten erlassen wurden, auch abgesehen von den aus Feindschaft gegen das Christentum entsprungenen Maßnahmen Julians. Schon das Toleranzedikt, mit dem Konstantin der Große die Wendung in der römischen Religionspolitik einleitete, musste in seinen Wirkungen den Juden zugute kommen, trotz der Einschränkungen, denen es bald unterlag. Ihrer Betätigung in Staatsämtern stand nicht mehr das Hindernis einer damit verbundenen Teilnahme an heidnischen Kultushandlungen entgegen. Gewaltsame Störung oder Verhinderung des jüdischen Gottesdienstes, dessen Ausübung stets erlaubt gewesen war, haben noch spätere Kaiser durch besondere Erlasse strengstens verboten. Konstantin selbst verlieh den Vorstehern der Synagogen und Lehrhäuser das Privileg der Befreiung von persönlichen und realen Lasten, — gleich den christlichen Klerikern, wie es in der Bestätigung der Verordnung durch Arkadius und Honorius heißt. Die, welche etwa bereits Dekurionen wären, sollten zu keiner Leistung herangezogen werden, andere vom Eintritt in die Kurien ausgenommen sein. Wenn sonst Juden in die Kurien berufen werden durften, so lag darin eine Schmälerung früherer Vorrechte, die den einzelnen wohl schwer belasten mochte, im ganzen aber als notwendige Folge der Rechtsgleichheit nur beitragen konnte, das Bewusstsein einer Sonderstellung der Juden zu verwischen. Die jüdische Gemeinde Verfassung blieb nichtsdestoweniger in Kraft. Gerichtsbarkeit in allen mit der Religion zusammenhängenden Angelegenheiten stand den vom Patriarchen eingesetzten Richtern zu. Diese verhängten mit dem Bann die Ausstoßung aus der Gemeinde, deren Anerkennung sich die Staatsgewalt nicht entzog. Im übrigen lebten die Juden nach dem gemeinen Recht des Römerreichs und führten als Kläger und Beklagte ihre Prozesse vor den ordentlichen Gerichten, doch war gestattet, bei Übereinstimmung beider Parteien in Zivilsachen den Schiedsspruch der jüdischen Richter anzurufen, ein nicht gerade weitgehendes Zugeständnis, von dem gewiss viel Gebrauch gemacht wurde, schon um die leicht eintretenden Kompetenzkonflikte zwischen geistlicher und weltlicher Jurisdiktion zu vermeiden.

Dass zwischen Juden und Christen fortdauernd erbitterte Feindschaft obwaltete, ist ein noch neuerdings wiederholter Irrtum. Bei dem schroffen Auseinandergehen der Bekenntnisse hat es nicht an Reibungen zwischen ihren Anhängern gefehlt. Es kam wohl vor, dass ein Christ die Sabbatfeier in der Synagoge störte oder Juden ihrem Widerwillen gegen Abtrünnige allzu handgreiflichen Ausdruck verliehen. Über solchen Einzelerscheinungen darf aber nicht vergessen werden, dass die Verbreitung jüdischer Ideen in der Römerwelt, wie sie nun einmal das Christentum herbeiführte, an sich nur geeignet sein konnte, bereits bestehende Gegensätze zu mildern. Die Sabbatruhe, der bild-lose Kultus hörten auf, dem Spott als Zielscheibe zu dienen. Der Kanon des hebräischen Schrifttums, von den Christen anerkannt und, nach ihrer Auslegungsweise freilich, in die Landessprachen übertragen, wurde der gemeinsame Boden zur Ausfechtung literarischer Fehden und mündlicher Disputationen. Ein derartiges Bindeglied mit dem Hellenismus hatte gefehlt; zum antiken Götterglauben führte keine Brücke hinüber. So wird es verständlich, dass früher, um Verfolgungen zu entgehen, Christen den jüdischen Gemeinden sich haben anschließen können. Aus späterer Zeit bezeugt ein Empfehlungsschreiben des römischen Bischofs Gelasius für einen Juden recht freundschaftliche Beziehungen; und wenn es sich hierbei wiederum nur um einzelne Fälle handelt, die Tatsache, dass Judentum und Christentum einander näher stehen als dem Heidentum, ist von beiden Seiten kaum je geleugnet worden. Darin liegt offenbar der letzte Grund für die auffällige Erscheinung, dass verhältnismäßig spät erst der christliche Bekehrungseifer den Juden sich zuwandte.


Die erste der unzähligen von der Kirche über die Juden heraufbeschworenen Verfolgungen fällt in das Ende des 4. und den Beginn des 5. Jahrhunderts. Nur von einzelnen, scheinbar zusammenhanglosen Ereignissen ist uns Kunde aufbewahrt. Vergleicht man die Vorgänge an den entlegensten Orten, so ergibt sich ein ganz systematisches Verfahren. Nicht eigentlich gegen die Personen richtete sich der Angriff, sondern gegen Gebäude. Die Synagogen wurden zerstört, gleich wie heidnische Tempel, damit die Gemeinden, des Vereinigungsortes beraubt, sich auflösten und ihre Mitglieder zur Taufe sich bequemten; denn Bekehrung war das Endziel, nicht Vertreibung oder Ausrottung. Am anschaulichsten schildert den Verlauf einer Judenmission der Bericht über die Taten eines Bischofs Severus zu Magona auf der Insel Menorca, von ihm selbst erstattet in einem Rundschreiben, das seine Amtsbrüder zur Nachahmung auffordern sollte. Hier tritt es deutlich hervor, welcherlei Mittel zur Ausrottung des Unglaubens dem Vorkämpfer Christi recht erschienen.

Die Bemühungen um gütliche Überredung stehen nur am Anfang; Träume, Visionen, Zeichen und Wunder spielen eine viel wesentlichere Rolle; den Erfolg aber, dessen der Bischof sich rühmt, führte äußerer Zwang herbei, geübt durch sein Gefolge von Mönchen und die aufgerufenen Volksmassen, deren ohrenbetäubendes Geschrei schließlich auch die stärksten Nerven erschütterte. Nicht überall lief der „Glaubenskrieg" ohne Blutvergießen ab. Der mord- und raublustige Großstadtpöbel von Alexandria schlug sich im Namen der Orthodoxie mit den Juden herum, wie früher für seine alten Götter, und zerriss die Philosophin Hypatia, wie einst einen christlichen Bischof. Immerhin wurzelte die Bewegung nicht in einer ausgeprägt judenfeindlichen Stimmung des Volkes, sondern war künstlich angefacht. Der Bischof Severus ist ehrlich genug einzugestehen, dass alles, was zu Magona geschah, von ihm veranlasst wurde. Cyrillus von Alexandria hielt sich mehr im Hintergrunde. Andere Kirchenväter, Chrysostomus von Antiochia und Ambrosius von Mailand, wirkten durch Wort und Schrift im gleichen Sinne; aber ein Gewinn von 540 Seelen, wie ihn Severus erzielt haben will, muss selten gewesen sein. Der Sturm, dem sich die Hellenen beugten, umbrauste wirkungslos die Juden. Aus eigener Kraft konnte die Kirche gegen den zähen Widerstand nichts ausrichten; so suchte sie die Hebel der Staatsgewalt in Bewegung zu setzen.