Die romantische Literatur Polens im neunzehnten Jahrhundert (1886)

Literarische Berührungspunkte zwischen Polen und Dänemark
Autor: Brandes, Georg (1842-1927) dänischer Literaturkritiker, Philosoph und Schriftsteller, Erscheinungsjahr: 1898

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Themenbereiche
Enthaltene Themen: Polen, Warschau, Hauptstadt, Baugeschichte, Stadtgeschichte, Landesgeschichte, Kirchenbauten, Bürgerhäuser, Glockentürme, Schlösser, Palais, Schwedenkrieg, Reichshauptstadt, Theater, Plastik und Malerei, Künstler, Baumeister, Schriftsteller, Literatur,
Inhaltsverzeichnis
  1. I. Allgemein europäische Rahmen der Literatur und eigenes Grundgepräge. Rückblick. Kochanowski. Skarga. Jesuitismus. Französische Philosophie. Rationalismus
  2. II. Die polnische Romantik bestimmt durch den Volkscharakter, die europäische Romantik und die politische Situation. Besondere Gesichtspunkte für den Gegensatz: klassisch und romantisch. Die Verehrung Napoleons und Byrons. Verhältnis zu Shakespeare und Dante. Die Einwirkung des Emigrantenlebens auf die Gefühlsweise der Schriftsteller
  3. III. Brodzinski, der Vorläufer der Romantik. Das Volkslied. Die ukrainische Dichterschule: Malczewski, Zaleski, Goszynski
  4. IV. Mickiewicz und Goethe. Faris und die Ode an die Jugend. Mickiewiczs Jugend. Mickiewicz und Puschkin
  5. V. Die politische Situation bestimmt die Behandlungsweise aller Stoffe, den Gesichtspunkt für Liebe und Hass, Tochter- und Muttergefühl, das Verhältnis des einzelnen zum Volke, zwischen Genie und der Mitwelt, Gefühl und Vernunft, das Verhältnis zur Religion und Philosophie
  6. VI. Zwei Hauptmotive bei den Hauptdichtern Mickiewicz, Slowacki und Krasinski. Ausmalen von Grausamkeiten und Besingen von Hoffnungen. Die Poesie der Bache bei den ersteren zwei Dichtern, die Poesie der Menschenliebe bei Krasinski
  7. VII. Die Hamletgestalt in Polen. Der radikal angelegte Hamlettypus bei Slowacki, der konservativ angelegte Hamlet bei Krasinski
  8. VIII. Pan Tadeusz, die einzige Epopöe des Jahrhunderts. Mickiewicz und Rzewuski. Mickiewicz's Bedeutung
  9. IX. Spaltungen zwischen den Dichtern. Die Auflösung der Romantik. Die heutige polnische Literatur. Zusammenfassendes Urteil
  10. X. Schluss
Die polnische und die dänische Literatur haben wenig Berührungspunkte.

Man findet in der polnischen Buchwelt einen kleinen ganz lehrreichen Beitrag zur dänischen Kriegs- und Kulturgeschichte des siebzehnten Jahrhunderts, nämlich die Lebenserinnerungen von Jan Chrysostom Pasek. Als Führer einer polnischen Heeresabteilung, die den Dänen Beistand gegen Karl Gustav von Schweden leistete, war dieser Edelmann in den Jahren 1658 und 1659 in Dänemark, nahm Teil an der denkwürdigen Eroberung der Insel Alsen durch Reiter, die über den Aissund mit den Pistolen hinter dem Kragen und dem Pulverhorn um den Hals schwammen, und beteiligte sich an dem Sturm auf Koldinghus und der Einnahme von Fridericia. Er beobachtet und schildert das Wesen und die Sitten des Bauernstandes, verliebt sich in die Tochter eines dänischen Gutsbesitzers, die zu ihm eine glühende Liebe hegt, reißt sich aber von der Geliebten los, kehrt in sein Vaterland zurück und führt dort zwei Dinge ein, die niemand zuvor in Polen gekannt hatte: dänische Holzschuhe und lange dänische Reiterstiefel.

Das dänische Volk findet er wohlgestaltet, die Frauen schön, aber allzu blond. Was die Einrichtung der Häuser betrifft, fällt ihm auf, dass die Schlafstätten häufig wie Wandschränke eingerichtet sind. In Betreff der Sitten und Gebräuche ist er verwundert, dass jeder, auch die Frauen, splitternackt schläft, und dass sich niemand schämt, sich in Gegenwart eines andern an- oder auszukleiden. Als die Polen dies als unschicklich tadelten, gaben die Frauen zur Antwort, dass sie sich nicht ihrer Glieder zu schämen hätten, die Gott geschaffen habe. Bezüglich der Lebensweise widert ihn das viele Wurstfleisch an, das als Leckerbissen verzehrt wird, und in Betreff der Kleidung erinnert er sich der Eigentümlichkeit, dass die Frauen, die sich sonst mit Geschmack anziehen, nicht nur auf dem Lande, sondern auch in den Städten in Holzschuhen gehen, „womit sie auf dem Steinpflaster solches Geräusch verursachen, dass man kaum ein Wort verstehen kann".

Im allgemeinen bemerkt er über die dänischen Frauen, dass sie in ihren Neigungen nicht so zurückhaltend wie die polnischen sind. „Denn obgleich sie im Anfange außerordentlich verschämt sind, verlieben sie sich doch nach einer einzigen Zusammenkunft so übertrieben und leidenschaftlich, dass sie ihre Gefühle nicht verbergen können, sondern bereit sind, ihre Eltern und eine reiche Aussteuer zu verlassen, um mit ihrem Liebhaber in die weite Welt zu gehen." Von seiner Geliebten führt er einen Brief an, dessen Echtheit jedoch den Gelehrten heutzutage nicht glaubwürdig vorkommt.

Er lautet: „Hoch wohlgeborener, gnädiger Herr! Personen, die unserm Herzen lieb sind, wünschen wir mit Worten zu ehren und mit unsern Augen zu sehen. In welch hohem Grade mein Vater Liebe zu Deinem berühmten Volke und Deinen ritterlichen Streitbrüdern gefasst hat, beweist er, indem er so oft Deinen Namen erwähnt. Es ist sein fester Entschluss, Dich nicht nur als einen angenommenen, sondern als einen leiblichen Sohn zu betrachten. Aber wenn der Vater Dich liebt, so liebt Dich die Tochter nicht weniger; eine unveränderliche Liebe wird stets in ihrem Herzen für Dich blühen. O, könntest Du in meinem Herzen die Bestätigung meiner Gefühle lesen! Ich bekenne nun offen, was ich so lange verborgen gehalten habe, dass mein Herz nie für einen andern Mann, als für Dich schlagen wird. Ich gehe, wohin mich das Schicksal und das Herz führt. Meine Familie darf sich zur Seite der edelsten Geschlechter in Polen stellen. Ist mein Charakter auch nicht fehlerfrei, so hast Du ihn doch gelobt. Meine Religion schändet mich nicht; ich glaube an die heilige Dreieinigkeit. Die Äußerung meines Vaters, dass er sein Vermögen nicht in ein fremdes Land verschicken werde, ist kein Hindernis. Mein Vater macht das Gesetz, aber Du kannst es frei auslegen, Du wirst frei über sein Vermögen gebieten können. Du hast zu gebieten, ich zu gehorchen u. s. w. u. s. w.

Eine Zeitlang fühlte Pasek, angesteckt durch die Leidenschaft des jungen Fräuleins, sich versucht, bei ihr in Dänemark zu bleiben, aber eine doppelte Furcht, für seine Verwandten in Polen wie tot zu sein und der ewigen Seligkeit verloren zu gehen, falls er sich überreden ließe, Lutheraner zu werden, bewog ihn, den Rückmarsch mit den übrigen polnischen Truppen anzutreten. In seiner Heimat wurde er ein Günstling zweier Könige und starb endlich im Jahre 1700 im hohen Alter. Erst 1836 wurden seine vortrefflichen Memoiren gefunden und herausgegeben.

Fügt man zu jener Erwähnung der Dänen der damaligen Zeit hinzu, dass Lelewel ein Buch über Edda Skandinawska geschrieben hat, und dass in verschiedenen romantischen Dichtungen Polens, z. B. in Krasinski's Irydion, hier und da phantastische Schilderungen Dänemarks aus dem heidnischen Altertum zu „König Odins" Zeiten gegeben werden, so sind hierdurch wahrscheinlich alle Eindrücke aus Dänemark erschöpft, die man im Kultur- und Geistesleben Polens findet.

Da hat die Existenz Polens doch tiefere Spuren in der dänischen Literatur hinterlassen. Besonders haben die kritischen Perioden der polnischen Geschichte in diesem Jahrhundert, die Revolutionen von 1830 — 1831 und 1863 die Aufmerksamkeit auf dieses Land geleitet und Teilnahme erweckt, freilich eine flüchtige Teilnahme, aber eine aufrichtige.

Zwischen den Jahren 1830 und 1840 entstanden in Dänemark, wie anderwärts, schöne und gefühlvolle lyrische Poesien über polnische Stoffe (wie Paludan Müllers Ruf an Polen, Aarestrups Eine polnische Mutter) und 1839 erschien Hauchs bekannter großer Roman Eine polnische Familie mit den eingelegten schönen Liedern, wovon das eine, von Gade komponierte: Warum schwillt der Weichselfluss? zu den besten und meist gesungenen der dänischen Literatur gehört.

Dieser Roman hat Interesse, als der einzige größere Versuch eines Dänen, sich in polnisches Seelen- und Gesellschaftsleben zu versetzen. Als Roman ist er dennoch ein Werk untergeordneten Ranges, die Charakterschilderung ist schwach und abstrakt. Es war gänzlich eine Folge des Zeitgeistes, dass Hauch sich nicht einfallen ließ, nach eigener Anschauung zu schildern. Er unternahm keine Reise nach Polen, bemühte sich nicht einmal ein paar polnische Familien an Ort und Stelle zu studieren, ehe er so weitläufig eine Familie darstellte, aber er lebte sich mit großer Sorgfalt in die übersetzten polnischen Volkslieder ein, bearbeitete oder gestaltete sie in Dänisch um, und so ist in den Tönen von Wehmut, Entsagung, Vaterlandsliebe und katholischer Religiosität, die durch den Roman klingen, ab und zu etwas angeschlagen, das wie ein polnischer Akkord klingt.

Selbst der erwähnte Gesang, der gewissermaßen, der in knappste Form gebrachte Geist des ganzen Buches ist, und der unter Tanz in einer der Hauptszenen des Buches gesungen wird, ist ganz auf Motiven polnischer Volkslieder gebaut, die noch heutigen Tages beim Krakowiaktanze gesungen werden.

Die Volkslieder bestehen immer aus zweizeiligen Strophen, wovon die erste Zeile ein Bild, die zweite dazu eine Parallele oder Erklärung abgibt.

Die Gesamtkomposition in Hauchs Gesang steht hoch über der Wirkung jener Strophen der Volkslieder, aber der polnische Ausdruck ist kürzer, hat mehr Nachdruck und Energie.

Obgleich die Ereignisse im Jahre 1863 verschiedene mehr oder weniger beredte und wohlüberlegte Äußerungen in der dänischen Journalistik veranlassten, haben sie im Norden gewiss keine andere Produktion von Wert hervorgerufen als vier bis fünf schöne Gedichte von dem ausgezeichneten schwedischen Lyriker, dem Grafen Snoilsky, die zuerst in einer dänischen Zeitung erschienen. Späterhin hat man in Dänemark Polen kaum viele Gedanken geschenkt; man hat die letzte Empörung den Todeskampf der Polen genannt und die polnische Nation als tot betrachtet.

Aber „noch ist Polen nicht verloren", obgleich dieses bedauernswerte Polen am meisten einer feinen und schutzlosen Frau ähnelt, worüber alle herfallen und die alle mit Füßen treten. Schon in den Dreißigern betrachteten die Freunde Polens seine Geschichte als abgeschlossen. 1831 hatten die Ungarn in einer Adresse an den Kaiser von Österreich angeboten, auf eigene Kosten ein Heer von hunderttausend Mann zur Hilfe der kämpfenden Polen auszurüsten. Der Antrag wurde natürlich abgelehnt; aber 1832, als alles vorbei war, sagte ein Mitglied des ungarischen Landtages, Polocsy, diese Worte: „Falls Könige und Kaiser sich als Mitglieder einer großen Familie betrachten und Trauer tragen, wenn einer von ihnen stirbt, so sollte weit eher der Untergang eines Volkes alle anderen Völker zur Trauer veranlassen, nur dass die Völker die Trauer, welche die Könige um den Hut oder den Arm tragen, im Herzen haben.“ Das sind schöne Worte, aber so wenig wie Polen in den Dreißigern eine Leiche war, so wenig ist es jetzt als getilgt aus der Zahl der Völker zu betrachten.

Brandes, Georg (1842-1927) dänischer Literaturkritiker, Philosoph und Schriftsteller

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Karl X. Gustav (1622-1660) König von Schweden

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IX Kopenhagen, Turm der Nikolaikirche

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X Kopenhagen, Schloss Christiansborg vor 1884

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XI Blick von Amalienborg zur Bredgade und Marmorkirche

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XII Ledreborg, Portalbau des Schlosses

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