VII. Die Hamletgestalt in Polen. Der radikal angelegte Hamlettypus bei Slowacki, der konservativ angelegte Hamlet bei Krasinski

Es kommt noch eine Variante des Rächertypus vor, die viel vom Verkündertypus in sich trägt, die bisher nicht berührt ist und für sich behandelt werden muss. Es ist die Gruppe von Gestalten in der romantischen Literatur Polens, die man mit einer Gemeinbezeichnung die Hamletgestalten nennen könnte. Es gibt ja in der Renaissanceliteratur diese eine große Gestalt, Shakespeares Hamlet, wovon man die moderne Poesie datieren kann, die ursprünglich aus englischem Wirklichkeitssinn und Montaigne'scher Skepsis entstandet ist. Wie „Hamlet" das erste philosophische Drama der neueren Zeit ist, so tritt auch hierin zum ersten Male der typisch moderne Mensch auf mit dem tiefempfundenen Kampfe zwischen dem Ideale und der Umgebung, mit der tiefempfundenen Kluft zwischen den Kräften und der Aufgabe, mit der ganzen inneren Vielfältigkeit des Wesens, mit Feingefühl und Grausamkeit, mit Witz ohne Lustigkeit, mit ewigem Aufschub und rasender Ungeduld.

Viel vom Modernsten in der Poesie des Jahrhunderts stammt von Hamlet. In Deutschland legt ihn Goethe in „Wilhelm Meister" aus und dieser umdichtete Hamlet erinnert an Faust. Als Faust auf englischen Boden umgepflanzt wird, entsteht Byrons Manfred, ein neuer, wenn auch entfernter Abkömmling Hamlets. Aber in Deutschland nimmt das Byron'sche Wesen eine neue und Hamlet'sche (Yorick'sche) Gestalt in dem bitteren und phantastischen Witze Heines an, in seinem Hasse, seiner Laune und Geistesüberlegenheit. Das Geschlecht, dem in Frankreich Alfred de Musset angehörte und das er in seinen „Confessions d'un enfant du siecle" schilderte, nervös, entzündbar wie Pulver, mit zeitig gestutzten Flügeln, ohne Feld für ihren Tatendurst und ohne Tatkraft auf ihrem geschichtlichen Felde, erinnert lebhaft an den Typus. Und die vielleicht beste Mannesgestalt Mussets, Lorenzaccio, wird der französische Hamlet, in Verstellung geübt, langsam, geistreich, sanft gegen die Frauen und sie doch mit harten Worten verletzend, krankhaft danach verlangend, der Bedeutungslosigkeit und Torheit seines Lebens durch eine Tat abzuhelfen, und zu spät handelnd, zu keinem Nutzen, desperat.


Hamlet, der vor Jahrhunderten das junge England gewesen, und der für Musset eine Zeit lang das junge Frankreich war, wurde später der Name, womit das Deutschland der vierziger Jahre sich taufte. „Hamlet ist Deutschland" sang Freiligrath.

Es kommt während der Entfaltung der polnischen Romantik ein Zeitpunkt, in welchem die Dichter geneigt sind zu sagen: Hamlet ist Polen.

Verwandte politische Verhältnisse bewirkten, dass die Hamletgestalt schon gleichzeitig, aber doch zumeist um zwanzig Jahre später dazu gelangte, eine andere slawische Literatur zu beherrschen, die russische, wo man sie von den Erzeugnissen Puschkins und Gogols bis zu denjenigen Gontscharows und Tolstojs verfolgen kann, während sie in Turgeniews Produktion eigentlich den Hauptplatz ausfüllt. Aber man wird sehen, dass die eigentliche Pointe im Hamletbewusstsein, der Rächerberuf, hier fehlt, weil aller Nachdruck auf das Missverhältnis zwischen Reflexion und Tatkraft im allgemeinen gelegt ist.

Dagegen findet man in all den polnischen Dichtergeistern tiefe Züge von Hamlets Wesen. Sie stehen seit ihrer Jugend alle in seiner Situation. Die Welt ist verrenkt und sie soll von ihrem schwachen Arm eingerenkt werden. Sie fühlen alle wie Hamlet das innere Feuer und die äußere Ohnmacht ihrer Jugend, hochgeboren, wie sie sind, edeldenkend, wie sie sind, fassen sie die Zustände, die sie umgeben, als ein einziges, großes Schrecknis auf, sind zugleich zum Träumen und Handeln, zum Grübeln und zur Rücksichtslosigkeit veranlagt.

Wie Hamlet haben sie ihre Mutter, das Land, dem sie das Leben schulden, unter der Hand des gekrönten Räubers und Mörders erniedrigt gesehen. Der Hof, wozu ihnen zuweilen der Zutritt offen steht, schreckt sie, wie der Hof des Claudius den dänischen Prinzen schreckt. Diese Nachkommen Hamlets sind, wie er, grausam gegen ihre Ophelia, verlassen sie, wenn sie von ihr aufs höchste geliebt werden; sie lassen sich, wie er, weit fort nach fremden Ländern schicken und wenn sie sprechen, verstellen sie sich, wie er, kleiden ihre Ansichten in Gleichnisse und Allegorien. Von ihnen gilt endlich, was Hamlet von sich selbst sagt: Nimm dich in acht; denn es liegt etwas Gefährliches in mir. Das eigentümlich Polnische ist, dass, was sie schwächt, und sie auf ihrem Wege hindert, nicht ihre Reflexion, sondern ihre Poesie ist. Während die Deutschen dieses Typus in Reflexion, die Franzosen in Ausschweifungen, die Süßen in Faulheit, Selbstironie oder Selbstaufgeben zu Grunde gehen, fährt die Phantasie die Polen irre, und bringt sie dahin, ein Leben abseits vom wahren Leben zu führen.

Der Hamletcharakter bietet ja eine Mannigfaltigkeit von verschiedenen Seiten. Hamlet ist der Zweifler, ist der durch Rücksichten oder Erwägungen an Untätigkeit Gebundene, ist der Gehirnmensch, der teils nervös handelt, teils aus Nervosität nicht zu handeln vermag, er ist endlich der Rächer, der Mann, der sich verstellt, um desto besser rächen zu können. Jede dieser Seiten wird von den polnischen Dichtern entfaltet.

In Mickiewicz's persönlichem Charakter liegt wenig Hamletartiges, es sei denn, dass man die fast geisteskranke Benommenheit von einer Idee so bezeichnen will, die sich seiner von dem Augenblicke an bemächtigte, da Towianski in sein Leben trat. Die Befreiung Polens wurde von nun an für ihn eine Religion, eine Gewissheit. Er wollte an Nikolaus schreiben, Rothschild bekehren, um ihn für die Sache zu gewinnen. Der Lehrstuhl der slawischen Geschichte und Literatur, den ihm die Julimonarchie am College de France übertragen hatte, wurde ihm entzogen, da seine Vorträge nach und nach dazu übergingen, aus der bloßen Entwicklung phantastisch patriotischer Theorien zu bestehen (1844). Aber Tatkraft besaß er. 1848 versuchte er eine Legion von Polen in Italien zu bilden.

Unter Napoleon III. Regierung, der nach seinem Glauben die Messiasversprechungen des großen Napoleon verwirklichen würde, versah er einige Jahre das bescheidene Amt eines Bibliothekars am Arsenale, das ihm der Kaiser gegeben hatte, reiste jedoch während des Krimkrieges nach Konstantinopel, um in der Türkei eine polnische Legion gegen Russland zu bilden. Unter diesen Bestrebungen starb er dort im November 1855.

Es liegt jedoch ein Schimmer von etwas Hamletartigem in verschiedenen Gestalten, die er geschaffen hat, in Wallenrod, in Gustav, in Conrad, in Robak. Gustav spricht die Sprache des tiefsinnigen Wahnsinns, Conrad vertieft sich in philosophische Grübeleien, Wallenrod und Robak verstellen oder verkleiden sich im Dienste der Rache, und der letztere tötet, wie Hamlet, den Vater seiner Geliebten.

Eine weit größere Rolle spielt das Hamletwesen bei Slowacki. Er war wild und sanft, unbändig und epheuartig, klammerte sich im Leben an seine Freunde, in der Kunst an Vorbilder, lebte nicht mit seiner ganzen Persönlichkeit, sondern mit dem Kopfe, in seinen Ideen und seiner Phantasie. Seine Phantasie ist farben- und melodienreich, ornamentierend und instrumentierend, aber ihr fehlt jede Plastik. Darum ist der Rat Krasinskis an ihn so treffend: Lege Granit unter deine Regenbogen!

Seine historische Stellung ist die, dass er sich durch und durch als Mickiewicz's Nebenbuhler und Gegner fühlte. Seine dichterische Produktion ist zum großen Teile dadurch bedungen. In der Geschichte des Mittelalters lesen wir von Gegenpäpsten. Slowacki gehört zu der nicht geringzähligen Rasse der Gegenpäpste. Seine eigentliche Originalität beruht in der Form. In Betreff der Gestalten und Grundmotive wird er fast ganz durch die Vorbilder bestimmt, die er nachahmt, und durch die Rivalen, die er übertreffen oder denen er widersprechen will. Um so deutlicher verspürt man in seinem empfänglichen Naturell die allgemeinen Tendenzen der Literatur.

Sein Drama Kordjan, angesichts des Mont-Blancs geschrieben, der Slowacki „eine gemeißelte Statue Sibiriens u schien, hat als Motiv die Krönungsverschwörung gegen Kaiser Nikolaus. Gibt es etwas Hamletähnlicheres, als Kordjans Antwort auf den Ausruf des Präsidenten „Du hast Fieber, Deine Augen sind wild“ :

Kordjan.
Es ist nichts, alter Mann! Es ist mein Haar, das weiß wird und meine Gehirnschale verzehrt. Ich fühle jedes meiner Haare die Qual des Todes leiden; aber es macht nichts . . . Pflanzt auf mein Grab zwei Pappelzweige und einen Rosenbaum. — Ströme von Tränen werden sie netzen und ich werde wieder Haare auf den Kopf bekommen . . . Hast Du eine Feder bei Dir? Ich möchte wohl die Namen derer aufschreiben, die mir nachweinen werden. — Mein Vater tot; meine Mutter tot. Alle meine Verwandten tot; sie schlimmer als tot . . . Also nach mir bleibt niemand zurück. Sie bleiben Alle mit mir zusammen! Und der Galgen wird mein Denkmal.

Der Präsident.
Kordjan! Da ist der Zettel, den Du den Verschwörern gabst, nimm ihn, verbrenne ihn und sei von Deinem Wort erlöst!

Kordjan.
Eins, zwei, drei! Das Gewehr über! Schildwachen auf dem Schloss! Gebet Acht! Welche dummen Worte, sie wollen lehren, wie man gehen soll. — Alter Mann! Du langweilst mich mit Deinem friedlichen Gesicht, ich kann nicht vergessen, dass ich nie alt werden soll. Wenn ich Dich jemals mit meiner zahlreichen Kinderschar umringe, so bespeie meine weißen Haare, ich erlaube es. (Die Uhr schlägt elf.) Es ist der Himmel der mich ruft (eilt heraus).

In einer großen phantastischen Scene wird nun Kordjans Eintritt ins Schloss geschildert, wo er diese Nacht Wache hat und wo er mit seinem Karabiner im Arme nach der Schlafkammer des Kaisers geht, während die Stimmen der Einbildungskraft und der Furcht unausgesetzt ihm zusprechen. Die Einbildungskraft sagt: Höre mich! Ich spreche zu deinen Augen! Die Furcht: Höre mich! Ich spreche im Klopfen deines Herzens! Bis Wände und Säulen zu Schlangen und Sphinxen werden, der Fußboden lebt, die Pflanzen Ohren haben, die Blumen ihn anstieren und lange Leichenzüge von der Kirche ins Schloss wandern: Särge, Zepter, Kronen, Leichen, und immer mehr Leichen, während die Kirchenglocken läuten. Kordjan stürzt zu Boden, den Arm um sein Bajonett. Er war der Tat nicht gewachsen. Die polnische Neigung zur Phantasterei stellte sich zwischen ihn und seine Tat. Nicht weniger hamletartig ist in Kordjan die frühere, fein ausgeführte Scene, worin Kordjan als Emigrant Audienz beim Papste hat, demselben Gregor dem sechzehnten, der im Juli 1832 in einem Briefe an die Bischöfe von Polen die polnische Revolution als Empörung gegen den legitimen Herrscher verurteilt hatte, und den großmütigen Kaiser lobpries, der — Gott sei gedankt! — die Ordnung und Ruhe wiederhergestellt hatte.

Die Scene spielt im Vatikan. Der Papst sitzt in 'seinem Stuhle. Zu seiner Seite auf einem Taburett seine dreifaltige Krone. Darauf ein rothalsiger Papagei.

Ein Schweizer öffnet Kordjan die Thüre und meldet mit lauter Stimme: Graf Kord jan, polnischer Edelmann!

Der Papst. Sei gegrüßt, Nachkomme Sobieskis! (Er streckt den Fuß vor. Kordjan kniet und küsst ihn.) Polen wird ständig von den Wohltaten des Himmels überhäuft, nicht wahr? Täglich danke ich Gott im Namen dieses glücklichen Landes. Denn der Kaiser, der wirklich einem Engel mit einem Ölzweige gleicht, trägt im Herzen stets die beste Gesinnung für die katholische Religion. Wir sollten Hosianna singen . . .

Der Papagei
(mit durchbohrender Stimme):

Miserere!

Kordjan.
Ich bringe Euch, heiliger Vater, hier eine heilige Relique; es ist eine Handvoll der Erde, wo man zehntausend Menschen, Kinder, alte Leute, und Frauen gemordet hat . . . ohne ihnen zuvor die Sakramente des Altars zu geben. Verwahre sie, wo Du die Geschenke der Zaren verwahrst, und gib mir dagegen eine Träne, nur eine Träne . . .

Der Papagei.
Lacrymae Christi.

Der Papst. . . . Morgen sollst Du mich in meiner ganzen Majestät zu sehen bekommen, den Segen über die Stadt und die Welt verbreitend. Du wirst ganze Völkerschaften vor mir auf den Knieen sehen. Lass die Polen zu Gott beten, Ehrfurcht vor dem Zaren haben und fest an ihrer Religion halten.

Kordjan.
Aber diese Handvoll blutiger Erde segnet sie keiner? Was soll ich meinen Freunden antworten?

Der Papagei
De profundis, clamavi, clamavi!

Der Papst
. . . . Mein Sohn! Gott leite deinen Gang und möge Dein Volk die Keime des Jakobinismus aus seinem Schosse reißen und ganz und gar sich heiligen, um Gott zu verehren und die Erde zu bebauen und nichts anders mehr in den Händen haben, als Psalmbuch, Harke und Rechen.

Kordjan
(seine Handvoll Erde in die Luft werfend). Ich werfe die Asche der Märtyrer hinaus in alle Winde. Mit sorgenvoller Seele kehre ich heim in mein Geburtsland.

Der Papst.
Wenn die Polen überwunden werden, kannst Du sicher sein, dass ich der erste sein werde, der sie in den Bann tut. Möge die Religion wie ein Ölbaum wachsen und das Volk in Frieden unter seinem Schatten leben.

Der Papagei.
Halleluja!
Und finden wir nun bei Slowacki den radikal angelegten polnischen Hamlettypus, so begegnet uns bei Krasinski, der in so vielen Jahren Slowackis Freund und Stütze war, der konservativ veranlagte Hamlet. Der Dichter konnte nicht mit vollkommen freier Selbständigkeit seine Lebensanschauung von innen heraus entwickeln. Ein gewisser Vorbehalt war ihm durch seine Stellung als Sohn seines Vaters und durch eine Geschlechtserbschaft aristokratischer Tendenzen diktiert. Oft und häufig hat bei ihm offenbar die persönliche Originalität in einem beständig niedergekämpften, inneren Streit mit der Lehre gelegen, die er verkündete, und mit der Lebensanschauung, die er verföchte, — eine Lebensanschauung, die alle Vorzüge einer erhabenen und pöbelfeindlichen Denkart hat, die aber nie jung ist, nicht einmal -in der ersten Jugend.

Der Held der Gottlosen Komödie hat mehr als einen Zug mit dem berühmtesten aller Dänen gemeinsam. Er besitzt die Empfindlichkeit und Einbildungskraft Hamlets. Er strebt nach einem Ideal, steht aber gleichsam außerhalb der Wirklichkeit, sein Leben dichtend. Er ist ein Freund von Monologen und beschäftigt sich mit Schauspielen. Er hat ein äußerst feinfühliges Gewissen, kann aber grausame Handlungen begehen. Er wird für die unvernünftige Schwierigkeit seines Wesens durch den Irrsinn seiner Frau bestraft, ungefähr wie Hamlet für seine verstellte Tollheit durch die wirkliche Geisteskrankheit Ophelias bestraft wird. Aber dieser Hamlet liegt in stärkerem, inneren Streit und wird von einem ganz anderen und tieferen Zweifel als der Hamlet der Renaissancezeit verzehrt. Jener zweifelt daran, ob der Geist, dessen Sache er verfechtet, mehr als ein Phantom sei. Wenn Graf Henrik sich in das Kastell der heiligen Dreieinigkeit einschließt, ist er nicht sicher, dass die heilige Dreieinigkeit mehr sei als dieses. Er hat keinen Glauben, nur Drang zu glauben. Er ist konservativ und klerikal, nicht aus Überzeugung, sondern aus Furcht, dass die Mächte, die jenes Kastell bekämpfen, nur zerstörende sind. Aus rein politischen Gründen verfechtet er ein religiöses System, worüber er von seinem plumpen Gegner, dem Führer der Demokratie, Pankratius (eine Gestalt wie Renans Caliban), die härtesten Wahrheiten hören muss, ohne sie widerlegen zu können. Es nützt wenig, dass er, als Pankratius ihm seine Utopien entwickelt, die Antwort bereit hat: „Du glaubst selbst nicht daran", wenn dieser auf seine Replik von der Menschheit, die schon durch Christus erlöst ist, antworten kann: „Warum half er denn nicht den Menschen in den fast zweitausend Jahren des Jammers und Elends, die seit seinem Tode verstrichen sind. Bist du im Bilde der Menschheit oder der Ammenstube erschaffen?"

Diese Qual bildet ganz besonders die Qual des polnischen Hamlets.

Krasinski machte sich keine Illusion über eine baldige Wiedererrichtung des polnischen Reiches. Er betrachtete im tiefsten Innern die ganze westeuropäische Zivilisation, die polnische inbegriffen, als zum Tode verurteilt. Ja, sogar das Christentum erschien ihm sterbend, obgleich er selbst immer im christlichen Geiste schrieb. Wenn er als aristokratischer Konservativer in seinen Poesien auftrat, dann geschah es mit dem qualvollen Gefühl, dass er das schlechte aus Furcht vor dem schlimmeren verteidigte. Die Widerwärtigkeiten seines Privatlebens im Verein mit den nationalen Unglücken brachen ihn zeitig. Von seinem 34. Jahre an war er ein gebrochener Greis, durch Nervenschwäche und Augenleiden zu Grunde gerichtet. Die dreizehn Jahre, die er noch zu leben hatte, waren ein unausgesetzter Todeskampf.

Es wurde oben berührt, dass Hamlet bei ihm sozusagen am Hofe des Claudius eingeführt wird. Es geschieht in seiner schönen Dichtung, Die Versuchung die ein typisches Beispiel der symbolischen Darstellungsform abgibt, worin der politische Zustand jener Tage die polnischen Dichter sich auszudrücken zwang. Die Dichtung beruht deutlich genug auf persönlichen Erinnerungen dessen, was während Krasinskis Jugendaufenthalt in Petersburg geschehen und ist außerdem eine phantastische Schilderung .dessen, was er erlebt haben würde, falls er dem Beispiele seines Vaters gefolgt wäre.

Das Gedicht beginnt geheimnisvoll mit einer Anrufung: „O Mutter, sechsmal durchbohrte, unglückliche Mutter!" und schildert eine Landschaft, wo auf einer sanft aufsteigenden Höhe ein Sarg unter einer schlanken Föhre liegt; in dem Sarge liegt eine Gestalt mit Ketten um den Händen, und einer Krone auf der Stirne. Sechs Hügel sind durch grüne Furchen getrennt, worin das Blut wie murmelnde Bäche rinnt und Unkraut über zerbrochenen Waffen sprießt.

Dann wird die Ankunft eines vornehmen Jünglings in der großen Stadt und einem großen Schloss geschildert, auf dessen Treppen alle so eifrig hinaufgehen, als steige man zum Himmel empor. Zahlreiche Instrumente erklingen, Wohlgeruch umströmt den Kommenden, er sieht einen Thron wie im Sonnenglanze über die Schar der Tanzenden erhöht. Auf dem Throne sitzt der Alleinherrscher über Leben und Tod, unter einem Himmel von Fahnen. Von einer dieser Fahnen, die in Fetzen zerrissen ist, fallt hin und wieder ein Bluttropfen. Aber keiner achtet darauf, nur der Jüngling allein.

Die Menge teilt sich nun, und vom Throne schreitet der Herr des Schlosses herab und tritt aufrecht und stramm zu dem jungen Manne heran. Der Jüngling blickt ihm fest ins Auge; der Herrscher runzelt seine Brauen und sagt leicht: „Komm, lass uns zusammen gehen, und ich will dir die Wunder meines Schlosses zeigen." Und da der Jüngling wie in Träumen verloren steht, gibt er ihm einen Kuss auf die Stirn und fuhrt ihn mit sich. Mit dem Sarge seiner Mutter vor Augen geht der junge Mann zur Seite des Herrn über Leben und Tod, und das Blut in seinem Arm klopft wider den harten Arm des Gewaltherrschers. Und dieser spricht von der Vergangenheit, nennt selbst den Namen der gemordeten Mutter ohne Schaudern, als ruhe ihr Tod nicht auf seinem Gewissen.

Sie gehen durch Reihen von Menschen, deren Stirnen den Malachitboden berühren; dann öffnen sich am andern Ende des Schlosses plötzlich Erztüren. Der Jüngling sieht in eine ungeheure Schatzkammer, in Bergminen von unendlichem Umfange. In blendendem Glänze erstrahlen Quellen fließenden Goldes und Silbers und Amethystgewölbe erheben sich in Regenbogenfarben. Aber hie und da hört man auch etwas wie einen Schrei von Sterbenden, wie ein Rasseln von Ketten, und ab und zu ziehen Menschengestalten vorbei, wie schwarze Wölkchen über den Mond; sie erheben die Hände, und es rasselt dabei, und sie flehen um einen Tropfen Wasser; dann glühen die Augen des Herrn blutrot vor Zorn.

Von nun an huldigen alle dem jungen Manne. Man will die Hand küssen, welche die Hand des Herrschers berührt hat. Man reicht ihm Pokale voll köstlichen Weines, und ein junges, schönes Weib fleht ihn um Liebe an.

Im Thronsaale hat der Herr über Leben und Tod dem Jüngling den Platz an der Tafel zu seiner Seite unter den eroberten Fahnen gegeben. Gesandte von Königen des Ostens und Westens treten vor den Herrscher, und jeder Feldherr setzt an den Fuß des Thrones eine Urne aus purem Golde, voll von der Asche derjenigen, die im Kampfe für die heilige Sache in den verschiedensten Gegenden der Welt gefallen sind. Der Herrscher fragt: Sind sie wirklich tot und werden sie nie mehr auferstehen? Die Antwort lautet: „Sicherlich nie”, und die Urnen werden längs der beiden Seiten des Saales auf schwarzen Granitsäulen angebracht. Es wird Feuer in sie eingelegt, und die Asche brennt mit bläulicher Flamme; bleiche Weihrauchwolken bringen dem Herrscher den Totengeruch.

Gerade gegenüber dem jungen Manne steht die Urne, die den Namen der Mutter trägt und die Asche ihrer Söhne birgt. So oft er hinsieht, lässt er seinen Becher fallen, aber das schöne Weib an seiner Seite reicht ihm ihn stets aufs Neue. Ein Schleier legt sich um sein Bewusstsein. Da lächelt der Herrscher und sagt: „Du bist mein Gast; es ist Zeit, dass du mir Treue schwörst und auf deinen alten Namen Verzicht leistest”, und er wirft ihm eine Handvoll Diamantkreuze mit den Worten zu: „Trage sie zur Erinnerung an mich." Ein Herold tritt vor, und aus einem schwarzen Buche liest er dem jungen Manne die Eidesformel laut vor, der sie mit gesenktem Haupte wiederholt, während es ihm schwarz vor den Augen wird. Kaum hat er geendet, so erhebt sich der Herr des Lebens und des Todes und ruft: „Du Sklave meiner Sklaven! Im Stricke sollst du sterben, falls du deinen Eid brichst.“ Dann lacht er höhnisch. Aber als der Jüngling seine Augen erhebt, liest er auf der Urne, wo der Name der Mutter stand, nur das eine Wort: Schmach, und Schmach rufen tausende ihm zu, hinter ihm, vor ihm, um ihn herum. Schmach hallt es in den Wölbungen des Schlosses wieder vom Thronsaale bis zur Schatzkammer.

Das Ganze war ein Traumgesicht, aus dem der Jüngling erwacht, und das Gedicht endet, wie es begann, mit einem begehrten Anflehen der sechsmal durchbohrten Mutter.

Das Gedicht ist, wie schon angedeutet, ein Ausdruck für das Entsetzen des polnischen Hamlets vor dem Hofe des Claudius.

Aber man gibt nur eine einseitige Vorstellung von der Eigentümlichkeit und Vielseitigkeit dieser polnischen Schriftsteller, indem man ihre Hamlet-Situation betont. Hamlets Gegensatz ist in Shakespeares Tragödie Fortinbras, das verjüngende Prinzip des frischen Wirklichkeitslebens, das die Krone und das Reich erbt, wenn alles andre erschöpft und vergiftet ist. Man findet einen Schimmer auch vom Wesen des Fortinbras bei mehreren dieser Dichter, aber eben das, was er sinnbildlich vertritt, lebt in Mickiewicz.

Es war ein Grundquell sprudelnder, tollkühner Jugendkraft in Mickiewicz. Es lag etwas in ihm, was die Frische, die Unwiderstehlichkeit selbst war, was in der Ode „An die Jugend", zu Worte kommt und in dem unsterblichen Gedichte Faris. Es ist die Jugend, welche glaubt, die alte Welt aus ihrem Geleise reißen zu können und welche den Versuch macht. Es ist die Jugend, die wie Faris und der Jehu der Bibel zu Werke geht „als sei sie toll". Vor ihr ergreifen die Raubvögel die Flucht und die Orkane müssen weichen. So ursprünglich findet man diese stürmende Kraft und dieses Selbstvertrauen weder bei Slowacki noch bei Krasinski. Aus dieser Kraft geht bei Mickiewicz eine so hohe Leidenschaft hervor, wie sie im dritten Teile von Dziady den Bogen spannt, und ein so männliches Gleichgewicht im Gemüte, wie es sich in dem Meisterwerke der polnischen Literatur, in Pan Tadeusz offenbart.

Eine solche Gesundheit des Empfindungslebens findet man bei keinem andern polnischen Dichter. Mickiewicz allein vermochte sich jenen großen Namen der Dichtergeister zu nähern, die in der Geschichte allen voran als gesunde stehen, weit gesunder als Byron, sogar gesunder als Shakespeare: Homer und Goethe.

Nicht kraft der Gesundheit seiner Seele erhebt sich Krasinski über sein Zeitalter und gehört der Zukunft an. Es ist kraft der Hoheit seiner Seele und des Erhabenen in seiner Ansicht und seinem Gedankengang. Seine Werke haben nicht die Röte der Gesundheit, sondern die Reinheit der Farblosigkeit. Es liegt eine trotzige Selbständigkeit in seiner isolierten Stellung, ein eigener Fernblick in seinen Ahnungen über die Gefahr, das Volk gegen den polnischen Adel aufzuhetzen — diesen Ahnungen, worüber ihn Slowacki übermütig und höhnend verspottete, die aber eine anscheinend unwiderlegbare Rechtfertigung erhielten, als die Bauern Galiziens sich 1846 von Metternichs Kommissar Breindl für jeden lebenden polnischen Edelmann fünf, und für jeden getöteten zehn Gulden ausbezahlen Hessen. Es liegt endlich ein Tiefsinn in der gottlosen Komödie, deren Genialität überrascht, wenn man bedenkt, dass sie von einem Jüngling von 21 Jahren verfasst ist.

Weder durch Gesundheit, noch durch Selbständigkeit wird Slowacki's Produktion der Zeit trotzen. Er ist zwar in religiöser Hinsicht freisinniger, in politischer Hinsicht verwegener als seine großen Nebenbuhler, aber er ist es beständig gerade so sehr aus Widerspruchslust, wie aus Überzeugung. Keiner ist glänzender als er. Er besitzt die echte polnische Liebe zu Glanz und Farbenpracht, er, für den das Göttliche der Federbusch auf dem Helm war. Aber besitzt er die polnische Prachtliebe, so verfügt er außerdem zuvörderst über die allgemein slawische Nachahmungsgabe. Fast bei jedem seiner Werke wird man durch die Erinnerung an ein ganz bestimmtes Vorbild im Genusse gestört.

Die Art, worin er sich Shakespeare aneignet, ist unfrei; sein Balladyna, ein Gemisch von dem „Sommernachtstraum", „König Lear“ und „Macbeth", worin man reizende Einzelzüge, tiefsinnige Szenen findet, aber worin die einzelnen Elemente unharmonisch zu einander stehen, hinterlässt trotz der Kühnheit gewisser Erfindungen, einen peinlichen Gesamteindruck. Seine Behandlung der Tragödie Beatrice Cencis hat er in Grund und Boden verdorben, indem er das menschliche Seelenstudium durch einen romantischen Hexentanz ohne Ende ersetzte, der nur ein Breittreten des in „Macbeth" . mit der Knappheit des Meisters behandelten Hexenmotivs ist. Seine Cenci steht weit zurück vor der so viel früheren, bewundernswerten Behandlung desselben Stoffes durch Shelley, die Slowacki offenbar nicht gekannt hat — sonst hätte er sie nachgebildet. Seine Maria Stuart ist selbständiger und eigenartiger. Sie durchgeht fast Akt für Akt denselben Abschnitt aus dem Leben der schottischen Königin, die später Björnson behandelt, und Slowackis Maria ist obendrein als Charakter interessanter und bedeutender, als die Björnson’sche, während die Behandlung im Ganzen lyrischer ist.

Slowacki war vielleicht von sich selbst zu erfüllt, um sich recht in die Menschen zu vertiefen, ehe er sie schilderte. Er studierte weniger das Menschenleben, als Byron und Shakespeare, Mickiewicz und Krasinski, zuletzt Calderon. So zeichnete er halb lebende, halb geträumte Figuren; Gestalten, die fragmentarisch wahr, fragmentarisch verzeichnet sind und er deckte die Schwächen der Zeichnung, indem er den Regenbogenglanz seiner Diktion darüber warf. Sein Stil ist beredt und kühn, selten eng genug anschließend. Dessen Stärke und Schwäche bildet der überwältigende oder allzu große Farbenreichtum.

Es gibt keinen Vogel, der an Flügelspannung und Flugkraft dem Adler gleich ist. Nicht umsonst wird er der König der Vögel genannt. Es gibt keinen Vogel, der in fleckenloser Weiße und in der stillen Würde der Bewegung dem Schwane gleich ist. Nicht umsonst ist er das Symbol der adeligen Reinheit. Der Pfau kann nicht wie der Adler fliegen, nicht wie der Schwan segeln, aber keiner von ihnen erreicht ihn in der unvergleichlichen Farbenpracht des Gefieders.

Mickiewicz ist der Adler, Krasinski der Schwan, Slowacki der Pfau unter den beflügelten Geistern Polens.