IV. Mickiewicz und Goethe. Faris und die Ode an die Jugend. Mickiewiczs Jugend. Mickiewicz und Puschkin

An einem Augusttage im Jahre 1829 kamen in Weimar zwei junge Polen an, um wenn möglich die Bekanntschaft des großen Goethe zu machen. Sie hatten Empfehlungsbriefe an seine Schwiegertochter Frau Ottilie, geborene Pogwisch und an ihn selbst von einer angesehenen polnischen Künstlerin, der Hofpianistin Frau Szymanowska in St. Petersburg.

Sie wurden vortrefflich aufgenommen, wurden sowohl im Goethe'schen Hause, als in der ganzen besten Gesellschaft in Weimar außerordentlich beliebt, und sie verdienten es völlig; denn sie gehörten zu den Personen, die erwiesene Gastfreundschaft vergelten. Es war Adam Mickiewicz, damals 30 Jahre alt und sein 26 jähriger Freund Odyniec, der begeistertste und liebenswürdigste Patroklos, den irgend ein Achilles sich wünschen könnte.


Odyniec's natürliche und reizende Briefe aus Weimar zeigen uns wie in einem Spiegel die kleine, weitberühmte Stadt in den Tagen, als Goethe achtzig Jahre alt wurde, schildern aber außerdem mit feiner Beobachtungsgabe, wenn auch nicht ohne Parteilichkeit, den Kontrast zwischen dem größten Dichter Deutschlands und demjenigen Polens, als jener Greis war, während dieser in der Kraft seiner Jugend stand.

Wir hören den alten und den jungen Meister sprechen, und ihre Aussprüche sind mit dem Leben des Augenblicks festgehalten. Köstlich ist die Beschreibung des ersten Besuches bei Goethe, als sie eingelassen werden, nachdem sie eine Viertelstunde unter fürchterlichem Herzklopfen gewartet haben. Man hört förmlich die Betonung in Goethes begeistertem Ausruf, über Frau Szymanowska: Elle est charmante; comme eile est belle et gracieuse; comme eile est charmante. Und später die kleine Gesellschaft bei Frau Ottilie, wo der junge Odyniec so sehr von der schönen Frau Vogel eingenommen ist. Goethe richtet die wohlwollende Frage an ihn: Nun, wie gefallen denn Ihnen unsere Damen? und der junge Pole, welcher der deutschen Sprache nicht ganz mächtig ist, antwortet lächelnd: „Paradiesischer Vogel, Exzellenz." Er wollte sagen: Paradiesvogel.

Eines Tages, als Odyniec bei Vogels zum Frühstück gewesen ist und sich dort so lange aufhielt, dass er die Zeit zur Mittagsmahlzeit im Hotel versäumte, trifft er bei seiner Heimkehr Adam am abgedeckten Tische mit zwei französischen Herren. Sie haben ihn gebeten, er möge ihnen auf den Namen des größten polnischen Dichters helfen. Aber er nennt beständig Namen, die sie als falsch abweisen. Der eine sagt: Non, non, ce n'est pas le nom! Mik . . . Mis . . . Mik . . . Eh! qui est donc votre grand poète? Mickiewicz sieht starr auf Odyniec und schüttelt leicht den Kopf, schlägt dann vergebens den Namen Krasinski vor, und unter der Entrüstung der Franzosen über die Unkenntnis des Polen in seiner eigenen Literatur erhebt sich Adam und geht auf sein Zimmer. Die Herren, von denen der älteste der berühmte Bildhauer David d’ Angers war, der nach Weimar gekommen, um die Büste Goethes auszuführen, wendet sich jetzt an Odyniec mit der Frage, ob auch er nicht den Namen des ersten polnischen Dichters kenne. „Sie meinen wahrscheinlich Adam Mickiewicz?" sagt er. Als David ausruft: „Gerade, er ist es, von dem ich sprechen wollte”, erhält er die Antwort: „Er ging gerade zur Türe hinaus." — „Ah, wie drollig! Aber es ist richtig. Ich habe sein Bild in einem spanischen Mantel."

Es war das bekannte Bild von Mickiewicz in affektierter Pose, gestützt an den Felsen Ajudagh.

David sucht sofort Mickiewicz in dessen Zimmer auf und findet dieses veränderliche Wesen, das kurz zuvor finster und gleichgültig war, herzlich und munter. Während des lebhaften Gespräches wächst nun — nach Odyniec's enthusiastischer Beschreibung — Adam plötzlich zu einem Riesen heran und sprüht Funken, wie ein Vulkan, so dass David, ganz gerührt, um Erlaubnis bittet sein Portrait als Medaillon ausführen zu dürfen. An einem folgenden Tage veranlasst er ihn, etwas von ihm selbst Gedichtetes in einer französischen Prosaübersetzung laut vorzulesen. Mickiewicz liest das Gedicht, das sicher das beste seiner kürzeren Poesien ist, nämlich Der Faris. Es lautet:

Froh, wie das Schiff, wenn es das Land verlasssen,
Und wieder auf Kristallflut kommt gezogen,
Des Meeres Brust mit Rudern vor Wonne möcht' umfassen,
Den Schwanenhals sanft wiegen auf den Wogen,
Arabiens Sohn, von den felsigen Stufen
Mein Ross in die Steppen ich lenke:
Leis zischt es im Sand von den tauchenden Hufen,
Wie wenn in Wasserströme der Stahl sich glühend senke.
Schon schwimmt mein Ross im Sandmeer, schon teilt, den
Blick voll Gluten,
Die Brust des Delphinen feinkörnige Fluten:
Schneller immer, wie im Fluge,
Scheint es auf dem Kies zu schweben;
Immer höher, bis zum Buge
Sich aus Wolken Staub's zu heben.
Mein Rappe gleicht den Wolken, die dunkel dort sich türmen,
An seiner Stirn die Blässe an Pracht dem Morgensterne,
Gibt preis die Straußenmähne er willig allen Stürmen,
Und wirft mit weißen Hufen den Blitz er in die Ferne.

Weißhuf, trage kühn den Reiter
Über Berg’ und Wälder weiter!
Palme lockt mit Frucht und Blüte
Mich umsonst in ihren Schatten —
Tief verbirgt die Schamerglühte
Sich auf der Oase Matten:

Weiter! Und wie höhnisch Lachen,
Lässt ihrer Blätter Rauschen sie meinem Stolz erschallen.

Den Saum der Wüstengrenze rings Felsen überwachen,
Beschaun mit wilden Blicken den kühnen Beduinen;
Nachäffen sie vom Huf' das letzte Widerhallen,
Drohen mir mit Schreckensmienen:

„Wohin jagt der Sinnberaubte!
Schlummer nicht in Zeltes Schosse,
Palmen nicht mit grünen Haaren,
Schutz dort bieten seinem Haupte
Vor des Sonnenspeers Gefahren —
Nur das Himmelszelt, das große,
Wölbt sich, wo nur Felsen nächt'gen.
Nur die Sterne ziehn, die prächt'gen!"

Doppelt wird das Ross getrieben —
Ganz umsonst ist all ihr Drohen;
Bis die Felsen all, die hohen,
Die im Rücken mir geblieben,
Fern, in Reihen, langgestreckten,
Bergend sich, einander deckten.
Ein Geier hört ihr Dräuen, und blind vertraut er ihnen,
Dass in der Wüste fangen er kann den Beduinen;
Nachstürmt er, mich verfolgend, wild schlägt er mit den Schwingen,
Und will mit schwarzem Kranze dreimal mein Haupt umschlingen.

„Leichen", krächzt er, „spür' ich, Leichen!
Toren seid ihr, sondergleichen!
Reiter, suchst im Sand du Spuren?
Weißhuf, suchst du Weidefluren?
Spart die Mühe, Boss und Reiter —
Kommt bis hierher und nicht weiter!
Jeder Pfad verweht im Sturme,
Und verwischt die eignen Spuren:
Nahrung bieten kaum dem Wurme,
Nicht dem Rosse diese Fluren,
Hier, wo nur die Leichen nächt' gen,
Nur die Geier ziehn, die mächt'gen!"

So krächzt er, höhnisch streifend mich mit den scharfen Klauen,

Und dreimal Aug’ in Auge wir starr einander schauen.
Wer bebt zuerst? — Der Geier; schon war er hoch entflogen,
Bevor ich, ihn zu strafen, noch spannte meinen Bogen.
Und als ich, mir im Rücken, nachspähend ihn entdeckte,
Hoch schwebet in den Lüften — ein Punkt — der Graugefleckte ;
Der Sperlings Falter— Mückengleiche
Schmilzt endlich ganz dahin im Ätherreiche —
Weißhuf, trage kühn den Reiter!
Fels und Geier ziehen weiter!

Da seh' ich vor der Sonne sich eine Wolke türmen,
Mir nach mit weißem Fittig sie durch die Bläue stürmen;
Sie will wohl gar am Himmel als solch' ein Jäger gelten,
Wie ich einst in der Steppe Welten?

Über meinem Haupte schweifend,
Mich bedroht sie, also pfeifend:
„Wohin jagt der Sinnberaubte!
Dort wird nichts den Durst ihm letzen,
Keine Wolke wird ihn netzen,
Staub ihm wirbeln über'm Haupte;
Dort auf Wüsten, unbebauten,
Rauscht kein Bach mit Silberlauten:
Tau, noch eh' er eingedrungen,
Hat der Wind ihn schon verschlungen!“

Doch ich den Lauf verdopple — umsonst ist all ihr Drohen:
Ermüdet ist die Wolke am Himmelszelt;
Träge seh’ ich sie sich dehnen,
Tief an Felsenklippen lehnen.
Als sich mein Blick noch einmal ver?chtlich zu ihr wendet,
Hat sie am ganzen Himmel schon ihren Lauf vollendet
Ich sah aus ihren Zügen, was sie im Herzen drohte:
Zorn sie färbt, das gelblichrote
Gallengift der Eifersuchten,
Bis schwarz, wie eine Leiche, sie barg sich in den Schluchten.
Weißhuf, trage kühn den Reiter!
Wölk’ und Geier ziehen weiter!“

Jetzt mit Blicken, sonnenklaren,
Kann ich rings umher mich wenden;
Erd' und Himmel nimmer senden
Hinter mir Verfolgerscharen!
Schläft Natur doch, traumbefangen,
In der Elemente Mitte;
Kennt noch nicht des Menschen Tritte,
Kennt noch, wie das Wild, nicht Bangen,
Dessen Rudel arglos stehen,
Wenn zuerst sie Menschen sehen.
Bei Gott! Ich bin der erste doch nicht im sand'gen Meere:
Dort schimmern Zelte, gleich verschanztem Heere.
Ob sie verirrt sind, oder im Hinterhalte schleichen?
In Weiß so Ross, als Reiter, hu! grausige Gestalten!
Ich nah' — sie stehn; ich rufe — sie schweigen . . . das sind Leichen!

Aus dem Sand der Sturm — ich ahne —
Grub die alte Karawane; Noch auf Kamelskeletten sich die der Reiter halten;
Aus der Kiefer losem Rande,
Aus der Augenhöhlen Grunde
Wälzt sich eine Flut von Sande,
Raunt mir zu die Schreckenskunde:
„Beduine! Eilst verwegen
Dem Huragan du entgegen?" —
— „Furcht nicht kenn“ ich! Immer heiter!
Weißhuf, trage kühn den Reiter
Hin durch Leichen — Samum weiter!"

Huragan — will im Flugsand erst einsam sich ergehen,
Als Fürst der Wirbelwinde, dann — Afrika durchwehen, —
Da macht er Halt; von ferne erspäht er mich, und — staunend,
Sich wirbelt er im Kreise, zu sich die Worte raunend:
„Wer wagt es, von den Winden, den jungem Brüdern, meinen,
Mit gar so niederm Fluge, mit der Gestalt, der kleinen,
Mein Erbland zu betreten mitten in meinem Reiche?" —
Laut brüllend kommt gezogen der Pyramidengleiche:
Dann, als er sieht den Menschen, ohn' alle Furchtgebärde,
Stampft er mit dem Fuß die Erde,
Und zerwühlt Arabiens Auen,
Und — packt mich, wie ein Vöglein der Greif, mit seinen Klauen;
Sengt mich mit des Hauches Gluten,
Wälzt mich in des Staubes Fluten,
Zerrt mich auf, und stürzt mich nieder,
Schüttet Sand mir auf die Glieder — ;
Spring' ich auf, und kämpf, und beiße;
Seine Glieder, seinen Bücken,
Seinen sand'gen Leib zerreiße
Wütend ich zu tausend Stücken.

Wohl will in einer Säule Huragan mir entfliehen,
Doch kann er kaum zur Hälfte sich meinem Arm entziehen,
Strömt herab in sand'gem Regen,
Muss wie ein Wall, ein Leichnam, sich mir zu Füssen legen.
Aufatm’ ich! Stolzen Blickes, aufschau' ich zu den Sternen:
Mit goldnen Äugelein aus weiten Fernen
Alle nur nach mir sie schauen,
Denn, außer mir, wer wandelt noch hier auf diesen Auen?

Aus voller Brust hier atmen! O, welche Seligkeiten!
Atmen aus der Brust, der breiten!
Kaum kann solchen Atemzügen
Ganz Arabiens Luft genügen!

Mit vollem Blick hier schauen! O, welche Seligkeiten!
O, wie glitt mein Blick so gerne
In die weite, weite Ferne!
Von der Welt er mehr erkannte,
Als der Horizont umspannte.

Ausbreiten hier die Arme! O, welche Seligkeiten!
Der ganzen Welt entgegen sie streckt' ich voll Verlangen,
Vom Auf- zum Niedergange sie glaubt' ich zu umfangen;
Stets tiefer mein Gedanke eindrang im Ätherraume,
Und höher, immer höher, bis zu des Himmels Saume, —
Ein Bienlein, das den Stachel verwirkt — mit ihm das Leben,
Ließ ich den Sinn gen Himmel — mit ihm die Seele — schweben!

David fuhr vom Stuhle auf, worauf er gesessen und inzwischen an seinem Medaillon mit einem von einem Stück Brennholz abgerissenen Spahn modelliert hatte. Wie sind Sie darauf gekommen? frug er.

„Das gefallt mir", antwortete Mickiewicz, „daran erkennt man den Künstler, der die Bedingungen erfahren will, worunter ein Werk entstanden ist und entstehen musste.“ Und er erzählte, dass er schon in seiner frühen Jagend einige orientalische Poesien in französischer Übersetzung gelesen und eines Tages in Petersburg, als er von einer munteren Mittagsgesellschaft fortging und ein Gewitter aufziehen sah, eine Droschke genommen und dem Kutscher gesagt habe, dass er sich beeilen möge. Und der Kutscher ließ das Pferd laufen, was Riemen und Zeug halten konnte, und dieses Jagen und Rasseln, das Sausen des Windes, das Rollen des Donners und noch weit mehr seine Freude, so schnell vorwärts zu fahren, hatte die Faris-Stimmung in seinem Gemüt erweckt, so dass noch in derselben Nacht das Gedicht entstand.

Dieses Gedicht ist nicht nur durch seine großartige Phantasie, sondern durch seine stürmende Jugendkraft bewundernswert. Es liegt darin ein Übermut, ein Selbstvertrauen, dessen die ersten Leser des Dichters gerade bedurften, um nicht zu unterliegen. Hier ist keine Goethe'sche Selbstbegrenzung, kein Schiller'sches Empfinden des Abstandes zwischen Ideal und Wirklichkeit. Es ist die Apotheose der unendlichen Kühnheit.

Und es ist im Grunde ganz dieselbe Stimmung, die in der berühmten, von Mickiewicz bald darauf vollendeten Ode an die Jugend zu Worte kam. Man hat diese Ode sein erstes politisches Gedicht genannt, obgleich sie an und für sich ganz unpolitisch ist, aber sie wurde ohne Absicht von Seiten des Dichters die Marseillaise der polnischen Jugend. Es heißt darin:

Wer als Kind schon die Hyder bezwang,
Wird als Jüngling Centauren bezwingen,
Und der Hölle ihr Opfer entringen,
Im Himmel wird ihm der Lorbeerdank.
O strebe nach des Himmels Licht,
Zerbrich, was kein Verstand zerbricht!
Jugend, du steigst zu des Adlers Stätte,
Stark ist dein Arm wie des Donners Gewalten.
Lasst Arm in Arm uns mit fester Kette
Das Erdenrund umfangen halten
Und glutentfachend unser Denken
Auf einen Herd des Geistes lenken,
Damit durch uns der Klumpen Erde
In neue Bahn geleitet werde,
Dass sie Verderbtes von sich streife
Und grünend neue Früchte reife!

Wenn man diese Lyrik liest, begreift man den frohen Ausspruch Odyniecs über den Freund, dass in den Gesprächen mit Goethe die Worte Adams fließendes Erz und die Worte Goethes blanke, kalte Thaler waren. Aber man versteht auch das Stutzen des jungen, traditionell erzogenen Polen über die ganze Denk- und Empfindungsweise Goethes. Besonders dann, wenn im Hause Goethes die Gespräche auf die Naturwissenschaften fallen, nehmen beide Polen Anlass, sich über die rein heidnische Betrachtung Goethes zu wundern, während sie selbst Feuer und Flamme, Andacht und Glauben sind. Goethe spricht dann bisweilen einen einfachen, gewichtigen Gedanken nach dem andern aus. Odyniec führt einige Äußerungen an, die gerade den Lippen des Greises entnommen sind: La nature a l’attrait et le charme de l’infini. — Man muss konsequent in seinem Forschen sein, und die Natur täuscht niemand. — Die Schätze der Natur sind verzaubert; kein Spaten, ein Wort legt sie dem Auge bloß. — Oft habe ich mit der Natur in Streit gelegen, aber ich habe sie am Ende immer um Verzeihung gebeten. — Und noch viel mehr solcher Sentenzen. Er schreibt nach Hause an einen Freund in Polen: „Wenn du dich jetzt wunderst, dass hier immer wieder nur von der Natur die Rede ist, was wirst du erst dazu sagen, dass es mindestens zweihundert Male geschah und dass das Wort Gott nicht ein einziges Mal genannt wurde. Als wäre die Natur eins und alles, Alfa und Omega, ihr eigener Schöpfer und ihre Gottheit! Das ist also der Pantheismus, den ich bisher Gottlob nur vom Hörensagen kannte, und den ich nur von Leuten verkündet glaubte, die gegen ihre eigene bessere Überzeugung sprachen und nicht verstanden, was sie selbst sagten. Aber heute war es anders. Alles, was Goethe sagte, und selbst das, was er nicht offen heraus sagte, war klar. Und diese Klarheit, dieses Winterlicht durchfror mich mit einer solchen Kälte, dass selbst die Strahlenblicke meiner schönen Tischdame (der Frau Vogel) mein Herz nur trafen wie Sonnenstrahlen einen Schnee, der nicht schmelzen kann. Ich sah neugierig zu Adam herüber, um seine Gedanken zu erraten; doch er saß finster und stumm." Und Odyniec freut sich darüber, dass sein großer Freund doch, wie es im Dziady heißt, glaubt, dass jemand gewesen sei, der die Gewichte in die Weltuhr hing, und dass sich der polnische Prophet doch dadurch von den deutschen Titanen unterscheide. Goethe ist für ihn der Weise, „der nicht die lebende Wahrheit kennt, kein Wunder sieht" und er wendet auf sich selbst ihm gegenüber die Worte aus dem Gedichte Mickiewicz's Die Romantik an: „Gefühl und Glaube sprechen mächtiger zu mir als das Auge und das Fernrohr eines Weisen." Und nun folgt eine Kritik über Faust, Entsetzen über jenes Credo, dass Gott nur eine Empfindung, die der Mensch aus der Natur schöpfe, und jeder Name ein bloßer Laut sei. Was ist dieser Faust? Satire? Ironie? Verhöhnung? Und wessen? fragt er. Ob nur der deutschen Schulweisheit oder der ewigen Moralgesetze und Wahrheiten, der Empfindungen und Vorstellungen, Überlieferungen und Bestrebungen der ganzen Menschheit? Er fragt Mickiewicz um Rat, und wir sehen, dass dieser sich damit begnügt, Goethe zu entschuldigen: Man müsse doch immer anerkennen, dass er nie angriffsweise gegen die Religion zu Werke gehe, wie die Schriftsteller des vorigen Jahrhunderts, sondern den religiösen Grundwahrheiten nur gleichgültig gegenüberstehe. „Also nicht achtzehn, sondern zwanzig weniger zwei! a ruft Odyniec aus.

So fremd war Goethes Lebensansicht Mickiewicz, und dessen Wesen erschimmert schon in seiner polnischen Eigenart, wenn man ihn mit Deutschlands größtem Dichtergeist vergleicht.

Er war 1798 in dem kleinen Dorfe Zaosie bei Nowogródek in Litauen als Abkömmling eines alten adligen Geschlechtes geboren. Dreizehn Jahr alt, sah er im Frühjahr 1812 die Heere Napoleons zum Feldzuge gegen Russland durchziehen, sah die weißen Adler Polens mit den goldenen des Kaisertumes vereint. Im Hause seiner Eltern zu Nowogródek war das Hauptquartier des Königs von Westfalen. Die hoffnungsvolle und kriegerische Stimmung der Zeit erfüllte die Seele des Kindes und befrachtete die Seele des Mannes. Es heißt in Fan Tadeusz:

O Frühling! Wer dich bei uns gesehn in jener Zeit!
Denkwürdiger Frühling des Krieges, Frühling der Fruchtbarkeit!
O Frühling, wer dich gesehen, voll üppiger Blüten hängend,
Voll Garben und Grün — und hell von Menschenscharen prangend,
Reich an Begebenheiten, voll Hoffnungen im Schoß!
Du stehst vor mir noch heut, du Traumbild, schön und groß!
In Knechtschaft geboren, als Säugling schon in Ketten gebannt,
Hab' ich im Leben nur einen solchen Frühling gekannt!

Im Jahre 1815 kam Mickiewicz auf die Universität nach Wilna, begann Philologie zu studieren und schloss eine vertraute Freundschaft mit dem später so bekannten Thomas Zan, Seele der engeren Gesellschaft. Die Philomather und der öffentlichen Gesellschaft Die Philareter, die beide zumeist an die deutschen Tugendbunde erinnern, unpolitische Vereine zum Zweck geistiger und moralischer Entwicklung der Studenten, die aber bald von dem Argwohne und der Verfolgungswut der russischen Regierung getroffen wurden.

Nachdem er — wie Oehlenschläger und Hugo — seine ersten Versuche in rein klassischem Stile geschrieben hatte, wandte sich Mickiewicz zur neueuropäischen Richtung der Romantik. Hier wie in England rief Bürgers Lenore eine neue Balladenpoesie hervor. Selbst durch altenglische Balladen angeregt hatte dieses Gedicht so stark auf Walter Scott gewirkt, dass er mit einer Übersetzung desselben debütierte. Hier macht das Gedicht, von dem russischen Dichter Sjukowski bearbeitet, einen so tiefen Eindruck auf Mickiewicz, dass er einen ganz neuen Stil annimmt und eine ganze Reihe Balladen verfasst, wovon sogar eine, Die Flucht betitelt, den gleichen Stoff wie Lenore behandelt. Diese Gedichte, die sich auf örtliche Volkssagen oder slawischen Aberglauben stützen, sind bald naturromantisch im Volksliedtone, bald energisch dramatisch wie der vortreffliche Gesang vom Wojewoden — unmoralisch wie ein Gedicht in Prosa von Mérimée — bald humoristisch, wie die Schilderung von der Angst des Teufels vor einem zänkischen Weibe in Frau Twardowska.

Mickiewicz hatte eine erste sogenannte „unglückliche Liebe“ gehabt, die, wovon damals die Dichter (Byron, Heine und viele andere) gerne lange poetisch lebten. Er verliebte sich schon in Nowogródek in ein junges Mädchen vornehmer Abkunft, Maria Wereszczaka (von ihm besungen unter dem Namen Marylka), die einen andern vorzog. In dem Zustande erotischer Verzweiflung, den er nun durchlebte, bildete Byron seine einzige Lektüre, und er schrieb die ältesten Teile von Dziady (Totenfest), das in Anknüpfung an eine alte litauische Sitte, am Allerseelentage (dem zweiten November) Essen und Trinken auf den Kirchhof für die Toten hinzustellen, Bauern, Hirten, einen Geisterbeschwörer und eine Menge Geister von Verstorbenen auf einer gedachten Bühne einführt. Unter diesen Geistern ist ein Selbstmörder aus unglücklicher Liebe. In anderen Fragmenten hat dieser Selbstmörder — nach dem Helden in Frau von Krüdeners sentimentalem Romane Valérie — den Namen Gustav, ein Gespenst, das verurteilt ist, jedes Jahr am zweiten November seine Seelenqual wieder zu erleiden. Alle diese Partien, voll von romantischen Gespenstererscheinungen und überspannter Sentimentalität, sind für den fremden Leser ohne Interesse. Es sind Werther und Werthers Abkömmlinge, die hier wieder umgehen. Unmittelbar darauf folgte jedoch das kleine Heldengedicht Grazyna, das in frischen Versen einen altlitauischen Stoff über Vaterlandsliebe und Frauentapferkeit behandelt, und hierin war nichts Unklares oder Süssliches, die Form war durchsichtig und der Atemzug stark.

Nachdem Mickiewicz sich einige Jahre als Lehrer in Kowno aufgehalten hatte, war er nach Wilna zurückgekehrt, wo er aus dem stillen Gang seines bisherigen Lebens herausgerissen wurde. Die Ermordung Kotzebues durch Sand hatte der Reaktion in Deutschland auf die Beine geholfen. Sie erwachte gleichzeitig in dem großen Nachbarlande.

Mit dem Jahre 1823 gingen die liberalen Tendenzen Alexanders zu Ende. Man machte Jagd auf Empörungsbestrebungen unter den Studenten. Nowosilcow, der in Ungnade gefallen war, nachdem er in Ausschweifungen verzehrt, was er durch alle Mittel zusammengescharrt hatte, ging darauf aus, eine Verschwörung in Polen zu entdecken und zog mit seinem ganzen Spionenstab nach Litauen. In Wilna wurden alle Klöster, acht an der Zahl, und außerdem einige andere öffentliche Gebäude in Gefängnisse verwandelt. Ende Oktober 1823 wurden Mickiewicz, Zan und alle ihre Freunde verhaftet. Die jungen Männer wurden in Zellen untergebracht, konnten einander aber des Abends in den Klostergängen sehen. Wie lange sie dort gewesen waren, wussten sie fast nicht; sie hatten keinen Kalender und erhielten keine Briefe; vor den Fenstern waren Holzläden, so dass es schwierig war, den Morgen vom Abend zu unterscheiden. Thomas Zan, der alle Schuld für die unschuldigen Vereinigungen der Philomather und Philareter auf sich nahm, wurde am härtesten behandelt, litt besonders an Hunger. Er wurde nach Orenburg geschickt und erst 1837 begnadigt. Die lange Verbannung veränderte seine Lebensanschauung; er, der Freidenker und Oppositionsmann gewesen war, trat als Mystiker und Asket in den russischen Staatsdienst ein. Mickiewicz wurde nach zehn Monaten der Einsperrung nach Petersburg geschickt und da er zum Dienste in einem der inneren Gouvernements bestimmt wurde, wählte er Odessa. Als er dorthin kam, war keine Lehrerstelle offen. Er unternahm nun (in Gesellschaft des später berühmten Rzewuski, der sich auf Mickiewicz's Aufforderung als Schriftsteller versuchte) eine Reise nach der Krim, und es erging ihm wie so vielen andern der vorzüglichsten slawischen Dichter, der erste Anblick von Gebirgslandschaften und südlicher Natur verschärfte überhaupt seinen Natursinn. Was der Kaukasus für Puschkin, Lermontow und Tolstoj werden sollte, wurden die großen Naturschauspiele der Krim für Mickiewicz. Mit Recht hat man seinen Krimschen Sonetten einen Ehrenplatz unter seinen Gedichten gegeben.

In Moskau, wo er eine Anstellung in der Kanzlei des Generalgouverneurs bekam, schrieb er Wallenrod, ebenso wie Grazyna, über einen Stoff aus den heidnischen Tagen Litauens und dem Kampfe seiner Fürsten mit dem deutschen Ritterorden. Der Held, der historisch einer der Großmeister des Ordens war, der selbst verfallen, den Orden ganz in Verfall brachte, wurde von Mickiewicz zu einem Litauer gemacht, der, um den Nationalfeind wirksamer zu bekämpfen, sich in dessen Lager aufnehmen lässt, sich für einen der seinen ausgibt, Führer seines Heeres wird und so mit Einem Schlage seine Landsleute rächt. Es ist eine Verherrlichung der Verstellung und der Verräterei im Dienste des Vaterlandes; ein Gedanke Macchiavelli's in einen Byron'schen Held inkarniert. Mit dem Grundstoffe ist dann eine sentimentale Liebesgeschichte im Romanzenstil vereint.

Die Zensur, die die Dichtung las, ohne sie zu verstehen, erlaubte ihren Druck, und im Verein mit den Krimschen Sonetten brachte sie bald Mickiewiczs Namen auf alle Lippen. Die höhere russische Gesellschaft öffnete sich ihm sowohl in Moskau wie in St. Petersburg, wohin zu reisen er schnell Erlaubnis erhielt. Besonders die Fürstin Zeneide Wolkonskaja führte den Dichter in die russische Aristokratie ein, wo er geschätzt, geliebt und bewundert wurde. Viele Damen ließen sich von ihm in Polnisch unterrichten und die Fürstin Wolkonskaja wurde seine Übersetzerin. Die Sonette und „Wallenrod“ wurden nun ebenso eifrig in Russland wie in Polen gelesen, und der Dichter, der unter der Zerstreuung des Gesellschaftslebens und der Gunst der Damen zu erschlaffen begann, schrieb lange Zeit nur Kleinigkeiten. Er sehnte sich nach dem Auslande, und der Einfluss der Fürstin Wolkonskaja verschaffte ihm den Pass auf unbestimmte Zeit, womit er im Mai St. Petersburg verließ, um sich über Weimar in die Welt hinaus zu begeben.

Wir haben ihn in persönlicher Berührung mit dem größten Dichtergeiste Deutschlands gesehen. Ein Jahr, ehe er Goethe aufsuchte, war er in ein persönliches Freundschaftsverhältnis zu dem damals hervorragendsten Dichter Russlands getreten. Mickiewicz und Puschkin waren gleichaltrig. Sie nehmen eine ganz gleichartige Stellung an der Spitze der zwei großen slawischen Literaturen ein. Beide fingen als Byronianer an, beide wurden mit den Jahren stets nationaler. Ein Grundunterschied zwischen ihnen beruht darauf, dass Puschkin, nach der polemischen und aufständischen Haltung seiner frühen Jugend gegenüber dem russischen Absolutismus, sich von dem persönlichen Wohlwollen des Kaisers Nikolaus gewinnen ließ und allen Glauben an die Ideale seiner Jugend verlor, während Mickiewicz bis zu seinem Tode seinen ersten politischen Schwärmereien und Hoffnungen treu blieb.

Bewahrt ist die Erinnerung an ihr Zusammenleben in dem Gedichte Puschkins, das den Titel, Der Bronzereiter, trägt, und unter den Poesien Mickiewicz's in dem vierten Abschnitte des Gedichtes Petersburg, der die Überschrift, Das Denkmal Peter des Großen hat.

Hier hat Mickiewicz den Eindruck eines Gespräches bewahrt, das die beiden Dichter eines Tages im Jahre 1829, also gerade im Jahre, bevor die Geschicke Polens und Russlands sich schieden, in Petersburg bei Regenwetter, mit Mickiewicz's Mantel bedeckt, am Fuße des berühmten Zarenmonumentes von Falconnet miteinander führten. Es lautet:

Zwei Jünglinge stehn abends da im Regen,
Gehüllt in einen Mantel, Hand in Hand:
Der eine jener Fremdling aus dem Land
Des Westens, — hier ein Opfer, unbekannt,
Das auch des Zaren Übermacht erlegen.
Der andere entstammte russischem Blut,
Ein Dichter weitberühmt im ganzen Norden; —
Sie kannten sich nicht lang und doch gar gut,
Und sind vor wenigen Tagen Freunde worden.
Erhaben über ird'sches Hindernis
Sind ihre Seelen wie zwei Alpenfirnen,
Die wilde Bergflut auseinanderriss;
Der Feindin Brausen, sie vernehmen's kaum,
Die Gipfel treffen sich im Himmelsraum,
Und gen einander neigen sie die Stirnen. —
Aufs Peter-Denkmal blickt der fremde Mann
Sinnend — und leise hob der Russe an:

Der erste Zar tat Wunder, hochgepriesen,
Die zweite Zarin ließ sein Standbild giessen.*)
Der abgegossne Zar saß, als Koloss,
Auf seinem bronzenen Bukephalos, —
Er saß und wartete, wo hinzureiten,
Doch Peter kann auf eignem Grund nicht stehn,
Er hat nicht Raum in seines Landes Weiten:
Über die See muss man für Peter gehn,
Muss um Granit nach Finnlands Küste schicken:
Ein Felsenhügel schwimmt nun übers Meer,
Zieht auf den Landweg dann zur Stadt einher
Und fällt hier vor der Zarin auf den Rücken.
Der Hügel steht: Der bronzne Zar sprengt an —
Der Knuten-Zar in römischen Togafalten —
Der Benner stürmt die Felsenwand hinan,
Um hoch emporgebäumt am Band zu halten.

Wohl anders, als in solcher Haltung, ragt
Zu Rom der Völker Liebling, Marc-Aurel,
Des erster Ruhm es war, dass sein Befehl
Angeber und Spione fortgejagt; —
Da so das heimische Raubvolk er gezähmt
Und dann mit Macht am Rhein und am Paktol
Den Ansturm des Barbarenschwalls gelähmt,
Kehrt er nun heim ins stille Kapitol:
So schön die Stirn, so edel mild erhellt,
Wie vom Gedanken an das Glück der Welt;
So würdig-ernst hebt er die Rechte auf,
Als segnet er ringsum sein Volk, sein Reich;
Die Linke hält den Zügel, zähmt den Lauf
Des heiligen Benners — und du fühlst es gleich.

Zar Peter ließ die Zügel aus der Hand;
Man sieht: zertretend ritt er seine Bahn,
Mit einem Satz war er am Felsenrand —
Es rast das Ross, schon hebt's den Fuß hinan,
Knirscht ins Gebiss — der Zar er hemmt es nicht:
Bis es hinabstürzt und in Stücke bricht!
So steht's, so springt's, ein Menschenalter lang,
Und fällt doch nicht: wie wenn in tollem Drang
Eine Kaskade fällt vom Felsenhang
Und, frosterstarrt, hängt überm Abgrund frei; —
Doch wenn der Tag der Freiheit einst ersteht,
Ein warmer Westwind durch die Lande weht,
Was wird, wenn einst der Winterfrost vorbei:
Aus der Kaskade — aus der Tyrannei!?

*) Die Inschrift lautet: Petro primo Catharina secunda.

Die Worte sind, wie verschiedene innere Kennzeichen beweisen, in Wirklichkeit von Mickiewicz, nicht von dem russischen Dichter, dem er sie in den Mund gelegt hat. Puschkin schrieb seinerseits 1834 über diese Begegnung in Petersburg ein Gedicht, das zum ersten Male vier Jahre nach seinem Tode 1841 gedruckt wurde, und das, weil es zu jener Zeit unmöglich war den Namen Mickiewicz's in Russland zu nennen, bloß überschrieben war: An M. Darin heißt es:

Er lebte unter uns, Inmitten eines Stammes, der ihm fremd,
Doch zollte keinen Hass uns seine Seele.
Wir liebten ihn. Wohlwollend, friedevoll
Saß manchen Abend er in unserm Kreise.
Wir tauschten unsre Hoffnungsträume aus
Und unsre Lieder (die Begeisterung
Ward ihm verliehn von oben; aus der Höhe
Sah er aufs Leben). Oft sprach er von Zeiten,
Die sicher kommen müssten, wo die Völker
Vergessen würden allen Zwist und Streit
Als Glieder eines großen Bruderbundes.
Begierig lauschten wir des Dichters Wort.
Dann zog er westenwärts, und unser Segen
Gab das Geleit ihm, doch der stille Gast
Ist jetzt zu unserm grimmen Feind geworden!
Dem wüsten Pöbel zu Gefallen singt
Er Hass in seinen Liedern; fernher schallt
Zu uns die Stimme des erzürnten Dichters . . .
Gott, senke du von neuem deinen Frieden
In unsres Feinds verbittertes Gemüt!

Wie man sieht, liegt kein Schatten persönlicher Missstimmung in dieser Aussprache, worin die spätere Haltung Mickiewicz's beurteilt ist, wie sie vom russischen Gesichtspunkte aufgefasst werden musste. Eine noch wärmere Sympathie beseelt den Artikel, den Mickiewicz bei der Nachricht vom Tode Puschkins in der französischen Zeitschrift Le Globe veröffentlichte. Trotz der gegenseitigen Anziehung, die sie in einem gewissen Zeitpunkt ihres Lebens empfanden, und trotz ihrer gemeinsamen Abstammung von Byron waren und blieben sie jedoch insofern Gegensätze, als Puschkin in seinem ganzen Wesen Aristokrat war, ein Dichter für die Wenigen, ein Verächter der Vielen, Mickiewicz in seiner tiefsten Neigung dagegen ein Geist war, der in seinem Volke aufging. Für Puschkin bedeutete national werden dasselbe, wie Aussöhnung mit den Machthabern, Bruch mit Freiheits- und Zukunftsglauben für Europa. Mickiewicz dagegen wurde nur national durch Losreißung von jeglichem Verhältnis zum offiziellen Russland und durch eine optimistische Schwärmerei, die im schärfsten Kontraste zur stets steigenden Blasiertheit Puschkins steht. Puschkin klagt in seinen späteren Schöpfungen immer darüber, dass die Träume seiner Jugend, die Träume von Liebe, von Freiheit, von Ruhm ihn verlassen haben. Und er ruft aus: Ich sehe kein Ziel vor mir.

Mickiewicz's Stärke als erzeugender Geist lag darin, dass er keinen Augenblick über sein Ziel im Zweifel war.

Puschkin war russisch, wie Mickiewicz polnisch war. Aber wie, falls ich nicht irre, Michelet es irgendwo ausgedrückt hat: Russland war damals noch kein Volk, nur ein Bureau und eine Peitsche; das Bureau war der Deutsche, die Peitsche war der Kosak. Während aber Russland eine Regierung ohne Nation war, hatte Polen das verhältnismäßig bessere Los eine Nation ohne Regierung zu sein.