Zweite Fortsetzung (Steinbaukunst)

Einen Beweis für die Bedeutung, welche diese Richtung für die Gesamtentwicklung der russischen Architektur hatte, liefert die Steinbaukunst selbst. Wir werden im folgenden sehen, wie sich diese unter dem mächtigen Einfluss der Formen des Holzbaues im XVI. Jahrhundert veränderte. Der frische Hauch der Volkskunst drohte alle traditionellen byzantinischen Elemente der Steinbaukunst wegzufegen. Konservative kirchliche Behörden sahen mit Widerwillen die immer weitergreifende Beeinflussung der Steinbaukunst durch ihre freiere Schwester. Im XVII. Jahrhundert verbot sogar der Patriarch, Zeltkirchen zu errichten. Dadurch wurde der freien Weiterentwicklung dieser originellen und reizvollen Kunstrichtung eine Hemmung in den Weg gelegt. Mit dem XVII. Jahrhundert nahm ihre Blütezeit ein Ende. Erst nach Jahrhunderten voller Vergessenheit tritt sie in unseren Tagen wieder ans Licht der Spezialforschung, erst in unserer Zeit beginnen auch die jungen Architekten, aus dem so lange versiegelt gebliebenen Kunstschatz wieder zu schöpfen.

Neben der Holzbaukunst entwickelte sich in Nordrussland eine offizielle, vorwiegend auf Städte beschränkte Steinbaukunst.


Als sie sich in Nordrussland verbreitete, existierten hier bereits ältere Holzkirchen, deren Beste, wie wir oben bemerkt haben, spurlos verschwunden sind.

Die Steinbaukunst war auch im Norden ebenso, wie in Südrussland, von byzantinischen Grundlagen ausgegangen. So war die heilige Sophia von Nowgorod ursprünglich (heute ist das Gebäude durch zahlreiche Umbauten verändert) eine Schöpfung byzantinischer Kunst, — ein Gegenstück zur heiligen Sophia von Kiew. Jedoch wurden die Beziehungen zwischen Nowgorod und Byzanz nach der Tatareninvasion sehr erschwert. Immer weniger künstlerische Anregungen konnten von Byzanz ins nördliche Russland gelangen; russische Künstler wurden jetzt weit mehr ihren eigenen Kräften überlassen. Auch die Steinbaukunst wird in dieser Zeit immer selbständiger. Die beiden Kultur- und Kunstzentren waren Nowgorod und Ssusdal mit Wladimir, welches das alte Kiew als Großfürstensitz ersetzt hatte. In beiden nahm die Entwicklung der Kunst etwas abweichende, wenn auch im Grunde verwandte Formen an.

Eine Reihe von Bauten in Nowgorod selbst und in seiner Umgebung kennzeichnet die Etappen dieser Entwicklung vom XII. bis ins XV. Jahrhundert hinein. Die Nowgoroder Künstler fanden rasch ihren eigenen Stil, indem sie die traditionellen byzantinischen Grundlagen der Kunst vereinfachten. Diese allgemeine Tendenz, die Vorliebe für Einfachheit ist augenscheinlich nicht ohne Beeinflussung von selten der Holzbaukunst aufgetaucht. Die Hervorhebung der ästhetischen Wirkung glatter Flächen, die auch der byzantinischen Kunst nicht ganz fremd war, wird in der Nowgoroder Baukunst weit mehr betont. Die Entwicklung dieses Prinzips führt die russischen Künstler zur allmählichen Beseitigung aller dekorativen und konstruktiven Einzelheiten, die in der byzantinischen Kunst zur Dekorierung und Belebung dieser Flächen immer reicher verwendet wurden. Die künstlerische Wirkung russischer Bauten wird immer mehr auf die schöne Gegenüberstellung der Flächen als solcher beschränkt. Alles, was diese Wirkung abschwächen könnte, wird mitgrößter Konsequenz beseitigt. Neben den reich gegliederten, prunkvoll dekorierten Bauten von Byzanz erscheinen Nowgoroder Kirchen dieser Zeit schlicht und einfach (als Beispiele seien hier die Kirche der Geburt Maria in Nowgorod selbst und die bekannte Kirche Spass-Nerediza unweit Nowgorod genannt, beide aus dem XII. Jahrhundert).

Das Äußere der Nowgoroder Kirchen erhält bereits im XII. Jahrhundert einen ausgesprochen originellen Charakter: von zwiebelförmigen Kuppeln*) gekrönt streng und monumental in ihrem kubischen Aufbau tragen diese Kirchen das Gepräge einer eigenartigen Kunstsprache. Die glatten Flächen ihrer Mauern, die Schönheit und Einfachheit ihrer Silhouetten wirken groß und ruhig. Sieht man die konstruktive Grundlage dieser Bauten näher an, so entdeckt man ohne Mühe Elemente, die auf ihre byzantinische Abstammung hindeuten. Die große Einfachheit dieser Kunstrichtung nähert ihre ästhetischen Grundlagen denjenigen der nordischen Holzbaukunst. Beide sind das Erzeugnis des freien russischen Volkes gewesen, welches ungestört seine eigenen Wege gehen durfte. Der Kunstgeschmack, der von allem Dekorativen absieht und sich mit reinen Proportionen begnügt, weist auf einen hohen Kulturstand des Volkes. Nowgorod hatte am meisten von jener ersten Kulturblüte Russlands übernommen, die sich seinerzeit an den Ufern des Dnjepr entfaltet hatte. Dort hatte die russische Kultur bereits eine freie Staatsverfassung, ein humanes Strafrecht **) und eine reiche Poesie geschaffen. Eine freie Kunst wurde, wie wir wissen, im südlichen Russland nicht geschaffen. Diese kam später als letztes Erzeugnis dieser Kultur auf dem Boden Nordrusslands auf.

*) Diese Kuppeln sind auch ein eigentümliches Erzeugnis der russischen Kunst. Grabar schreibt die Tatsache der Zuspitzung der Kuppel lokalen Verhältnissen zu: diese Form gab angesichts der großen Schneemengen im Winter die bequemste praktische Losung des Kuppelproblems.
**) Das Gesetzbuch Altrusslands, die „Russkaja Prawda“, kennt keine Todesstrafe. Die höchste Strafe, die es nennt, ist das Exil und die Güterkonfiskation.


Die Kunst des zweiten Zentrums von Nordrussland — Wladimir an der Kljasma — unterscheidet sich in dieser Zeit von derjenigen Nowgorods durch eine größere Eleganz und Zierlichkeit; die glatten Flächen werden hier durch dekorative Muster verziert. Die schönsten Beispiele dieser Art sind die Dimitri Kathedrale zu Wladimir und die Kirche des „Mantels Maria“ (Pokrow) an der Nerl. Auch der Baustil von Nowgorod wurde gegen Ende des XIV. namentlich aber im XV. Jahrhundert durch neue dekorative Elemente bereichert.*) Sie stammten aus der dekorativen Kunst des romanischen Stils. Nowgorod war bis ins XV. Jahrhundert hinein eine freie Handelsstadt und stand in regem Verkehr mit westeuropäischen Hansastädten; diese Tatsache machte sich auf dem Gebiete der Kunst durch Importierung romanischer Einflüsse geltend. Wir sehen solche an der Dekoration der Kirchen in Fülle auftreten. Manches romanische Dekorationsmotiv (wie das der Bogenfriese) gewann in Russland allgemeine Beliebtheit. Romanische Motive wurden später auch in dekorative Formen der Baukunst von Moskau aufgenommen.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Die russische Kunst. I. Die russische Baukunst