Dritte Fortsetzung (Moskau)

Im Laufe des XIV. und XV. Jahrhunderts hatte sich das Fürstentum Moskau allmählich gestärkt und erweitert. Im XVI. Jahrhundert war Moskau endgültig zum politisch-kulturellen Zentrum Russlands geworden. Kunstrichtungen, die in Moskau vorherrschten, verbreiteten sich auch über das ganze Land.

Schon im XV. Jahrhundert hatten die Moskauer Fürsten begonnen, ihre Residenzstadt mit prächtigen Kirchen zu schmücken. In dieser Zeit sind die Kathedralen entstanden, welche bis jetzt den Kreml von Moskau schmücken.**) Es sind Werke italienischer Meister, ihr Stil zeigt jedoch deutlich, von welcher Kunst sie abstammen: es ist die letzte Blüte des Byzantinismus auf russischem Boden. Der byzantinische Stil tritt zwar an diesen Bauten in sehr veränderter russifizierter Gestalt auf, vielerlei andere Einflüsse sind hier neben dem Byzantinismus nachzuweisen, daneben aber gar keine Neuerungen, welche von den italienischen Baumeistern herrühren würden. Sie waren verpflichtet, sich genau an den Stil zu halten, der sich auf russischem Boden entwickelt hatte; somit schufen sie auch Bauten vom gleichen Typus, wie sie im XIII. und XIV. Jahrhundert von einheimischen Baumeistern in Wladimir errichtet wurden. Der Zweck der Heranziehung fremder Meister war ein rein technischer.


*) Beispiele dieser Richtung: Feodor Stratilat, Johannes der Apostel (beide XIV. Jahrhundert).
**) Der Artikel war bereits verfasst, als von Moskau die Nachricht kam, der Kreml sei bei den letzten Straßenkämpfen stark beschädigt, auch die alten Kathedralen sollen dabei gelitten haben.


Die Tatareninvasion hatte die Kultur des mittleren Russlands stark beeinträchtigt. Die Katastrophe hatte die Entfaltung der gesamten russischen Kultur gewaltsam unterbrochen; man merkt ihren Einfluss auch in der Baukunst. Ganz charakteristisch lauten Berichte der Chronisten über die Erbauung der Kathedrale der Himmelfahrt Maria zu Moskau. Zunächst hatten russische Baumeister deren Ausführung übernommen und der Bau wurde 1472 angelegt. Jedoch war das technische Können dieser Meister ihrer Aufgabe nicht gewachsen. Man hatte in den traurigen Zeiten der Tatarenherrschaft zu Moskau verlernt, Steinbauten auszuführen. Der Mörtel wurde, wie sich der Chronist naiv ausdrückt, „nicht klebrig genug“ zubereitet. Und die Folgen der technischen Unwissenheit kamen bald zu Tage: die nördliche Mauer des Baues und ein Teil der westlichen stürzten ein, bevor die Arbeit zu Ende geführt war. Der Fürst zog nun vor, keine Nowgoroder, sondern fremde Baumeister einzuberufen. Der erste, welcher nach Russland kam, war der in Russland berühmte Bolognese Aristoteles Fioraventi, der im Jahre 1475 in Moskau eintraf. Er musste das ganze Werk seiner russischen Vorgänger zerstören und führte den Bau neu auf. 1478 war die Kathedrale vollendet.

Das Gesamtbild vom Moskauer Kreml fesselt den Beschauer durch die malerische Schönheit seiner byzantinisch-russischen Konstruktionen, ihre glatten weißen Mauern wirken ruhig und monumental. Wie Flammen von Riesenkerzen schimmern ihre Goldkuppeln an hellen Sonnentagen im blauen Himmel. Verlässt man aber den Kreml, um durch die Straßen von Moskau zu wandern, so sieht man einen ähnlichen Stil an andern städtischen Kirchen nicht. Alle gehören in eine spätere Epoche, und nur die ältesten unter ihnen reichen in ihrer Entstehungszeit bis ins XVI. Jahrhundert hinauf. Im XVI. Jahrhundert merken wir an den Moskauer Bauten eine ausgesprochene Stilwandlung. Im XVII. Jahrhundert hat der neue Stil den herkömmlichem bereits gänzlich verdrängt. Im XVI. und XVII. Jahrhundert hatte die Moskauer Kunst eine mächtige ausgesprochene Beeinflussung von Seiten der Holzbaukunst erlebt. Der neue Baustil entfaltete sich reich und mannigfaltig. In Moskau und Umgebung wurden viele neue Kirchenbauten errichtet; ihre Formen zeigen wie sehr damals das Motiv des Zeltes beliebt war (als Beispiele seien hier die Irenenkirche zu Moskau, die Kirchen von Kolomenskoje und Djakowo unweit Moskau genannt). Es war nicht mehr die absolut einfache Kunstsprache der nördlichen Baukunst. Die Form des zeltkuppeligen Zentralbaues weicht in Moskau vom Urtypus der Holzbauten beträchtlich ab, sie wird durch manch neues dekorative Motiv (wie das der Dreiecken und der Schuppenschilder) bereichert, die Kirchen werden überhaupt reicher dekoriert und mit zahlreichen Anbauten Vergehen. Der neue Stil der Moskauer Baukunst entstand nicht allein aus der Vereinigung herkömmlicher Formen mit Motiven der Holzbaukunst. Es kamen noch vielerlei andere Einflüsse hinzu, welche zum Teil ausgesprochen orientalische Züge an sich trugen. Trotzdem war dieser Stil ursprünglich noch edel und im allgemeinen einfach, darin auch dem alten russisch-byzantinischen Stil verwandt. Diese Einfachheit sollte aus der russischen Baukunst bald verschwinden. Eine tiefgreifendere Veränderung kam in einer andern Kunstrichtung zum Ausdruck.

Unter den Moskauer Bauten des XVI. Jahrhunderts fällt besonders eine durch ihre eigentümlichen Bauformen auf. Es ist die berühmte Kirche „des Mantels Mariä“ (Pokrow) am Roten Platz zu Moskau, die später auch dem heiligen Wassili geweiht wurde; sie wird gewöhnlich ,,Wassilij Blaschenny“ genannt. Ihr Baustil ist seltsam phantastisch und wirkt auf den Beschauer ganz bizarr. Elf der Gestalt und Größe nach verschiedene, verschieden dekorierte Kuppeln krönen den Bau. Aus ihrer Mitte erhebt sich eine steile zentrale Zeltpyramide, auch diese trägt oben eine kleine Kuppel. Entsprechend der Anzahl der Kuppeln geht die Gliederung des Baues bis ins Untergeschoss, das Ganze gewinnt dadurch den Anschein von einem malerischen Bündel verschieden großer phantastischer Türme — ein Gebäude, das mehr in die Märchenwelt, als in die Wirklichkeit zu gehören scheint. Nie vorher hatte die russische Baukunst eine so unbändige Prunksucht gezeigt. Wassilij Blaschenny ist eine ganz neue Erscheinung, das Erzeugnis eines veränderten künstlerischen Geschmacks und einer veränderten Weltauffassung. Die neuen ästhetischen Wirkungsmittel zeigen keinen Einklang mit denjenigen der früheren russischen Kunst. In XVI. Jahrhundert war die Veränderung noch nicht abgeschlossen. Vielmehr steht Wassilij Blaschenny unter den erhaltenen Moskauer Bauten dieser Zeit noch vereinzelt da. Wir wissen jedoch aus literarischen Quellen, dass zum Beispiel die Paläste Iwan IV. (unter dessen Herrschaft Wassilij Blaschenny errichtet wurde) gerade so bizarr und überreich ausgeführt waren. Wassilij Blaschenny ist für seine Zeit höchst charakteristisch; die Kunstrichtung, die an diesem Bauwerk ihren glänzendsten Ausdruck fand, gibt ein anschauliches Bild von ästhetischem Geschmack der Zeit: es ist ein Hang zum barbarischen Prunk, zum übertriebenen Reichtum im architektonischen Detail und im dekorativen Schmuck. Der merkwürdige Bau gibt bereits die Richtlinie an, in der sich die Kunst weiter entwickeln sollte: er ist am Vorabend des russischen Barock entstanden.

Im XVII. Jahrhundert beginnt auf dem Boden der russischen Baukunst ein neuer aus dem Westen stammender Einfluss spürbar zu werden.

Es ist für die ganze Entwicklung der russischen Baukunst charakteristisch, dass sie sich stets nur ganz bestimmten Einflüssen gegenüber empfänglich zeigt. So stand sie lange Zeit unter byzantinischem Einfluss. Darauf ging sie mehr ihre eigenen Wege, fand ihr eigenes Wesen und entfaltete ihr selbständiges Können. Seit dieser Zeit war sie fremden Einflüssen gegenüber seht wählerisch geworden. Sie entlehnte einige ornamentale Verzierungen aus dem romanischen Stil, sie nahm manch orientalischen Zug aus der Kunst der benachbarten Länder — Persien und Armenien. Sie blieb aber jeder Beeinflussung von Seiten der gotischen Kunst stets abhold. Und der Grund dafür ist nicht nur in der Schwierigkeit des Verkehrs mit dem Westen zu suchen; wir haben darin die Tatsache eines tiefgreifenden Unterschiedes des ästhetischen Empfindens verschiedener Völker. Die Gotik mit ihrer konstruktiven Logik, der Energie ihres hinaufstrebenden Gefühls und ihrer abstrakten Phantastik blieb dem anschaulicheren Wesen des religiösen Gefühls des russischen Volkes in ihrer Grundlage fremd. Wir finden in Russland bedeutend mehr Spuren der westlichen Renaissancekunst, obwohl ihr Wirkungskreis (wie dasjenige des romanischen Stils) sich vorwiegend auf die dekorative Kunst beschränkt.

Ein Einfluss, der tiefer wirken sollte, kam vom Westen im XVII. Jahrhundert: es war der Einfluss der Barockkunst. Das prunkvoll Unruhige des russischen Barockstils ersetzte von nun an die würdevolle Ruhe des russischen Byzantinismus; es verdrängte auch die Prinzipien der schlichten Proportionalität der originellen Holzbaukunst. Neue Bauten wuchsen in bizarrem Reichtum empor, sie erhielten eine mannigfaltige äußere Gliederung, die ruhigen Flächen wurden durch ein reiches Spiel von Licht und Schatten ersetzt. Der russische Barockstil ging zwar von den Überlieferungen des Steinbaues und der Holzbaukunst aus, aber die Ruhe aller früheren Stile löste sich in Prunksucht auf: unendlich reich wird die dekorative bewegte Gliederung der neuen Bauten. Auch dort, wo sie noch eine Spur der Zeltanlage beibehalten haben, verschwindet die strenge Grundlinie des Zeltes in Ecken und Vorsprüngen, in der reichen Abwechslung von übereinander angelegten Stockwerken, in spitzenartigen Mustern der Dekorationen.

Die gleiche Prunksucht sahen wir bereits an einem Denkmal des XVI. Jahrhunderts, an Wassilij Blaschenny, auftauchen. Und jenes Bauwerk hat trotz aller stilistischen Verschiedenheiten eine große geistige Verwandtschaft mit Bauten des russischen Barockstils. Die Baukunst dieser Zeit wählte eine überreiche Formensprache, sie konnte sich mit der großen Ruhe der schönen Proportionen und monumentalen Flächen nicht mehr begnügen. Der westeuropäische Barockstil gab ihr dekorative Formen, die ihrem inneren Bestreben entsprachen. Nun wandte sich die russische Baukunst ungezwungen und frei diesen Formen zu, um aus ihnen ein neues aufzubauen, den vom westeuropäischen so verschiedenen russischen Barockstil.

Wie eigenartig, wie schön einzelne Werke des russischen Barockstils auch sein mögen (als Beispiel sei die prächtige Kirche von Phili bei Moskau erwähnt), die naive Vorliebe für überladenen Reichtum ist doch die Andeutung eines sehr veränderten ästhetischen Empfindens. Dahinter stecken tiefer greifende kulturelle Veränderungen.

Die Kunst der vorangehenden Epoche war die Kunst eines freieren Volkes gewesen. Sie hatte sich im Schatten der Wälder des freien Gebietes von Nowgorod entfaltet. Moskau, das sich vom Tatarenjoch befreit hatte, wurde inzwischen zu einer unbeschränkten despotischen Monarchie. Moskau unterwarf sich allmählich die übrigen Teile Russlands, unter anderem auch das freie Nowgorod. Kultur und Sitten, Poesie und Kunst

— alles musste im despotischen Zarenreiche neue Formen annehmen. Wir können die erste Blüteperiode der originellen russischen Baukunst mit der originellen Holzbaukunst als Erzeugnis jener freieren vormoskowitischen Kultur betrachten. Ihre zweite Blüteperiode — der Barockstil — war eine Schöpfung der reicheren und weniger humanen Kultur des Moskauer Zarenreiches. Darum tragen auch die Werke dieser Richtung ein augenscheinlich barbarisches Gepräge, welches besonders auffällt neben der Feinheit und Einfachheit der ästhetischen Mittel der älteren russischen Baukunst.

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Die Reformen Peters des Großen bedeuteten das Ende der selbständigen russischen Kirnst. Der Reformator Russlands wollte sein Reich mit einem Schlage verändern. Alle äußeren und inneren Formen des Lebens sollten neugestaltet werden, das Alte, das Herkömmliche war dem Zaren verhasst. Verhasst war ihm unter anderem auch die alte Moskauer Architektur. Somit wurde der einheimischen Baukunst nicht nur jede materielle und moralische Unterstützung entzogen, es wurden ihr allerhand Verbote in den Weg gelegt. Für ihre Entwicklung bedeutete dieser Umschwung eine gewaltige Katastrophe, die fataler war, als selbst die Tatareninvasion.

Noch nie vorher ist in Russland so viel gebaut worden wie unter Peters Regierung. Der Zar baute sich ja eine neue Hauptstadt — Petersburg — an den Ufern der Newa auf; diese Stadt sollte ein Symbol des reformierten Landes werden. Die ganze Bauleitung wurde anfangs ausländischen Architekten überlassen. Peter bemühte sich dabei, wohl die besten Kräfte heranzuziehen. (Unter anderen wurden der bekannte deutsche Architekt und Bildhauer Andr. Schlüter, der Italiener Domenico Trezdni und der Franzose Leblon nach Petersburg berufen). Ihre Aufgabe war, dem europäisierten Russland ein europäisiertes Kleid überzuwerfen. So brachten auch die westlichen Baumeister nach Russland jenen Stil mit, der damals in Europa vorherrschend war. Die neue Hauptstadt wurde mit Barockbauten geschmückt. Es war aber nicht mehr der russische Barockstil, es war eine reine nicht veränderte Wiederholung des Stiles, der gleichzeitig im Westeuropa modern war. Seither blieben westeuropäische Stilrichtungen auch für die russische Baukunst maßgebend! Die neue Hauptstadt wuchs tatsächlich so auf, wie es ihr Schöpfer gewünscht hatte : sie war von Anfang an unrussisch. Von der Hauptstadt verbreitete sich die neue Bauart allmählich über das ganze Reich. Besucht man heutzutage verschiedene russische Städte, so sieht man überall die gleiche Erscheinung: nur an wenigen Kirchenbauten hat sich eine Erinnerung an den Reichtum der altrussischen Baukunst erhalten, diese sehen wie Inseln aus, in einem Meere von Bauten, die in einem merkwürdig faden europäisierenden Mischstil ausgeführt sind. Jedoch ragen aus dieser gleichartigen Masse neben Besten des Altertums noch andere Bauten hervor: es sind prächtige Häuser von einem reichen eigenartigen Stil, groß, frei und breit angelegt. Ein Merkmal ist für diese speziell charakteristisch: sie sind an den Fronten von antikisierenden Säulen geschmückt, was auf die klassizistische Richtung hindeutet. Der Klassizismus wurde auf russischem Boden zu einer fast selbständigen Richtung.

Ein glückliches Schicksal hatte gewollt, dass unter den Zöglingen der neuen, von Peter begründeten Petersburger Akademie sich ein Reihe hochbegabter junger Architekten befand. Obwohl ihr Schaffen im allgemeinen an westeuropäische Vorbilder gebunden war und sich nicht absolut frei entfalten konnte, gelang es ihnen doch, im Rahmen der gegebenen von Westeuropa entlehnten Stilrichtungen etwas Eigenes und Bedeutendes zu schaffen. Der russische Klassizismus war eine Schöpfung dieser Baumeister. Zwei Dinge wurden für die neue Richtung charakteristisch: sie beschränkte sich vorwiegend auf Profanbauten und sie war ihrem Wesen nach aristokratisch. Seit Peter dem Großen hatte die russische Baukunst ihren kirchlich-religiösen Charakter aufgeben müssen. Der Zar schmückte seine Hauptstadt zwar auch mit Kirchen, das Hauptgewicht wurde aber nicht auf kirchliche Bauten gelegt: neben ihnen erhoben sich gewaltige prunkvolle öffentliche Bauten; von solchen hatte das alte Russland nichts gewusst. Die Nachfolger und Nachfolgerinnen Peters auf dem russischen Thron setzten sein Werk in der eingeschlagenen Richtung fort: so entstanden allmählich in beiden Hauptstädten, in geringerem Masse auch in Provinzialstädten, Theater und öffentliche Spitäler, Schulen und Amtsgebäude. Neben diesen wurden prächtige kaiserliche Paläste und Privathäuser des Adels errichtet. Somit entwickelten sich in dieser Zeit zwei parallele Abzweigungen der gleichen klassizistischen Richtung der Baukunst: die offizielle und die privat-aristokratische. Wollte man beide räumlich lokalisieren, so müsste vorzugsweise Petersburg das Zentrum der ersten Richtung genannt werden, Moskau das Zentrum der zweiten; diese ist jedoch auch in prächtigen Bauten der Gutsbesitzungen des Adels reichlich vertreten. Zu einer volkstümlichen Kunst ist der russische Klassizismus nicht geworden, er behielt stets die obligatorische Form der offiziellen Kunst und der bevorzugten Kunstrichtung des Adelstandes. Diese letztere ist auf dem Boden Russlands derart verbreitet, sie ist dabei auch so reizvoll, dass sie unbestreitbar zu den eigentümlichen Kunstschätzen des Landes gehört. Wer Russland kennt, der weiß, wie poetisch der Eindruck ist, welchen alte Landgüter machen: frei angelegte bequeme und schöne einstöckige Häuser mit den unvermeidlichen „griechischen“ Kolonnen an der Front verkörpern in ihrem gemütlich patriarchalischen Wesen Ideale eines reichen, sorgenlos-beschaulichen Lebens. Die russischen Romanschriftsteller versetzen gern ihre Helden auf den Boden eines solchen Landgutes mit dessen schattigen Parkanlagen, ruhigen langen Alleen, stillen Teichen und den weißen Säulen seines Landschlosses. Idealisierend wie immer verkörperte hier die Kunst das Bild von jenem Russland, das jetzt schon längst in die Vergangenheit gehört — jenes Russlands der Leibeigenschaft, dessen Blüte bereits vorüber war, als im Jahre 1861 die Bauernbefreiung kam. Jetzt verschwinden allmählich diese Anlagen, die so hohen ästhetischen Wert besitzen und von so großem historischem Interesse sind: sie gehören nicht mehr ins moderne Leben.

Der Klassizismus war der letzte Baustil, der sich auf russischem Boden entwickelte. Er hatte auch auf dem Gebiete offizieller Bauten ganz hervorragende Werke geschaffen. Es waren die großen öffentlichen Bauten von Petersburg und Moskau, deren Entstehung mit den Namen der großen russischen Baumeister verbunden ist. An ihrer Spitze steht der außerordentlich begabte Baschenow (1737 bis 1799), der erste große Architekt im nachpetrowschen Russland. Das eigenartige, was er in die russischen Baukunst hineinzubringen wusste, war eine außerordentliche Größe, eine kühne Großzügigkeit der gewaltigen Pläne, welche von einem ungeheuren Aufschwung der Phantasie Zeugnis geben. Von seinen Plänen gelangte nur weniges zur Ausführung, er hatte aber der russischen Baukunst einen Schwung gegeben, der auch den Grundzug des Schaffens seiner Nachfolger bildete. Unter diesen erwähnen wir den Moskauer Architekten Kasakow (1783 —1812), den Erbauer des schönen Palastes vom Grafen Rumjanzew zu Moskau (heutzutage ist das Gebäude in ein Museum verwandelt) — einer der schönsten Bauten der alten Hauptstadt, und Woronichin (1760 — 1814), der zu den bedeutendsten Baumeistern von Petersburg gehört; sein Stil war streng klassisch und steht in direkter Beziehung zu Schöpfungen altgriechischer Kunst, deren Prinzipien dieser Baumeister ins kolossale übertragt. Beide sind typisch: Easakow, der anmutigere, weichere, phantasiereichere für die freiere Art der Moskauer Architektur, der strengere, kältere und großzügigere Woronichin für Petersburg.

Der Klassizismus von Moskau weicht bedeutender von Werken der westeuropäischen Kunst ab, als der Klassizismus von Petersburg. Die ganze Richtung erhält in Moskau einen anmutig-weichen und freien Anstrich. Die ursprüngliche Strenge des Stiles geht hier in Gemütlichkeit auf. Privathäuser der klassizistischen Richtung, die von Moskauer Architekten geschaffen wurden, sind dadurch besonders reizvoll, dass sie stets ganz individuell wirken. Der Petersburger Klassizismus wirkt viel allgemeiner, dabei aber auch viel strenger und stilgetreuer. Petersburger Architekten übertragen den Klassizismus ins Grandiose. Keine Stadt der Welt besitzt so mächtige Werke dieses Stiles wie Petersburg. Peters Stadt erhielt erst durch den Klassizismus ihre definitive Gestalt, als strenge, kalte, großartige Bauten von grauem Granit aus ihrem sumpfigen Boden emporwuchsen. In diesem Werken haben Petersburger Architekten ihre kühnsten Träume verkörpert.

Der russische Klassizismus, dessen Entstehungszeit ins XVIII. Jahrhundert fällt, beherrschte auch das erste Drittel des XIX. Jahrhunderts. Dann beginnt sein Untergang. Die langweiligen Bauten, die noch ferner im gleichen Stil errichtet wurden, kennzeichnen seine Degeneration. Es sind physionomielose Gebäude eines indifferenten allgemein klassizistischen Stils. Man kennt in Russland nur zu gut ihre lang gezogenen Fassaden mit weißen Säulen in der Mitte, die sich nur blass gegen den gelb gestrichenen Hintergrund abheben. Diese Form wurde unendlich oft in allen Ecken Russlands an Spitälern, Wohltätigkeitsanstalten und Amtsgebäuden unzählige Male wiederholt. In diesen Formen musste der klassizistische Stil sich selbst überleben.

Weniger Interesse hat für uns die gleichzeitige religiöse Baukunst: sie lehnt sich im allgemeinen (an manchen Bauten aber auch in allen Einzelheiten) an westeuropäische Muster an, vorwiegend an die Formen der italienischen Spätrenaissance. Die schönsten Beispiele dieser Richtung sind die Petersburger Kathedralen Issakijewski und Kasanski. Zu Anfang des XIX. Jahrhunderts wurde der Versuch gemacht, einen neuen byzantinischen Stil zu schaffen, ein Denkmal dieser Richtung ist die wenig gelungene Kathedrale des Heilandes zu Moskau, nach deren Muster viele andere Kirchen errichtet wurden.

In unserer Zeit hat sich noch kein einheitlicher russischer Baustil herausgearbeitet. Doch merkt man in den letzten Jahren im Schaffen junger Architekten immer mehr das Streben aus den Quellen der altrussischen Kunst zu schöpfen, immer mehr Interesse für die selbständige Baukunst des nördlichen Russlands in dessen erhaltenen steinernen und hölzernen Denkmälern. Dies heute so veränderte junge revolutionäre Russland wird wohl auch seine eigene Baukunst schaffen, wenn die Unruhen und Wirren vorüber sind, und die kulturelle Arbeit mit neuen Kräften neu begonnen wird.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Die russische Kunst. I. Die russische Baukunst