Zweite Fortsetzung

Es wurde den Ansiedlern zur Pflicht gemacht, wenn sich eine Gruppe solcher Leute zusammengefunden hatte, vorher einen Bevollmächtigten nach Sibirien zu schicken, um das gewünschte Land zu besichtigen.

Die Regierung verlangte auch Nachweis von Mitteln, damit nicht gänzlich Mittellose sich zur Auswanderung drängten. In Tscheljabinsk wurden alle Personen ärztlich untersucht und Infektionskranke zurückgehalten. Die Untersuchung wurde beim Verlassen der Bahn wiederholt. Die Regierung schaffte unentgeltlich ärztliche Hilfe, ließ eine Reihe von Rastorten mit heizbaren Baracken, mit Garküchen, Krankenhäusern u. s. w. einrichten.


Aber als 1898 die Hungersnot im inneren Russlands sich in ihrer grässlichsten Gestalt zeigte und die Landbevölkerung zum Verlassen der gewohnten Scholle scharenweise drängte, konnte die Regierung ihre wohlgemeinten Anordnungen nicht aufrechterhalten.

„Aber die besseren Landstrecken waren vergeben, man musste minder guten Boden besiedeln, wo bisher noch keine Kolonisation stattgefunden hatte. Die Einwanderer konnten von ihren Nachbarn nicht unterwiesen werden, weil's keine Nachbarn gab. Man musste die Behandlung des Bodens erst lernen; dazu gehören Betriebsmittel. Wer sie nicht hatte, versuchte sein Glück anderswo, wechselte den Wohnsitz und kehrte gar in die Heimat zurück.

Es konnte für die Bahn sogar gefährlich werden, wenn größere Scharen von Einwanderern zu vagierenden Proletariern herabsanken und die große Zahl der bettelnden Vagabunden vermehrte.“ (A. Z. 24. März 1901.) Die Regierung ließ es sich ferner angelegen sein, Landstriche, die in ihrem Naturzustand für Ansiedlung unbrauchbar waren, durch künstliche Anlagen zu verbessern, so die trockene Steppe von Ischim, Nebenfluss des Irtysch, und die zu feuchte Barabasteppe zwischen Irtysch und Ob. Denn nach dem die Ländereien längs der Bahn vergeben waren, breitete sich die Ansiedlung einerseits nach Norden ins Waldgebiet, andererseits nach Süden in die von der Bahn entfernteren Steppen aus. In der Ischimschen Steppe ließ die Regierung gegen 1000 Brunnen graben, in der Barabasteppe wurden Entwässerungskanäle in der Länge von 700 km gezogen.

Auf solche Weise sind in neuester Zeit über 55.000 qkm Land bereits von Ansiedlern eingenommen.

Und die Zahl der Einwanderer wird natürlich noch wachsen, je weiter die Eisenbahn vordringt und neues brauchbares Land erschließt.

Im Gütertransport, den die Bahn schon besorgt, wird man vor allem den raschen Wandel bemerken, den der sibirische Verkehr durch die Eisenbahn gewonnen hat.

„An Stelle der vielen alten Messen sind ständige Warenlager getreten. Mehrere Moskauer Firmen haben bereits in den größeren Städten, die im Bereich der Bahn liegen, Zweigniederlassungen gegründet. Viele sibirische Kaufleute sind jetzt durch Agenten in der russischen Handelshauptstadt vertreten und die Monopolstellung, die unter der Jahrmarktverfassung einige Großhändler für den Fernabsatz sich errungen und ausgenutzt haben, ist gebrochen, da der schnellere Warenumsatz auch geringere Kapitalien zur Geltung kommen lässt (Wiedenfeld, Sibir. Eisenbahn 129).

Somit wird auch die größte sibirische Messe, die seit 1643 in Irbit besteht, ihre Bedeutung verlieren. Schon 1899 erschienen mehrere große sibirische Firmen nicht mehr, weil sie direkt mit Moskau verkehrten.

Von den Erzeugnissen der Landwirtschaft in Westsibirien kommt Getreide zuerst in Frage. Die Ausführung wird zum Teil nach Ostsibirien gehen, wo häufiger Missernten vorkommen als in Westsibirien; dann aber auch nach Russland. Aber wegen der langen Landreise des Getreides kann Sibirien nicht mit Amerika und Argentinien wetteifern.

Doch sind schon einmal 1898 240 Wagen sibirischer Weizen direkt nach Schlesien gegangen. Aber bis jetzt sind die Mengen des ausgeführten Getreides noch gering: 1898 nur 332.000 t, während das europäische Russland 10 Millionen t ausführt.

Gegenwärtig ist dem Werte nach der Viehtransport noch größer als die Getreideausfuhr. Seit dem Sommer 1899 wird wöchentlich auch ein besonderer Butterzug abgelassen, der in 10 Tagen vom Ob nach Reval fährt mit 20—25 Kühlwagen. Die Butter geht nach Deutschland und Dänemark. Der Wert betrug 1897 schon 9 Mill. Mark. (Wiedenfeld.)

Weiterhin kommen in Frage Metalle, namentlich Gold, denn Sibirien liefert 2/3 der ganzen russischen Gewinnung.

Weniger wichtig wird oder ist bereits der Pelzhandel. Seitdem die Jagd frei gegeben, hat die Zahl der erlegten Pelztiere ganz gewaltig abgenommen:

Felle 1836 1889
Zobel 18.000 106
Hermelin 45.000 12.778
Eichhörnchen 615.000 83.075
(Peterm. Mittl. 1897. 269.)

Aber von Westen her macht sich auch bereits der Einfluss geltend, den in Handel und Industrie fremdes Kapital ausübt. Nicht bloß, dass z. B. Warschauer Fabrikanten in Omsk, Petropawlowsk und Tomsk Niederlagen ihrer Produkte ein richten oder dass schon im Sommer 1897 1.000 Pflüge deutscher Fabrik in Omsk verkauft wurden: im Ural ging die Hälfte der Platinbergwerke, wohl der größte Schatz des Urals, an ausländische Kapitalisten über.

Und als darüber bei den Russen großer Lärm und Eifersucht erregt wurde, musste Professor Janshul seine Landsleute darauf hinweisen, dass von jeher Ausländer die Lehrmeister in der russischen Industrie gewesen seien, dass die russischen Eisenbahnen mit ausländischen Kapitalien gebaut seien. Nur auf diese Weise, sagt er, bedeckte sich Russland — gut oder schlecht — aber verhältnismäßig schnell mit Verkehrswegen, die vollkommener und zivilisierter sind, als die von den Bastschuhen der Bauern eingetretenen Wege der alten Zeit. Nach amerikanischen Berichten sind 1896/97 ausländische Kapitalien von 40 Mill. Dollar nach Russland geflossen. Ohne diese Hilfe lägen die Schätze noch lange im Schoße der Erde tot, während sie jetzt Russland bereichern.

Aber mit weiterer Zunahme des Verkehrs ist natürlich der einzige Ausgang der sibirischen Bahn nach Westen, von Tscheljabinsk nach Samara, gar nicht imstande, die aufgegebenen Frachten alle zu befördern. Die russische Regierung hat daher beschlossen, noch zwei neue Abzugsstraßen nach Russland durch Bau von Eisenbahnen zu schaffen. Danach soll die von Tscheljabinsk nordwärts über Jekaterinburg nach Perm laufende Linie weiter über Wjatka und Wologda nach Petersburg geführt werden und außerdem von Tscheljabinsk nach Nordwesten die Linie Kasan—Moskau eingelegt werden, so dass dann drei Strahlen von der Hauptlinie ins Innere von Russland führen.

So sind also die Wirkungen der sibirischen Bahn nach und von Westen. Anders liegen die Verhältnisse am östlichen Ende der Bahn, in Wladiwostok und im Amurgebiet. Wladiwostok ist der Mittelpunkt des Verkehrs, Messen und Märkte wie in Westsibirien gab es hier nicht, der Kaufmann hat seinen festen Wohnsitz. Aber von Wladiwostok reichen die Handelsbeziehungen bis Irkutsk.

Nach Wiedenfeld (S. 129) ist das erste und größte Handelshaus in Wladiwostok die Hamburger Firma Kunst und Albers.

Wladiwostok hat vorwiegend Einfuhrhandel, denn die Eisenbahn liefert die Waren nach Chabarowsk am Amur für den dritten Teil des Preises, den die See und Flussfracht kostet.

Aber hier im Osten ist weder die Bahn von Wladiwostok Westwärts noch von Port Arthur nordwärts durch die Mandschurei, zur Vollendung gebracht; daher hier im Osten die unmittelbaren Wirkungen der Eisenbahn noch wesentlich geringer sind.

Indes wird die Vollendung nicht mehr lange auf sich warten lassen und ist dann gleichfalls die Baikalringbahn fertig und damit das große Unternehmen vollendet, dann wird sich ein gewaltiger Umschwung in der politischen und merkantilen Machtstellung Russlands klar zeigen.

Sibirien wird dann erst ein engverbundener Teil des großen Reiches, und auch die Mandschurei wird trotz seiner großen chinesischen Bevölkerung, von zwei Eisenbahnen förmlich umklammert, so gut wie die andern ostasiatischen Gebiete eine russische Provinz und Russlands Machtsphäre bis ins chinesische Reich hineingetragen. Wenn schon bei unvollkommener Bahn Russland imstande war, nach Ausbruch des chinesischen Kriegs in kurzer Zeit eine Armee von 68.000 Mann mit 17.600 Pferden und 3.200 Fuhrwerken nach dem Osten zu senden, so wird später die Machtentwicklung noch viel rascher vor sich gehen und Russland alle anderen europäischen Mächte in dieser Beziehung weit hinter sich lassen.

Dann wird aber auch der Weltverkehr in seinen Bahnen den Einfluss der neuen Weltstraße verspüren.

Schon im Jahre 1896 stellte die „Allg. Zeitung“ (15. Nov.) folgendes Prognostikon für die zukünftigen Leistungen der sibirischen Bahn auf:

Das ganze anglo-indisch-australische Felleisen wird diesen neuen Weg gehen. 1883 betrug dasselbe schon 842.448 kg Postsachen. Die britische Post zahlte 1885 an die Regierungen von Frankreich und Italien für die wöchentlichen Postbeutel Calais-Brindisi 1.400.000 Frcs. oder 2 Frcs. für das Kilo Briefe und 25 Cts. für das Kilo Drucksachen. Zur Interessensphäre der sibirischen Bahn gehört alles Land östlich vom 80. Grad östl. v. Gr., also Japan, China, Annam, Siam u. s. w.

Etwas bescheidener und vorsichtiger berechnet Wiedenfeld den Interessenbereich der Bahn in Ostasien; aber er zieht doch auch den ganzen japanischen und chinesischen Verkehr dahin und meint, die Grenze der Land und Wasserstraßen werde etwa in Hongkong liegen und zwar dergestalt, dass alle Länder südlich von Hongkong wie bisher die Verbindung mit Europa durch den Suezkanal, nördlich dagegen durch Sibirien aufsuchen würden.

Vor allem Tee und Seide, die zum Teil in der letzten Zeit statt über Suez über Kanada nach Europa kamen, werden ihren Weg durch Sibirien nehmen. Und besonders wird in Ostasien auch das rührige Volk Japans die neuen Vorteile wahrnehmen. Wie es sich wirtschaftlich immer mehr selbständig macht und selbst europäischen Wettbewerb aus dem Felde schlägt, so finden sich jetzt schon japanische Kohlen und japanische Zündhölzchen von Ceylon bis Wladiwostok, und trinkt man in den Häfen des Stillen Ozeans nur japanische Biere. Nicht bloß in China nimmt die Zahl der japanischen Kaufleute überhand; in Korea haben sie jeden fremden Wettbewerb verdrängt. Sogar auf den deutschen Karolinen beherrschen sie den Handel. Und haben sie erst, was jetzt ihr Plan ist, chinesisch-japanische Handelsgesellschaften gegründet und erfreuen sich dabei der Gunst sowohl der Bevölkerung als der chinesischen Behörden, dann sind sie die einzigen Asiaten, deren Tätigkeit auf der sibirischen Bahn nicht zu unterschätzen sein wird und in dem Maße vielleicht selbst von den Russen nicht erwartet ist.

Aber die Folgen sind zunächst nicht zu erwarten, solange der Bahnbau durch Sibirien nicht zum Abschluss gekommen ist. Denn die Vollendung der Bahn hängt auch von den zu beschaffenden Mitteln ab.

Von 1891—1898 (Ende) beliefen sich die russischen Staatsanleihen im Ganzen auf beinahe 8.000 Mill. Mark, während 1899 die gesamte russische Staatsschuld sich aus 13.000 Mill. Mark belief; wofür 617 Mill. Mark Zinsen alljährlich aufzubringen sind, d. h. 1/3 des Staatsbudgets. —

Ohne Anleihen kein Eisenbahnbau.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Die sibirische Eisenbahn