Erste Fortsetzung (Holzbaukunst)

Die Holzbaukunst, so wie sie uns in erhaltenen Bauten des XVI. und XVII. Jahrhunderts entgegentritt, ist in allen ihren Einzelheiten eine eigentümliche Schöpfung des Kunstsinnes des russischen Volkes.

Die nordischen Baumeister scheinen ihren Werken ganz bewusst ein Prinzip zugrunde gelegt zuhaben — das Prinzip der Proportionen. Einfach angelegte, schmucklos ausgeführte Bauten erscheinen durch die bloße Harmonie ihrer Proportionen überraschend schön. In diesem eigenartigen, schlichten Stil gewinnt die Bedachungsform eine ganz besondere Bedeutung. Die Architekten, deren Namen wir nicht einmal kennen, waren offenbar von der einfachsten zweischenkeligen Dachform ausgegangen. Darauf begann ein Suchen nach verschiedenen Lösungen des Bedachungsproblems, bis die Baumeister endlich zu ihrer schönsten Entdeckung, zu der Zeltkirche mit ihrem steilen, turmartigen Dach kamen.


Ihrem Plane nach sind die Zeltkirchen durchweg als Zentralbauten angelegt.*) Die ursprüngliche Form der Zeltkirche war eine hochaufragende Pyramide auf einem achtseitigen Unterbau. Eine ganz unbedeutende Bolle spielt in dieser Form die Zwiebelkuppel: sie hat hier nur rein-dekorative Bedeutung, indem sie die steile Pyramide des Zeltdaches krönt. Nur die etwas hervortretende Altarabside und der Vorbau am Eingang der Kirchen geben dem strengen Zentralbau eine gewisse Abwechslung. Der schöpferische Gedanke der nordischen Architekten wusste jedoch aus dieser großen Einfachheit reiche Variationen zu schaffen und in diesen das Grundmotiv weiterzuentwickeln und zu bereichern. So wurde beispielsweise der Unterbau des achtseitigen Zeltes auch als Viereck angelegt, was das Grundmotiv in reicherer Formengebung weiterentwickelte. Neben der Zeltkirche schufen die nordischen Baumeister auch andere Bauformen: Kirchen mit steilen, zweischenkeligen Bedachungen, die in ihrer Einfachheit eine hohe Eleganz und künstlerische Eigenart aufweisen oder auch kubische Kirchen mit mehreren Kuppeln, — eine Form, die sich mehr den Formen des Steinbaues nähert. Die einfache Kunstsprache der russischen Holzbaukunst wirkt seltsam märchenhaft in der Umgebung unermesslicher Wälder, an Ufern der ruhig fließenden nördlichen Flüsse, unter dem blassen Himmel des Nordens. Wer diese Kunstschöpfungen aus eigener Anschauung kennen lernen wollte, müsste sich in ein Gebiet Russlands begeben, das für gewöhnlich von Fremden am wenigsten besucht wird, ins vormalige nördliche Kolonisationsgebiet der Republik Nowgorod, welches die Gouvernements Olonezk, Wologda und Archangelsk umfasst. Eigentümlichkeiten der geschichtlichen Entwicklung Russlands machten den Norden des Landes zur Schatzkammer der nationalen Kultur. Diese Gegenden blieben von der Tatareninvasion unberührt, daher konnten sich hier manche kulturellen Erzeugnisse des russischen Volkes erhalten, die im übrigen Lande spurlos verschwunden sind. Hier findet man bis jetzt noch in Dörfern und Provinzialstädten Überreste der russischen Holzbaukunst.

*) Die Bevorzugung des Zentralbaus ist eine allgemeine Eigenschaft der russischen Architektur.

Sie sind heutzutage nicht mehr besonders zahlreich. Holz kann der zerstörenden Wirkung der Zeit nur ungenügend widerstehen; manche von den noch aufrecht stehenden Holzkirchen drohen bald einzustürzen.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Die russische Kunst. I. Die russische Baukunst