Clara pacta, boni amici

Es gibt in Österreich tatsächlich kaum einen Volksstamm, der aus seiner Vergangenheit so viel Leidensgeschichten zu erzählen wüsste, wie die österreichischen Kleinrussen. Gleichsam am „Scheidewege“ des Slawentums ansässig, waren sie ein ewiges Kampfobjekt zwischen der römisch-deutschen und der slawisch russischen Vormacht in Mitteleuropa . . . Kein Wunder, dass diese Vivisektion schreckliche Wunden am Leibe der Kleinrussen geschlagen hat. Im Jahre 1350 werden sie nach dem Aussterben ihrer Fürsten von Halicz und Wladimir — aus dem Hause Ruriks — der Macht des Polenkönigs Kasimir unterstellt, wobei letzterer dieses sein Recht gegen 100.000 Golddukaten von dem gleichfalls erbberechtigten Ludwig dem Großen erkaufen zu müssen glaubte. Die Herrschaft Kasimirs war für die unterjochten Kleinrussen keine segenbringende. Gewaltsame Ausrottung alles Russisch-Nationalen, insbesondere der kirchlichen Gebräuche und des orthodoxen Ritus, war kennzeichnend für die Herrschaft dieses fanatischen Katholiken. Kein Wunder, dass nach seinem Tode in den orthodoxen Kirchen statt Trauer-, Jubelandachten veranstaltet wurden . . . Allein die Freude währte nicht lange. Nach 7jähriger Herrschaft der humanen Tochter Ludwig des Großen fällt das rotrussische Fürstentum wieder der polnischen Adelsherrschaft anheim. Während nämlich die Königin Marie von Ungarn bei sich zu Hause einen Aufstand der Baronen unterdrückt, überfallt Königin Hedwig, Schwester der Königin Marie und zweite Tochter Ludwig des Großen — über Drängen des polnischen Adels — die rotrussischen Länder und nimmt sie ein. Die Okkupation sollte aber diesmal für immer dauern . . . Jetzt erst beginnt für Rotrussland, und zwar für Hunderte von Jahren, ein wahres Martyrium . . . . Die russischen Kirchen wurden geschlossen, der orthodoxe Adel gewaltsam latinisiert oder aus seiner sozialen und politischen Stellung verdrängt, die bis dahin freien Bauern an die Scholle gebunden — mit einem Worte, es entbrennt ein innerer, langsamer aber hartnäckiger Kampf religiös-nationaler Natur. Der polnische Adel ficht ihn aus im Namen der Kulturmission — für Rom und den lateinischen Katholizismus; Rotrusslands Adel wehrt sich dagegen, weil er darin einen Vorstoß der westeuropäischen Feudalherrschaft erblickt. Dieser langwierige, innere Kampf zwischen dem polnischen Adel, seinem König und dem kleinrussischen Adel wurde förmlich abgeschlossen in dem Unionsvertrage von Lublin, im Jahre 1669. Rotrussland und Litauen wurden durch diesen Vertrag in aller Form unter der polnischen Krone zu einem gleichberechtigten und gleichverpflichteten Staatsganzen miteinander vereinigt. Dieser internationale Vertrag, welcher gegenüber dem rotrussischen und litauischen Adel bezüglich der Vorteile ein leoninischer genannt werden muss, wird sodann bekräftigt durch einen neuen Vertrag allgemeiner Natur. Es sollte in dem obgenannten Bundesvertrage nachträglich noch das gemeine Volk, als Dritter im Bunde, seine Nebenintervention leisten. Zum politischen Vertrage von Lublin kommt noch ein religiöser — dies aber hauptsächlich nur zu dem Zwecke, um der politischen Union durch einen Vertrag mit der Gesamtheit das Siegel der Allgemeinheit aufzudrücken. In der Bulle des Papstes Klemens VIII. „Magnus Dominus“ wird der bekehrten Nation — „nationi Russorum seu Ruthenorum“ — für den bevorstehenden Akt der religiösen Vereinigung der Orthodoxen Rotrusslands und Litauens mit Rom ein reichlicher Segen gespendet, worauf in Brest im Jahre 1596 von der Minderheit der Bischöfe der römische Papst als kirchliches Oberhaupt der rotrussischen — von nun an griechisch-katholischen — Kirche publice anerkannt wird.

Allein die der Kirchenunion verfallenen Bischöfe werden vom russischen und litauischen Volke fortgejagt oder gar ermordet. Am hellichten Tage wird dem Bischöfe von Polock, dem später von Rom heilig gesprochenen Josafat Kuncewicz, während einer Andacht mit einer Axt der Kopf entzwei gespalten und seine Leiche hierauf von der aufgeregten Volksmenge in einen Fluss geworfen. So sah der Anfang der religiösen „unio“ aus; die Weiterfolge und das Ende standen noch bevor. Die politische Union von Lublin regelte ja vornehmlich die politischen Rechte und Pflichten des Adels aller drei staatsrechtlich vereinigten Provinzen (Polens, Rotrusslands und Lithauens). Die kirchliche Union von Brest war aber etwas mehr. Sie war ein Strick um den Hals nicht so sehr der orthodoxen Kirche und des orthodoxen Klerus, als vielmehr ein Kettenband, gelegt an die freien Bürger Litauens und Rotrusslands. Der römisch-deutsche Feudalismus steckte darunter und dieser begann nun seine Arbeit. Er wütete furchtbar unter dem Volke; er wollte sich um jeden Preis einnisten und den urwüchsigen, freien Bürger, Bauer und Handwerker zum Sklaven machen.


Das Volk wollte aber dieses neue Feudalrecht, diese tatsächliche Knechtschaft durch Polen nicht lange dulden. Ende des XVI. und Anfang des XVII. Jahrhunderts kommt es zu sozialen und national-politischen Bürgerkriegen, zu einem fast 100jährigen Aufstand des Volkes als solchem. Die am Dnjepr und am Schwarzen Meere, an der sogenannten „Ukraine“ (Grenzland, Grenzinarke) hausenden, durch und durch republikanisch gesinnten Kosaken wollen die Freiheit ihrer weiten Steppen mit dem schönen azurblauen Himmel nicht ohne weiteres aufgeben. Sie rüsten, sie organisieren sich mit großer Eile, mit großem Wagemut. Die unzufriedenen, flüchtigen und von den „fremden Herren“ verfolgten Elemente — seien es Adelige, seien es Bauern oder Knechte — verstärken ihre Reihen. Es kommt zu einem Aufstand vom Schwarzen Meere bis an den Niemen und die Karpaten. Alles was lebt steht auf, revoltiert gegen die römisch-polnische Feudalherrschaft, gegen Volkssklaverei und Knechtung der freien Bürger. Ein schlichter Mann, namens Bogdan Chmielnickij, dem ein Schlachzize Czaplinski mit Hilfe der Soldaten seine schlanke Ehegattin geraubt hatte, stellt sich an die Spitze der aufrührerischen Volksmasse. Es entbrennt ein Kampf in allen Gauen, es lodern in heiteren Flammen die herrlichsten Schlösser, Klöster und Städte und das massenhafte Schlachten und Morden verschont nicht den Fürstenadel, nicht den fürstlichen lateinischen Klerus. Der Aufruhr der Massen — voll Rache, Zorn und Blut — reicht bis an Zbaraz, Zborow, Sokal und Lemberg!

An den Dachzinnen der Lemberger lateinischen Kathedrale hängen bis heute, an kurzen Ketten befestigt, kugelförmige Kanonengeschosse des „Vaters" („batjko") Bogdan Chmielnickij. Bis heute noch will das Volk in dem Bernhardinerkloster einen Brunnen wissen, an welchem die polnischen Adeligen die von ihnen zur Mahlzeit geladenen orthodoxen Gäste massenhaft geköpft und ihre Leichen sodann — nach dem Bericht des Geschichtsschreibers Kostomarow — in den besagten Brunnen hineingeworfen hatten. Fürwahr, ein drastisches Beispiel der — vielleicht von einem vorausgehenden Segen begleiteten — Gastfreundschaft der Klosterbrüder. Ja es wird sogar in der volkstümlichen Geschichtsliteratur erzählt, dass ein Kosakenhauptmann seinen eigenen Sohn erdolchte, weil letzterer eine schöne Polin — jedenfalls Katholikin — geheiratet habe.

Diese traurigen und verrohten Zeiten waren aber nicht ohne tragische, manchmal komisch tragische Kriegsepopöen.

*) Wie sich das Gefühl der Menschlichkeit damals abgestumpft hatte, beweist zur Genüge die Tatsache, dass die tüchtigsten Kosakenhetmans, wie z. B. Nalevajko, am heilichten Tage in Warschau vor den Augen des versammelten Volkes gemartert, „gerädert" oder in „Messingochsen" (byki) lebendig gebrannt und verbrannt wurden.

Kriegsrühmliche Taten, Kriegsverrat, nächtliche Überfälle, treubrüchige Renkontres, ja ein Raub der adeligen Töchter durch einen Kosaken vor den Augen des wehrlos gemachten Vaters, alles das waren Vorwürfe für Darstellungen berühmter Künstler, wie Repin, Brandt, Makovski, Kowalski u. a. m. Packende, ergreifende Szenen aus diesen Zeiten schildern uns berühmte polnische und russische Romanciers, z. B. Gogol, Sienkiewicz u. a.

Im Jahre 1653 sollte aber diesen schrecklichen Brüderkämpfen der beiden slawischen Völker ein Ende gemacht werden. Der müde und in seinem Gemüte düstere Kosakenhetman, Bogdan Chmielnickij, rief nach Peresjaslavlj seine Kosaken, „das gesamte Volk“, zu einer Generalversammlung. Er wollte einerseits dem Blutvergießen ein Ende machen, anderseits das Schicksal des bis dahin tatsächlich unabhängigen und bisweilen republikanisch regierten Kosakentums für die Dauer festigen, sichern. Nach kurzen Debatten rief das versammelte Volk nach detaillierter Befragung: „Wir wollen unter die Herrschaft des pravoslavnyj car. Gott segne und festige die Einheit des Russentums!“ . . . So sprach einmütig die Volksstimme. . . . Ein Monument in Kiew, den tapferen Bogdan Chmielnickij auf einem Steppenross und mit erhobenem Hetmanszepter darstellend, verewigte dieses geschichtliche Ereignis . . . Das gesamte Russentum spendete dem wackeren und weitblickenden Hetman das großartige Denkmal. Es ließ außerdem auf dem hohen, gewaltigen Felsblock in Gold eingravieren die Worte: „Das einheitliche und untrennbare Russentum . . .“

Allein trotz des Peresjaslaverpaktes dauerte der religiös-politische und soziale Gegensatz zwischen den demokratischen Bestrebungen der Kleinrussen und den polnischen Oligarchen und Magnaten fort . . . Indem aber einmal dieser Gegensatz in einen gegenseitigen inneren Vernichtungskampf ausartete, konnte dieser Kampf ebenfalls nicht so bald sein Ende nehmen. Er kam noch immer an einzelnen Orten zum Vorschein, insbesondere in den Ländern, welche noch immer dem polnischen Reiche Untertan waren. Noch im Jahre 1768 erhoben sich die unterdrückten kleinrussischen Bauern (sogenannte hajdamaki) in Uman gegen die polnische Adels- und Jesuitenherrschaft und schlachteten förmlich, unter Führung der Kosaken Gonta und Zeliznjak, einige Tausend Einwohner — adelige und jüdische — in der genannten Festungsstadt Uman, dem Sitze des Wojwoden Grafen Potocki . . . Wiederum also ein Nachwehen und ein zweifelloses Zeugnis des tief eingewurzelten sozialen, religiösen und nationalen Gegensatzes . . . Leider besserte dieser wilde Kampf der Gegensätze das aristokratische Schlachzizentum nicht; er besserte auch nicht das Schicksal der Kleinrussen, des Volkes als solchen! . . . Er beschleunigte aber den Verfall der slawischen, feudalen (polnischen) Republik, er gab ihr die letzten Hiebe, vielleicht auch den Todesstoß . . .

Anderseits war aber auch das Schicksal der klein russischen Kosaken und ihrer — bisweilen unabhängigen „Siez“ (Republik) besiegelt . . . Die russischen Selbstherrscher machten sich daran, das Kosakentum zu reglementieren, zu zivilisieren. Die strenge Katharina hat ihm vollends ein Ende gemacht . . . Hatte es ja übrigens seine Rolle ausgespielt, sowohl gegenüber den Tatarenreichen, im Süden des heutigen Russlands, als auch gegenüber der adeligen Oligarchie und dem Jesuitismus im Polenreiche! . . . Es musste demnach den Platz räumen und von der politischen Bildfläche verschwinden. 1 Dagegen wurden die kleinrussischen Gebiete, die noch damals zu Polen gehörten, bald geteilt. *)

Die galizischen Kleinrussen wurden im Jahre 1772 in den österreichischen Staatsverband aufgenommen, und zwar auf Grund der Rechte der ungarischen Krone. **) Nach heftigen und mühsamen Kämpfen, nach einer ungeheuren Knechtschaft atmeten die galizischen, kleinrussischen Bauern auf einmal ein wenig auf. Man hätschelte sie sogar einige Zeit . . . Dies geschah aber vornehmlich aus dem Grunde einer wohlerwogenen Staatsräson . . . Man brauchte nämlich gesunde Leute, gute Soldaten; man wollte die Ständeautonomie, diesen Überrest der feudalen und adeligen Vorherrschaft, brechen, folglich gab man auf einmal dem früher sehr unterdrückten Bauer verhältnismäßig viel Freiheit. So schränkte man damals in Galizien die Zeit der Robot ein, gab den Handwerkern Freibriefe, schützte das rechtsunkundige Volk vor der Willkür der Dominialverwaltung, gründete unter anderem Seminare, reformierte die k. k. Universität, führte daselbst — zu Lemberg — die russische Sprache, wenn auch in bescheidenen Grenzen, als Vortragssprache ein — mit einem Worte, man wollte aus Knechten gesunde und kaisertreue, österreichische Untertanen machen.

*) Der Versuch der ehrgeizigen Hetmanen Mazeppa und Wigowski, Südrussland, das ist die sogenannte „Ukraine“, zu einem gänzlich selbstständigen Staatswesen sei es auch zu einer unabhängigen Republik — zu erheben, blieb erfolglos. Die beiden Führer der Kosaken fanden beim Volke absolut keinen Anhang. Mazeppa wurde dazu noch wegen seines Verrates an Peter dem Großen in der Schlacht bei Poltawa in allen Kirchen exkommuniziert und vom Volke allgemein verdammt.

**) Andreas II. von Ungarn hat sich schon anlässlich einer Hilfeleistung an die Witwe des Fürsten Roman im Jahre 1206 den Titel „König von Galizien und Vladimirien“ beigelegt. In den diesbezüglichen Urkunden, sowie in den sämtlichen Staatsschriften dieser Zeit wird übrigens die Eigenschaft der Kleinrussen als Rotrussen, und ihr Land als Russia rubra deutlich hervorgehoben. Siehe „Tractatus inter Suam Maj. Imp. M. Teres. Reg. Hung. et Bohem. et S. Maj. Regm. Rempublicamque Poloniae“, sowie Patente vom 11. September 1772 und 15. November 1773 u. dgl. M

In solchen erträglichen Verhältnissen lebten die Kleinrussen Galiziens und der Bukowina mit den Österreichischen Machthabern bis zum Jahre 1848. In diesem Jahre rafften sich, wie bekannt, fast alle österreichischen Völker zum Freiheitskampfe auf. Auch in Lemberg und auf dem flachen Lande Galiziens organisiert die polnische Intelligenz und Jugend einen bewaffneten Widerstand gegen den Absolutismus . . . Die vorsichtige Zentralregierung organisiert aber eine Gegenrevolution in Form der sogenannten Nationalgarden . . . Außerdem wurde um diese Zeit den ungarischen Kleinrussen seitens der Regierung merkwürdigerweise große Ehre erwiesen. Der bedeutendste Staatsmann der ungarischen Kleinrussen, der nachmalige Hofrat und Verweser der Ressortministerien in Budapest, Adolf Ritter von Sacuroff Dobrjansky, wurde trotz seiner ausgesprochenen russophilen Gesinnung zum Generalkommissär für die russische Armee bestellt. Derselbe organisiert — knapp vor Einmarsch der russischen Truppen — in seiner „aufrichtigen Ergebenheit an den Kaiser“ er war wirklich ein kaisertreuer und ehrlicher Politiker) slawische Nationalgarden, um mit ihrer Hilfe den „gemeinsamen Feind“ — die Magyaren — niederzuringen . . . Nach Einzug der russischen Truppen aber wird Dobrjansky zugleich gratissima persona bei der russischen Armee und ein unentbehrlicher Begleiter und Freund des tapferen Anführers der Avantgardearmee, des bekannten Generals Rüdiger . . .

Die Freiheitskämpfe der „rebellischen“ Nationen nehmen unterdessen ein Ende. Lemberg wird von General Hammerstein bombardiert; in Ungarn streckt der unglückliche General Görgey die Waffen, noch mehr, er bietet sogar dem russischen Kaiser die ungarische Krone an . . . Dieses unverhoffte Anbot gegenüber dem russischen, damals in Europa gefürchteten Alleinherrscher wurde aber höflich zurückgewiesen und der ungarische Aufstand mit einem Aufwand von 365 Millionen Rubel und Tausenden von Menschenopfern seitens Russlands glücklich beendet. Die Macht der Dynastie und das Gesamtreich Österreich wurde dauernd gerettet . . .

Es gibt aber überall Enttäuschungen . . . Nach Niederwerfung des Aufstandes lud Graf Stadion die politischen Vertreter der galizischen Kleinrussen zu sich. Er machte ihnen den Vorwurf, dass die galizischen Kleinrussen in einem deutsch gedruckten Aufsatz sich als „wahre Russen“ zu nennen wagten. Graf Stadion vergaß augenblicklich die geschriebenen Dokumente, er respektierte anscheinend nicht mehr die bisherige Tendenz der Österreichischen Regierung.*) Graf Stadion schwenkte nämlich diesmal von dieser politischen Tendenz ab und gab der Delegation kurzen aber deutlichen Bescheid : „Wenn ihr euch für Russen ausgebt, so habt ihr von der Regierung für die Dauer nichts zu hoffen!“ Ergo blieb es bei dem in der deutschen Sprache bis dahin nicht üblich gewesenen und politisch minder verdächtigen Terminus, bei den sogenannten „Ruthenen“. Der Terminus „Russen“, welcher noch Anfang des Jahres 1848 in den deutschen Manifesten gebraucht worden war, wurde sonach über einen Wink von oben für lange Zeit aus dem offiziellen Gebrauch beseitigt . . . „Treue Diener des Grafen Stadion, bis in die Unmöglichkeit Schwarzgelbe“ — so charakterisierte die „Ruthenen“ wiederholt die ätzende Feder Moritz Gottlieb Saphirs. Dieser setzte auch einmal in einem, nachher in den deutschen Witzblättern publizierten Briefe an Grafen Stadion ein originelles Datum bei. Das Datum lautete: „3 Jahre seit der Erfindung der Ruthenen!“ . . . Allein auch diesem von der Regierung Bach inkamerierten „Ruthenentum“ legt man bald einen Maulkorb bei . . . Im Jahre 1848 und Anfang der fünfziger Jahre erblühte in Galizien die literarische Tätigkeit. Es wurden in Galizien Bücher in kleinrussischer und ebenso auch in russischer Sprache gedruckt. Diese, vorwiegend philologisch-ethnographische literarische Tätigkeit wurde besonders durch den Petersburger Gelehrten M. P. Pogodin gefördert, welcher mehr oder weniger um diese Zeit fast alle slawischen Provinzen Österreichs bereiste und junge slawische Talente zur Slawistik und überhaupt zur Liebe für alles Slawische anspornte. War er ja doch ein intimer Freund von Safarik, Jungmann und Palacky, führte er ja eine rege Korrespondenz sogar mit dem nachmaligen k. k. Hofrate F. Miklosich.**)

*) Schon im Jahre 1810 erklärte Graf Pergen in einem Bericht der galizischen Landesstelle an die Hofkammer vom 13. Dezember 1816. Z. 24783, dass man das Kleinrussische nicht unterstützen wolle, weil es so wie so nur eine Abart der russischen Sprache sei . . .
**) In seinem ersten Brief an M. P. Pogodin schrieb F. Miklosich: .,Die Prager sind glücklich, weil sie aus Russland was bekommen können. Wir in Wien bekommen eher ein Buch aus Kanton als aus Russland . . . Alle meine Bemühungen, die nötigsten Werke der russischen Literatur anzuschaffen, bleiben hier ohne Erfolg.“

Die Regierung schaute mit scheelen Augen auf die Bestrebungen der slawo-, beziehungsweise russophilen literarischen Bewegung in Galizien. Um aber das benachbarte Russland nicht zu reizen, griff' man zunächst zu einem philologisch-diplomatischen Kniff. Ein schwacher Slawist, der Kultus-Ministerialsekretär Jirecek, schrieb damals ein paradoxales Werk. Es lautete: „Über den Vorschlag, das Ruthenische mit lateinischen Schriftzeichen zu schreiben.“ In dieser Broschüre ist zu lesen, dass die cyrillische Schrift die kleinrussische Mundart immer mehr dem Russischen werde nähern müssen . . . Aber auch Graf Agenor Goluchowski stellte gleichzeitig in einem Landesberichte an die Zentralregierung folgendes Konklusum auf : „Man müsse die ruthenische Sprache und Schrift gegenüber dem Großrussischen unbedingt abgrenzen.“ Die Resultate der philologischen Tätigkeit der Österreichischen Verwaltungsorgane zeitigten doch Früchte. Über Geheiß der hohen Zentralregierung wurde in Lemberg eine Sprachenquete zusammengesetzt und der Vorschlag gemacht, für das kleinrussische Idiom in Galizien die lateinischen Schriftzeichen einzuführen und den Weitergebrauch der russischen „Cyrillica“ — beziehungsweise „Grazdanka“ — Schriftzeichen streng zu verbieten. Die Enquete sprach sich aber diesmal noch mit großer Majorität dagegen aus. Es blieb nur bei der Regierungsverordnung, dass nämlich die amtlichen Aktenstücke nicht in der üblichen russischen Schrift, sondern mit lateinischen Buchstaben geschrieben werden dürfen. (Verordnung vom 20. Dezember 1859, Z. 12466.) Dieses direkte Eingreifen der Regierung in das rein kulturelle Gebiet der Kleinrussen erschien später vielen intelligenten und kulturell geschulten Wiener Politikern etwas geschmacklos. Überdies erwies sich dieser Weg als ein zu sehr in die Augen fallender. Man griff deshalb zu den bewährten Mitteln. Es hieß wiederum das „divide et impera“ zu Hilfe nehmen. Man überlässt diesmal freie Hand den Politikern der Heimat, dem galizischen Adel und Klerus . . . In Galizien schaute man sich ein wenig in der Vergangenheit um und fand bald eine Auskunft und einiges Beispiel in der neuesten Geschichte Polens. Vor dem polnischen Aufstand in Russland im Jahre 1830 war nämlich in Südrussland eine Bewegung bemerkbar, welche die Russen, insbesondere die Kleinrussen, für die revolutionären Bestrebungen der polnischen Schlachta gewinnen wollte. (Pestel, der Anführer der Dekabristen, war ein Pole von Geburt.) Die Idee des Zusammengehens mit den einst mit Polen staatsrechtlich vereinigt gewesenen Kleinrussen fand einen eifrigen Vorkämpfer in der Person des Generals des Resurrektionsordens, einem gewissen Semenenko. Er predigte mit seinen politischen Freunden in Wort und Schrift sowohl die politische als auch die kulturelle Verschiedenheit und Trennung der Kleinrussen Galiziens und Südrusslands von den Großrussen. Dieser Gedanke wurde nun jetzt, vor dem dritten Aufstande Polens, von den polnischen Revolutionären und Emigranten glücklicherweise aufgegriffen. Man sprach — unter dem Einfluss des Revolutionsfiebers und der Revolutionslogik — den Großrussen nach der Theorie Duchinskis sogar die slawische Abstammung ab und Ansprüche auf europäische Kultur gönnte man nur dem dreieinigen Königtum Polen, Litauen, Rotrussland. Es entstand auch damals das bekannte Trifoliumslied: „Polska, Rus, Litwa, jedna modlitwa“ („Polen, Litauen und Kleinrussland seien ein Gebet“); kurz, man trachtete mit allen Mitteln, den Kleinrussen von der russisch-politischen und auch kulturellen Macht zu befreien, ihn gänzlich dem echten Russentum zu entfremden. Selbst der freidenkerische polnische General Mieroslawski schrieb damals an seine Konnationalen die denkwürdigen Worte: „Werfen wir Brandfackel und Brandfeuer hin, schleudern wir Bomben hinter den Dnjepr und Don, in das Herz Russlands, sie mögen das Russentum vernichten; entfachen wir Hader und Feindseligkeiten unter dem russischen Volke. Die Russen werden sich untereinander mit eigenen Krallen zerfleischen. Wir werden aber dafür wachsen und wieder stark werden.“ In diesen Revolutionszeiten erscheinen nun in den sechziger Jahren in Galizien massenhaft polnische Revolutionäre und Emigranten. Die Emigranten werden in Lemberg trotz ihrer polnischen Gesinnung als Lehrer an dem akademischen, nachmals ruthenischen Gymnasium angestellt. Der bekannteste unter ihnen, Lehrer Paulin Stachurski rekte Swjiencicki, lehrte direkt und öffentlich während des Unterrichtes der russischen (ruthenischen) Sprache, das Russentum hassen; er malte den jungen Kleinrussen in einer phantastischen Weise eine schöne Zukunft der „lieben“ — kosakischen und republikanischen — „Ukraine“ mit ihren bis an die Anarchie grenzenden politischen Freiheiten. Für die neue „ukrainisch“-republikanische Idee wird sogar ein schönes Lied aus Russland hervorgeholt. „Schtsche ne vmerla Ukraina“ („Noch ist die Ukraine nicht verloren“) hieß die Hymne der neuen politischen Strömung (das österreichische Parlament hat diese politische Symphonie in einer Sommersitzung schon zu hören bekommen) und ihr Text wurde verfasst nicht mehr in der etymologischen, in Russland gebräuchlichen Schreibart, sondern in einer modernen, abgekürzten und für die Jugend sehr bequemen — weil ohne Grammatik leicht zu erlernenden — Schreibart, der sogenannten phonetischen. „Schreibe wie du sprichst und sprich wie du hörst“, hieß es damals in den Kreisen der politisch veranlagten Philologen. Auch die in Lemberg damals erschienenen Zeitschriften huldigten diesem Prinzip; auch sie bedienten sich nicht der alten russischen Schreibweise, sondern entweder der lateinischen Schrift oder der genannten kleinrussischen Phonetik. Dies waren vor allem die Zeitschriften „Meta“, „Siolo“, „Weczernyci“, Zeitschriften, in deren Artikeln der Hass gegen Russland und überhaupt gegen russische Kultur das Hauptthema bildete . . . Das Herz der kleinrussischen Jugend, empfindlich für alles Phantastische und Romantische, brauchte unter solchen Umständen nur noch einen Leuchtstern dieser Idee, ein wirkliches Genie zu erblicken. Die Jugend wollte ja die Idee nach einem gewissen Muster verwirklichen, die Idee in der Gegenwart realisieren Ende der siebziger Jahre kamen aus Russland nach Galizien die Werke eines begeisterten, fast genial zu nennenden Volksdichters und Lyrikers, des Kleinrussen Taras Grigorjewicz Schewtschenko. Schewtschenkos Werke waren von der größten Hingebung und Liebe für sein in der Leibeigenschaft und unter absoluter Herrschaft schmachtendes Volk erfüllt. Er erblickte in seiner phantastischen, zukünftigen „Ukraine“ das Ideal eines freien, republikanischen Staates, wenn möglich in Form einer slawischen Föderation, frei von Herr und Knecht, mit einer weitgehenden Glaubens- und Gewissensfreiheit . . . Ein Blick auf ein jugendliches, verliebtes Paar, auf einen Kosaken und eine junge Maid, bildet bei ihm ein Gebet, deutlicher gesprochen, ein Surrogat desselben. Dagegen sollte — nach Schewtschenko — die Formalität der Kirchenorganisation durch Reinheit der Sitten, durch Brüderlichkeit aller Nächsten ersetzt werden. Zynisch wie Heine, betrachtete er in seinem gewagten Naturalismus die Gottesmutter und Jesus mit rein menschlichen, demokratischen Augen als schlichte „ukrainische“ Bauern. Er gibt auch bezüglich der unbefleckten Empfängnis eine eigene, wenn auch in den Grenzen des Erlaubten und Ehrlichen selbständig durchdachte Darstellung. Charaktervoll und in seinen Überzeugungen konsequent kann er sich mit dem monarchischen Prinzip nicht befreunden. Er kann auch die soziale Ungleichheit und Erniedrigung seiner armen und geknechteten kleinrussischen Bauern nicht mit anschauen . . . Mangels tieferer Bildung und fester Prinzipien hat er keine richtige Anschauung von Staat und Weltordnung, gerät infolgedessen in einen Widerspruch mit sich selbst, ja ist er fortwährend in Kollision mit den Gesetzen. Als Leibeigener von dem russischen Maler Brjuloff und dem Dichter Zukovskij mit einer öffentlich gesammelten Geldsumme losgekauft, gerät er bald in die Verbannung nach Orenburg, hierauf in die Kasematten von Nowi Petrowsk. Die bittere Erfahrung mit dem russischen absolutistischen Regime, die Knebelung jedweder Freiheit durch den Zaren Nikolaus und seine Beamten, machen aus ihm einen ausgesprochenen Feind des russischen Staates als solchen! . . . So wird man es nun begreifen, dass der Hass des Schewtschenko gegen den Absolutismus, gegen die staatlich geschützte Religion, gegen die Bedrückung des armen, „ukrainischen“ Volkes, ein dankbares Echo in den Herzen der galizischen Jugend gefunden hat. Die Kämpfe der Kosaken zu Zeiten des Hetman Bogdan Chmielnickij — geschildert durch die galizischen Geschichtsschreiber Zubritzkij und Dieditzkij — riefen bei ihr schon früher wiederholt Reminiszenzen hervor; diese Reminiszenzen bekamen nun neue Nahrung durch die begeisterten Schilderungen und den Ideengang Schewtschenkos — jedoch vorwiegend in einer schiefen Richtung! . . . Die Großrussen werden nämlich von nun an nur in der Gestalt von brutalen Selbstherrschern, Tschinowniks gesehen — mit einem Worte, alles Schlechte wird jetzt meistenteils auf das Konto des Großrussen („Moskal“) geschrieben. Kurz, in Galizien begann ein antirassischer Separatismus, die sogenannte „ukrainophile“ Richtung langsam zu blühen . . . Nicht der Märtyrer und Dekabrist Dostojewski, nicht ein Herzen oder Czerniszewskij, auch nicht andere Freiheitskämpfer und Vorkämpfer der Kulturfreiheiten werden unter dem „Russentum“ verstanden, sondern es wird großenteils im „Russentum“ als solchem der Inbegriff alles Schlechten erblickt. Ein qui pro quo machen die Anbeter des Schewtschenko aus seiner berechtigten Kritik des damaligen russischen Regims, eines absoluten und despotischen.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Die russische und ukrainische Idee in Österreich