II. Die polnische Romantik bestimmt durch den Volkscharakter, die europäische Romantik und die politische Situation. Besondere Gesichtspunkte für den Gegensatz: klassisch und romantisch. Die Verehrung Napoleons und Byrons. Verhältnis zu Shakespeare und Dante. Die Einwirkung des Emigrantenlebens auf die Gefühlsweise der Schriftsteller

Der Zeitraum von 1820 — 1850 ist für die Poesie der reichste und bedeutungsvollste. Und in diesem Zeiträume wird die Literatur deutlich durch die folgenden drei Grundfaktoren bestimmt: den Volkscharakter, die europäische Romantik und die in ihrer Art einzige politische Situation.

Wie sich der Volkscharakter bis zu jener Periode entwickelt hatte, war er besonders geneigt, von der Romantik beeinflusst zu werden. Er war aufgeweckt und edelmütig, prachtliebend und schwärmerisch, hatte den Hang zu ritterlichen Tugenden und zum religiösen Aufschwung. Es fehlte ihm damals wie noch immer der Ballast, den die germanischen Völker in ihrem angeborenen Phlegma und die romanischen in der angeborenen Logik des lateinischen Wesens haben. Er war mit dem französischen durch seine Unbeständigkeit verwandt, war jedoch durch die Art seiner Unberechenbarkeit von ihm verschieden; denn der Franzose ist unberechenbar, wenn der seinem Wesen angeborene Rationalismus ihn dazu bewegt, das historisch Gegebene zu sprengen, der Pole dagegen, wenn Temperament oder Begeisterung ihn fortreißen. Er war mit dem italienischen durch seine Bilderverehrung und seine Lebhaftigkeit verwandt, unterschied sich aber von ihm durch seinen Mangel an feinem politischem Sinn und an jener plastischen Neigung, welche die Bewohner Italiens unter allen Religionsformen zu Heiden gemacht hat.


Als die europäische Romantik dieses Volk erreichte, ging es nicht wie in Deutschland zu, wo sie in dem unpolitischen Kleinstadtleben ausgebrütet wurde und sich mit dem unbestimmten Idealismus, dem Mangel an Gemeinschaftsgefühl und jener Scheu vor der Wirklichkeit verbündete, die sich des Gemüts der Denkenden bemächtigt hatte — auch nicht wie in England, wo die Romantik schroff gegen den eingewurzelten Hang des Volkes zum Nützlichen und Praktischen verstieß und wo sie sich mit der altnordischen Vorliebe für die unbändige Selbständigkeit und dem Trotze des freien Individuums, sogar dem Vaterlande gegenüber, verband — auch nicht wie in Frankreich und Italien, wo ein dem Wesen der Romantik ganz entgegengesetztes lateinisches, also klassisches Element ihre Eroberung des geistigen Kernes des Volkes verhinderte und sie auf einen kurz währenden, rein künstlerischen Rausch beschränkte.

In Polen, wo der Volkscharakter durch seine Anlagen schon zuvor für die Romantik empfänglich war, hatte obendrein das gemeinsame nationale Unglück den Gemütern einen romantischen Hang verliehen. Die Romantik isolierte also die Seelen weder in Egoismus, wie in Deutschland, noch in wilder, männlicher Selbständigkeit, wie in England, sondern verband sie in einem schwärmerischen Gefühle der Landsmannschaft. Sie wurde auch nicht durch Wirklichkeitsscheu bedungen, sondern dadurch, dass das Vaterland schon eine Unwirklichkeit war, etwas, woran man glauben musste und was man nicht mit leiblichen Augen sehen konnte. Endlich war das lateinische Element, wenn auch mächtiger, als in irgend einem anderen nicht romanischem Lande, doch nur importiert und bereitete keinen ernstlichen Widerstand.

Die romantische Schwärmerei überspült hier mit weit größerer Kraft als anderwärts den Damm der Rücksichten, breitet sich über viel weitere Kreise aus — das beruht auf dem Volkscharakter, der nicht rationell, sondern phantastisch-heroisch ist — und sie verbindet sich weit inniger als anderwärts mit der damaligen Zeit und den damaligen Zuständen das beruht auf dem nationalen Schicksale, das alle Gedanken mit Beschlag belegt und worum sich alle Träume drehen.

Am deutlichsten erkennt man die Eigenart, wenn man den Blick auf Länder und Literaturen wirft, wo die politische Situation verwandt ist. Sie ist wohl nirgends die gleiche, aber es gibt schwächere oder stärkere Analogien.

Man denke z. B. an die flämische Literatur, die ungefähr im Jahre 1830 in Belgien entsteht. Sie nimmt nach dem Vorbilde Walter Scotts zu dem großen historischen Roman ihre Zuflucht, um dadurch das flämische Nationalgefühl zu heben. Hendrik Consciences Roman Der Löwe von Flandern ist das Hauptwerk, ein ähnliches Buch wie Rzewuskis Soplicas Memoiren. Übrigens ist diese Literatur in der reinen Lyrik am stärksten. Aber sie geht von einem ruhigen Volke aus, einem Volke ohne Exaltation. Sie ist eine bürgerliche Literatur, die auf der Erde verweilt, keine fliegende und flammende Poesie wie die polnische, die ihr Licht über den ganzen Horizont wirft und sich in den Wolken verliert.

Oder man denke an Finnland, an Runeberg, der Parallelen mit Mickiewicz darbietet. Fänrik Stals sägner, welches den Kampf um Finnland im Jahre 1810 behandelt, ist wohl stofflich das nächste europäische Seitenstück zu Pan Tadeusz. Die Dichtung, schildert den finnländischen Volkscharakter, wie er während des Krieges hervortrat, ebenso wie Pan Tadeusz den polnischen Volkscharakter zum gleichen Zeitpunkte dar1 stellt. In keiner dieser Dichtungen liegt irgendein Nationalhass. Der einzige russische Offizier, der in dem finnländischen Gedichtzyklus vorkommt, Kulneff, ist das Muster eines edelmütigen Feindes, hochherzig und mild; der einzige russische Offizier, der in der polnischen Epopöe vorkommt, Bykow, ist ein Ehrenmann, unbestechlich, pflichttreu und tapfer.

Bei Runeberg fehlt nur die hohe, nationale Selbstkritik, die Mickiewicz und im Ganzen die Dichter Polens auszeichnet. Seine Finnländer sind Helden, Helden „in Wintertracht", zuweilen Helden in Lumpen, aber immer Helden. Sie haben fast keinen Fehler. Dann haben, trotz aller glühenden Liebe zu den Landsleuten, die polnischen Dichter es ganz anders verstanden, alle Seiten zu entfalten, die schwachen wie die starken, vom angeerbten Charakter ihrer Nation. Freilich haben sie auch einen weit reicheren Stoff zur Verfügung gehabt, nicht ein unerschlossenes Volk wie die Finnländer, deren Sprache noch keine Kultursprache war, sondern ein Volk mit dem Lichte und den Schatten einer tausendjährigen Zivilisation.

Die besonderen Verhältnisse Polens verschoben hier notwendig die anderwärts geltenden Gesichtspunkte für den Gegensatz Klassisch und Romantisch.

Liest man Mickiewiczs Programmgedicht Die Romantik mit dessen Behauptung, dass der Wunderglaube des Volkes mehr wert sei, als der klassische Rationalismus, so liegt in dieser Begeisterung für den Gespensterglauben und in diesem Hass gegen den kalten Scharfsinn, der mit dem Glase vor dem Auge beobachtet, sicher etwas, das Gemeinschaft mit der Romantik aller Länder hat, ja sogar etwas langweilig romantisches. Überall fühlten die Romantiker eine Befriedigung darin, den neuen Gefühlsaufschwung in Geisterglauben oder volkstümlichen Aberglauben überzufuhren. Überall gibt’s auch eine Verbindung zwischen der in der Literatur hervorbrechenden Romantik und der großen religiösen Reaktion des Jahrhunderts gegen die Gleichgültigkeit des vorigen Jahrhunderts für alles Dogmatische.

Aber zwei Umstände verleihen dennoch der polnischen Romantik einen besonderen Charakter. Zuerst, dass die katholische Tendenz als oppositionell nicht das mittelalterlich feudale Gepräge wie anderwärts trug. Weiter, dass der Doppelgegensatz: Klassizismus und Romantik, Liberalismus und Konservatismus hier nicht, wie in so vielen anderen Ländern, zusammenfiel. In Frankreich war z. B. der Romantismus von Anfang an nicht nur als aufklärungsfeindlich, sondern auch als legitimistisch beargwöhnt. Die ersten Oden und Balladen Victor Hugos waren sowohl antivoltairianisch wie königstreu. Der bedeutendste Gegner der Romantiker war der berühmte Liberale Armand Carrel, der anerkannte Führer der französischen Republikaner. In Polen waren dagegen die Gegner der Romantik (Männer wie Sniadecki, Beka, Osinski) in der Regel Beamte und Konservative aus politischer Überzeugung, während die Romantik sofort von Anfang an mit Recht als oppositionell angesehen wurde.

Jahrhunderts nimmt Mickiewicz eine Stellung ein, die sich mit derjenigen Oehlenschlägers und Tegnérs parallelisieren lässt. Aber abgesehen von allen übrigen Unähnlichkeiten ist zwischen Mickiewicz und den zwei nordischen Dichtern der Unterschied, dass diese, wo sie ihr Talent zur Verherrlichung ihres Volkes anwandten, sich Stoffe aus dessen Sagenwelt wählten oder Stoffe aus dem Altertume, Mittelalter oder doch der ferneren Vergangenheit bearbeiteten, und so gut wie niemals das Leben schilderten, das sie selbst zu beobachten Gelegenheit hatten, während Mickiewicz überall, wo er das Höchste erreicht (wie in Pan Tadeusz und einzelnen Teilen von Dziady), ein Leben darstellt, das er mit eigenen Augen gesehen oder wovon die Erinnerung noch lebendig in der ihn umgebenden Luft lag.

Das ist die Grundlage seiner Überlegenheit über eine ganze Reihe zeitgenössischer Nationaldichter; das ist es, was der Romantik bei ihm wie bei mehreren anderen damals lebenden Dichtern Polens ein verhältnismäßig modernes Gepräge gibt. Man fühlte damals noch nicht in Europa, in welchem Grade der Dichter in der Regel mit seiner Zeit verbunden ist; man fühlte sich allzu heftig von fernen Zeiten oder fremden Gegenden angezogen. Das Resultat der Menschenschilderung wurde daher zumeist zu Wesen, die nie existiert haben und nie existieren konnten, Wesen, deren Seelenleben durch Subtraktion einer ganzen Menge von Eigenschaften entstanden ist, die nur die gegenwärtigen Menschen haben, und durch mechanische Hinzufügung von Eigenschaften, von denen der Dichter aus seiner Lektüre gewusst hat, dass man sie bei denen der Vergangenheit fand. Nicht kraft einer richtigen Theorie, sondern kraft eines gesunden Instinktes hat Mickiewiecz zu einem alten Stoffe und zu einem fernen Zeitalter nur dort seine Zuflucht genommen, wo politische Rücksichten es ihm leichter machten, auszusprechen was er auf dem Herzen hatte, wenn der Grundgedanke sich hinter einer Verkleidung verbarg, wie es in Grazyna und Wallenrod der Fall ist.

Und überhaupt treffen wir ringsum in der romantischen Literatur Polens so wirklichkeitsnahe Züge, dass sie dieser Periode nicht anzugehören scheinen. Bei einigen Dichtern geht die Wirklichkeitsbeobachtung sogar so weit, dass sie noch lebende oder kürzlich verstorbene Personen innerhalb des Rahmens der Dichtung hineinfügen. Aber das eigenartig Polnische ist, dass Hand in Hand mit diesem Streben nach Wirklichkeit und Zukunft bei allen ein unüberwindlicher Hang geht zur Abstraktion, Allegorie und zum Geisterglauben. Sie sind gleichzeitig Realisten und Spiritisten.

Zwei Umstände vereinten sich, um ihre Dichtung abstrakt und allegorisch zu machen: zuerst die Neigung zur Mystik, die tief in ihrer Seele lag und die, nachdem sie einige Zeit geschlummert hatte, schnell bei allen erweckt wurde, da sie von Anfang an katholisch erzogen waren; ferner der politische Druck, die Rücksicht auf die Zensur, die sie zwang, ihre Gedanken zu umschreiben und die Umrisse der Gestalten, die sie malten, zu verflüchtigen.

Besonders waren es zwei große, damals kürzlich verstorbene Persönlichkeiten, welche die Einbildungskraft der damaligen Zeit über ganz Europa hin in Bewegung setzten, die aber hier grö0ere Begeisterung als in irgend einem anderen Lande außerhalb ihrer Heimat erweckten: Napoleon und Byron.

Es war die Periode, als ein Napoleonskultus sich über Europa ausbreitete. Die wahre Gestalt war vergessen; die eigentlich historische Forschung hatte noch nicht begonnen. Napoleon war eine Legende geworden, die Henry Beyle tief ergriffen hatte, wofür sich Victor Hugo, Bäranger und Heinrich Heine, jeder auf seine Weise, zum Priester machte und die Thiers zu einer großen, der Menge zugänglichen Epopöe aufrollte. Wie wenig Polen auch in der Wirklichkeit Napoleon zu danken hatte, so hatte man doch so große Hoffnungen an ihn geknüpft, dass man jetzt, nachdem die Verlassenheit seiner letzten Jahre und sein ergreifender Tod ein verklärendes Licht über sein Leben warf, fortfuhr, seinen Schatten in der Stellung als Befreier und Erretter festzuhalten.

Während die Jahre nach seinem Falle dahinstreichen, wird er in der Volksphantasie der übermenschliche, übernatürliche Mann. Für die Romantiker wird er der rätselhafte Mann. In jenen Tagen galt das achtzehnte Jahrhundert als die Zeit der leichtfertigen Erklärungen. Hier war eine Erscheinung, die sich anscheinend nicht auf dem Wege der gewöhnlichen Verstandesbetrachtung erforschen Hess. Dieser Mann hatte aufs neue die Fähigkeit zum Bewundern erweckt, die in dem vorigen Jahrhundert verloren gegangen war. Man meinte, dass die nüchternen Engländer ihn gehasst hatten, weil er ihnen unerklärlich war. Kein menschliches Wesen hatte ihn fällen können, kein anderer General, als Se. Exzellenz General Frost und Se. Exzellenz General Hunger. Krasinski folgert in der Vorrede zur Morgendämmerung (Przedswit) von Napoleon an eine neue Epoche. Er sagt: „Das Zeitalter Cäsars ist im Napoleonischen zurückgekehrt. Und der christliche Cäsar, der durch die Arbeit von neunzehn Jahrhunderten seinem Vorgänger überlegen ist, und der eine vollständige Klarheit über sich selbst und das Ziel hatte, wofür der göttliche Geist, der den Gang der Geschichte leitet, ihn gesandt hat — hat sterbend auf dem Felsen seiner Verbannungsstätte gesagt: Von mir wird man den Anfang eines neuen Zeitalters rechnen. Dieses Wort enthält hinsichtlich seiner und der Zukunft eine ganze Offenbarung." Mickiewicz bewundert in seiner mystischen Periode Napoleon als einen Halbgott. Er war kein Gallier, hatten keinen Esprit, keinen Witz, fühlte sich zum Orient hingezogen. „Wie alle die größten“, sagt Mickiewicz in einer Wendung, die er mit Disraeli gemeinsam hat, „fühlte sich Napoleon geheimnisvoll im Osten zu Hause.“ Sein Leben beweist Mickiewicz die Existenz der unsichtbaren und mystischen Welt. Er glaubte an Auspicien, richtete sich nach ihnen. Er besaß eine unmittelbare Intuition. Deshalb ist er der Mann des slawischen Stammes: denn das slawische Volk ist das Volk der Intuition. Und so wird er für Mickiewicz die Quelle aller Größe, die das polnische Volk jener Zeit bewundert.

Immer wieder betont Mickiewicz, dass Napoleon Byron geschaffen und dass das Leben und der Ruhm Byrons wieder Puschkin erweckte, so dass Napoleon indirekt auch ihn erzeugt hat.

Da Poesie nach der Definition Mickiewiczs Handlung ist, wird Napoleons Leben zur höchsten Poesie. Ja noch mehr. Seine Mission war: die Völker und dadurch die ganze Welt zu befreien. (Die Vorrede zu l'Eglise et le Messianisme.) Und indem St. Helena annähernd eine Leidensstätte wie Golgatha wird, fällt ein Schimmer von Christi Leidensgeschichte über Napoleons Leben und Tod.

Dieselbe Neigung zu unkritischer Entzückung, dieselbe Begeisterung für das Blendende tritt in dem Verhältnis dieser slawischen Dichter zu Byron an den Tag. So ausgeprägte Gegensätze wie Mickiewicz und Slowacki stimmen in einem jahrelang andauernden Byronismus überein. Wie Washington keinen Eindruck gemacht hatte, während Napoleon hinriss, so beachtete niemand Shelley, während Byron auf aller Lippen war. Man glaubte in vollem Ernste, dass Byron der größte Lyriker Englands sei.

Mickiewicz hatte sogar, um die geistige Abstammung Byrons von Napoleon einleuchtender zu machen, augenscheinlich ohne die geringste Kenntnis von Wordsworth oder Coleridge oder Keats oder Shelley geschrieben: „Ich sehe als erwiesen an, dass der Strahl, der das Feuer des englischen Dichters entzündete, von der Seele Napoleons ausging. Wie sollte man sich sonst die Existenz dieses Menschen inmitten der aus dem vorigen Jahrhundert stammenden hinfälligen englischen Literatur erklären können .... die englischen Zeitgenossen Byrons haben trotz des Vorbildes, das sein Genie abgab und des Einflusses, der daraus hervorging, nichts erzeugt, was damit verglichen werden kann; und nach dem Tode des Dichters ist die englische Literatur auf das Niveau des vergangenen Jahrhunderts zurückgesunken.«

Jeder Satz ist hier ein Irrtum. Jeder der obenerwähnten zeitgenössischen Dichter hat in poetischer Hinsicht mehrmals Byrons Höhe erreicht und ist in dieser oder jener Hinsicht höher als er gestiegen. Aber unstreitig war keiner von ihnen so blendend wie er; sie waren weder Dandys und Poseurs in ihrer Jugend noch theatralisch heroisch als Männer. Selbst derjenige, welcher Byron in keiner Weise ein Gran seines unsterblichen Ruhmes als Dichter und seiner unvergesslichen Verdienste als Mann der Freiheit rauben will, muss empfinden, dass man sich in Polen, auch ihm gegenüber, gerade so viel von dem falschen Prestige als von der wirklichen Größe beeinflussen ließ.

Das Verdienst hatten jedoch Napoleon und Byron gemeinsam, dass sie die Polen aus ihrer relativ nationalen Verschlossenheit rissen. Die polnische Literatur war in dem sechzehnten Jahrhundert national gewesen, jedoch ohne das allgemein menschliche Gepräge, das eine Literatur für Europa zugänglich macht, in dem achtzehnten Jahrhundert war sie universell gewesen, jedoch derart, dass sie in der französischen Nachahmung der klassischen Kultur ohne das tiefere nationale Gepräge aufging, das eine Literatur für Europa interessant macht. Sniadecki war ein Freund und Bewunderer von Delille, Bogomolec hatte Molieres Theater in einem konventionellen und fremden Kanvas nachgeahmt. Diese Literatur war in Regelverehrung versteinert. Nun wurden alle Schlagbäume niedergehauen. Eine Völkerwanderungszeit war wiedergekehrt. Die materiellen Grenzen waren nicht länger gefestigt, und die geistigen Grenzen wurden gleichzeitig ausgedehnt. Polen kämpften in den verschiedensten Ländern unter Napoleon, und die Heerscharen Napoleons führten Truppen der verschiedensten Völkerschaften durch Polen. So begegnete den Polen in der geistigen Welt, als sich die Völker geistig vermischten, in Byrons Poesie die gern einsam -europäische Verzweiflung und der Freiheitsdrang) sie passten ihn ihrer Nationaleigenart an und führten ihn in Byrons Spuren bei ihren Landsleuten ein.

Von den großen Dichtern, denen erst die romantische Schule in Deutschland den Blick der Romantiker in allen Ländern geöffnet hatte, machten Shakespeare und Dante den größten Eindruck in Polen. Besonders Slowacki eignet sich den Stil und die Darstellungsweise Shakespeares an. Doch schlagen von Shakespeare zumeist die grausamen Handlungen an, die Mordtaten und Verstümmelungen, die in einigen der Geschichts- und Sagentragödien vorkommen. Die polnische Phantasie wandte sich der Seite Shakespeares zu, die am grellsten durch sein Anfangsdrama Titus Andronicus mit dessen aufgehäuften Schrecken repräsentiert wird. Nur seltener vereinigt sich hier mit, wie in Balladyna, eine Beeinflussung aus den Lustspielen Shakespeares.

Doch am bezeichnetsten ist vielleicht die Verwandtschaft, welche die polnischen Dichter jener Zeit mit dem großen, landesverwiesenen Italiener fühlen, dessen Dichtung durch so viele Jahrhunderte von ihnen getrennt war. Sie waren unglücklich und landesflüchtig wie er, hatten wie er den Blick auf den politischen Untergang eines Staates durch Gewalthandlungen gerichtet und suchten wie er eine Linderung in Strafgericht und Prophezeiungen. Besonders Krasinski steht unter seinem Einfluss und durch Krasinski indirekt Slowacki. Von Dante verspürt man wieder am stärksten seine „Hölle". Nur selten verkündigt, wie in einzelnen Poesien Krasinskis, eine Beatrice-Gestalt eine wiedergeborene Welt und ein glückliches Leben.

Während nun das besondere Schicksal des Volkes die Empfänglichkeit für fremde Einflüsse bestimmt, modifiziert es, wie wir sahen, die Gesichtspunkte für Gegensätze wie Klassisch und Romantisch, Reaktion und Fortschritt. Dieses Schicksal wirkt so stark auf den Charakter der Literatur, weil es zuerst den Charakter der Schriftsteller beeinflusst.

Sie haben vieles gemeinsam. Sie sind alle von aristokratischem Geschlechte, alle in römischem Katholizismus erzogen, alle leidenschaftliche Patrioten. Aber besonders haben sie das gemeinsam, dass sie alle im Alter von zwanzig bis dreißig Jahren ihr Land verlassen und dann nicht mehr zurückkehren. Selbst die unter den Schriftstellern, die nicht an der Empörung von 1830 teilgenommen haben, zogen ins Ausland, um frei schreiben zu können. Sie werden denn alle Emigranten und Pilger, wirken wie Führer, die keine feste Verbindung mit ihrem Volke haben und nie sicher sind, es hinter sich zu haben, leben übrigens in der steten und stets getäuschten Hoffnung eines allgemeinen Umschlages in der europäischen Politik.

Dies alles zusammen erzeugte eine politische Romantik besonderer Art, die sehr verschieden von der deutschen, reaktionären und der französischen, humanitären war.

Doch besonders gefesselt wird das Interesse durch die Beobachtung der Einwirkung des Emigrantenlebens auf das Gefühlsleben der Schriftsteller.

Sie sind von der Natur Schwärmer, als Romantiker Schwärmer aus Theorie. Die Emigration verleiht ihrem Gefühlsleben etwas Kränkliches, Jagendes, sinnlos Unruhiges, während sie dessen Exaltation verdoppelt.


Man sehe, welche Formen ein Grundgefühl wie die Liebe bei ihnen annimmt.

Mickiewicz, der lange Fräulein Eva Ankwiozowna geliebt hat, sich sogar religiös von ihrem Kinderglauben ja von ihren Traumgeschichten hat beeinflussen lassen, — sie hatte ihn in weißer Tracht und mit einem Lamm im Arm gesehen — verlässt plötzlich Rom, gerade wie Evas Vater im Begriffe steht, seine einige Zeit versagte Einwilligung zu ihrer Verbindung zu geben, und versucht sogar nie die Geliebte wiederzusehen, deren Andenken doch sein Hauptwerk Pan Tadeusz erfüllt.

Krasinski, der in den überspanntesten Ausdrücken seiner Freundin, Frau Delphine Potocka, als seiner Seelenschwester, seiner Muse u. s. w. gehuldigt hat, verlässt wie ein Minderjähriger aus Gehorsam gegen seinen Vater die Geliebte und heiratet, wieder auf Wunsch des Vaters, eine andere Dame. Aber gleichzeitig schreibt er der Verlassenen, deren Gestalt seine Dichtung Morgendämmerung beherrscht: „Bete für mich, dass nicht die ewig qualvolle Liebe zu Dir mich in die Hölle hinabzieht. Bete, dass ich bei Gott im Himmel mich einmal durchkämpfen darf, um Dir zu begegnen!“

Slowacki lernt Fräulein Maria Wodzinska kennen, während er sich in der Pension einer Frau Patteg am Genfer See aufhält. Die zwei jungen Leute hegen eine heftige Leidenschaft zu einander und Slowackis zarte und durchgeistigte Dichtung In der Schweiz steht in der Literatur als Denkmal der glücklichen Stunden dieser Liebe in einer schönen Natur. Aber Frau Pattegs ältliche Tochter Eglantine, die für Slowacki glüht und in Eifersucht verschmachtet und rast, verursacht Szenen, und das veranlasst den Dichter, sich von der Geliebten zurückzuziehen; die Familie Wodzinski reist ab. Slowacki zieht an die andere Seite des Genfer Sees, schreibt gegen Fräulein Patteg ein Gedicht Die Verfluchte und kehrt dann wieder zu ihr zurück.

Die Leidenschaften scheinen wohl stark, aber die Charaktere sind schwach. Diese Poeten verlassen die Geliebte, nicht um sich vor den Konsequenzen der Leidenschaften zu retten oder aus Furcht, sich zu binden (wie Goethe), auch nicht, weil sie zu lieben aufgehört haben oder sich in anderer Richtung hingezogen fühlen, nein, es ist als wäre eine Feder in ihnen gesprungen.

Sie sind als Nomaden oder Emigranten abhängig, nicht Herren ihres Schicksals und allzu exaltiert, um einen praktischen Lebensplan anzulegen. Sie haben keine bleibende Stätte, kein Heim. Das Losreißen von der väterlichen Erde greift ihren Charakter an, macht sie unsicher und vermehrt ihren Hang zu einem geheimnisvollen Gedankenleben.

Als zu Anfang der vierziger Jahre Towianski, ein polnischer Nationalschwärmer, in seinem Auftreten ein Mittelding zwischen Pere Enfantin und Cagliostro, unter ihnen auftaucht, verfallen die meisten seiner Macht. Und selbst diejenigen, die ihm nicht folgen, werden nichtsdestoweniger Mystiker, zum wenigstens in einer Periode ihres Lebens. Sie sterben jung, sind lange vor dem Alter aufgerieben, entweder in mönchartiger Unterwerfung, wie der einst so unbändig trotzige Slowacki, oder wie Krasinski in einem Gemütszustande unendlicher Wehmut, dem er in den Worten Ausdruck verliehen hat: Dein Volk ist anderen Völkern zur Speise gegeben worden, zur Erneuerung ihres Blutes.

Sie waren ja alle ohne Ausnahme religiös veranlagt oder erzogen. Sie erwarteten, dass unmittelbar oder mittelbar in jedem großen Ereignis ein Zweck realisiert werde, also auch in dem, was sie am nächsten betraf; sie wollten, es solle in dem, was sie erlebten, ein göttlicher Plan liegen. Sie verstanden nicht, dass ein Volk vernichtet werden konnte, geradezu ausgelöscht aus der Zahl der Lebenden. Wenn diese Römisch-Katholischen auf das Menschenleben und die Geschichte blickten, so begriffen sie nicht, dass den Schlechten und Hartherzigen, den Grausamen und Rücksichtslosen so vieles gelang, und dass Gott nicht eingriff. Sie meinten, alles müsse einen verborgenen und geheimnisvollen Sinn haben, so dass sich zuletzt alles zum Guten wende.

Glaubten sie den Sinn zu finden, so wurden sie Verkünder, Seher, Propheten; zweifelten sie daran, ihn zu finden, so verstummten sie in verzweifelter Trauer. Aber um diese geheimnisvolle Bedeutung des großen Schiffbruches, den ihr Staat erlitten hatte, drehten sich all ihre Gedanken und Träume.

Hierin liegt etwas tief Romantisches. Der romantische Verstand ist (wie ich es schon anderwärts ausgedrückt habe) eine Art Atavismus. Er fragt, wie der Mensch in fernen, abergläubischen Zeiten frag. Er fragt nach der Bedeutung dessen, was geschieht, während der moderne Verstand nach dessen Ursache fragt. So suchen diese Geister fast gar nicht nach den Ursachen des polnischen Schicksals, sondern sie fragen mit Angst, mit der vereinten Leidenschaft der dichterischen Phantasie und der religiösen Schwärmerei, das Dunkel zu durchdringen, nach der Bedeutung von Polens Schicksal, und Phantasie, Schwärmerei und Leidenschaft geben die Antwort.

In der Regel gehen sie von gewissen historischen Behauptungen als Glaubensartikel aus: Es gebe in der Vergangenheit des Volkes so eigenartige und bedeutungsvolle Charakterzüge, wie bei keinem anderen Volke. Diese Züge stammten aus dem vorhistorischen slawischen Altertume, und die Zukunft des Volkes hänge von der Anhänglichkeit an diese primitivnationalen Institutionen ab (die Volksversammlungen und die slawische Kommune mit ihrem Allgemeinbesitz, obgleich diese mehr russisch als polnisch ist). Das Unglück des Volkes beruhe auf seinem Abfall von ihnen. — Man gelangte mit anderen Worten zu einer kleinen Gruppe angeborener Ideen und Prinzipien, die, wie Spasowicz es ausgedrückt hat, dem Volke von seinem Ursprünge an innewohnend seinen Beruf ausmachen sollten. Der große und gelehrte Historiker jener Zeit, Lelewel, der etwas älter als die romantische Dichterschule in vielem bestimmend auf ihre historische Grundanschauung wirkte, hatte diese Theorie formuliert, die ein paar Menschenalter hindurch unbestritten in Polen dastand.

Anscheinend würden die Dichter ihrem Volke besser gedient haben, wenn sie mit tieferem Blick für die in der Geschichte wirkenden Kräfte die Ursache des Unterganges ihres Volkes als Staat dargestellt hätten; ihre Leser würden dann einen Einblick in die Mittel gewonnen haben, dem nationalen Verfall entgegenzuarbeiten und eine Wiedererrichtung zu fördern. Aber in Wirklichkeit hat ihre Poesie gerade durch ihren dunklen und prophetischen Charakter eine größere Bedeutung für die Zukunft des Volkes gehabt, als eine verstandesklare oder sogar vernunfttiefe, darstellende Dichtung gehabt haben könnte. Ihre Exaltation, die nichts erklärte, aber selbst so erklärlich war, versetzte die Leser in eine Begeisterung, deren sie unter den politischen Verhältnissen, worin sie sich befanden, in hohem Grade bedurften, ja die sie notwendig gebrauchten. Sie verlieh Ausdauer, Selbstvertrauen, felsenfesten Glauben an die Zukunft, einen hartnäckigen Optimismus, der um so merkwürdiger ist, als von keinem Lande anzunehmen wäre, dass es dem Pessimismus einen fruchtbareren Boden biete.

Die Dichter scheinen voraus gefühlt zu haben, dass es sich darum handelte, dem Volke eine geistige Nahrung und einen geistigen Stärketrunk mit auf den Weg zu geben, woran es zur Not, wenn es sein musste, einige hundert Jahre zehren konnte. Sie haben darum in ihren Werken ihren ganzen Sinn auf ihr eigenes Volk konzentriert, haben in den Büchern Vaterlandsliebe, Hoffnung, Hass gegen Verrat und Unrecht, Vertrauen auf den endlichen Sieg des Rechtes, verdichtet und zusammengedrängt, wie man diese Empfindungen an keiner anderen Stätte um einen gemeinsamen Mittelpunkt geschart sieht. Sie wurden daher nicht wirklichkeitssuchende, sondern verkündende Geister.

Ihre Poesie erhielt auf diese Weise ein völlig eigenartig religiöses wie künstlerisches Gepräge. Die Idee der Nationalität, die alles bei ihnen durchzieht, wurde mit einer in ihrem Wesen religiösen Inbrunst umfasst, und der Kampf für sie wurde als eine Pflicht religiöser Natur aufgefasst. , So kam es, dass die polnische Poesie in der Ich hatteromantischen Periode, die in äusserer Hinsicht ein so unvollständiges Bild von dem Znstande des Landes und des Volkes giebt, in ihrer Gesamtheit genommen, eine Art moderner Bibel ausmacht, ein altes Testament mit Büchern der Richter und Propheten, mit patriarchalischen Schilderungen (wie wir sie bei Rzewuski oder in Pan Tadeusz treffen) mit Psalmen (wie bei Krasinski) zuweilen mit der Darstellung einer Judith, eines Makkabäerkampfes oder eines von der Pest befallenen Hiobs, und hier und da mit einem Hoheliede der Liebe, ätherischer, aber weit schwächer im Klange als das des alten Palästina.

Das Ganze kann als eine Sammlung nationaler Erbauungsschriften betrachtet werden.

Am deutlichsten nimmt die Literatur diesen Charakter an von dem Zeitpunkte (1830), als das polnische Volk zunächst Hoffnung fasst, sich erhebt und vernichtet wird, und als seine junge Generation nach Sibirien geschickt wird, während sein Dichtergeschlecht emigriert, so dass wir drei Arten von polnischer Literatur erhalten, die Literatur der Deportierten, der Emigranten und der zu Hause Bleibenden.

Von diesem Augenblicke an wird die polnische Sache, weit davon entfernt, in den Augen der Polen zu sinken, für sie die heilige Sache, das Land das heilige Land, das Volk das Märtyrervolk, das Freiheitsvolk, das für die ganze Menschheit leidet. Die sinnbildliche Bedeutung, die man einst Napoleon als Erlöser der Völker gegeben, erhält nun Polen selbst, nur dass das Bild in noch brennenderen Farben strahlt. Stephan Garczynski schreibt während der Kanonade von Warschaus Schanzen:

„O mein Volk! Wie das verwundete Haupt des Erlösers für ewig sein blutiges Bild einem Schleier aufdrückte, so wirst du, mein Volk, diesem ganzen Geschlechte das blutige Bild deines Schicksals einprägen. Dieses Geschlecht wirst du Europa ins Angesicht schleudern, als schleudertest du den Schleier der Veronika, und man wird deine Leidensgeschichte auf dessen Antlitze lesen. Und die Zeit wird kommen, ihr Völker Europas! da Eure Augen und Gedanken wie verzaubert an dem blutigen Bilde dieser gekreuzigten Nation hängen werden.

So ruft auch der Abt im zweiten Teile von Mickiewiczs Dziady in der großen Visionscene, welche die Haltung von Russland, Preußen und Österreich gegenüber Polen symbolisiert:

Er hat sich erhoben, der Tyrann — Herodes. O Herr! Sieh, das ganze junge Polen in die Hände des Herodes gegeben! Was sehe ich? Diese weißen Streifen sind Wege, die sich kreuzen, Wege, die so lang sind, dass sie endlos scheinen! Durch Wüsten, durch Schneemassen führen sie alle nach Norden . . . . Sieh diese Menge von Schlitten, sie fahren davon wie Wolken, sie werden vom Winde getrieben alle in gleicher Richtung! O Himmel, es sind unsere Kinder. . . .
Ich sehe diese Schar von Tyrannen und Henkern herbeieilen, um mein gefesseltes Volk zu ergreifen. Ganz Europa verhöhnt es: Zum Richtstuhle! Die Menge schleppt den Unschuldigen vor das Gericht. Wesen, die nur Zungen sind, ohne Herzen oder Arme, sind ihre Richter. Und von allen Seiten ertönt der Ruf: Gallus! es ist Gallus, der dieses Volk richten wird! — Gallus hat es nicht schuldig befunden, er wäscht seine Hände. Aber die Könige rufen: Richte es, übergib es seinen Henkern, sein Blut komme über uns und unsere Kinder. Lasse Barrabas los, kreuzige den Sohn Marias, kreuzige ihn! Er hat den Kaiser verhöhnt.
Gallus hat mein Volk ausgeliefert; es ist schon gebunden, sieh, sie zeigen sein unschuldiges Antlitz, blutbesudelt, wie es ist und mit einer Dornenkrone zum Spotte um die Stirne. Und die Leute laufen herbei und Gallus schreit: Seht, das ist das freie, unabhängige Volk!
O Herr, ich sehe schon das Kreuz. Wie lange, wie lange Zeit soll es mein Volk noch tragen? Herr, habe Mitleid mit deinem Diener, gib ihm Kräfte, dass er nicht stürzt und am Wege aushaucht. Sein Kreuz hat so lange Arme, dass sie sich über ganz Europa erstrecken; es ist aus drei Völkern gebildet, die so vertrocknet sind wie drei welke Bäume.
Man schleppt mein Volk fort, dort ist es, dort auf dem Sühnopfer-Throne! Der Gekreuzigte sagt: Ich durste und Ragusa reicht ihm Essig und Borus labt ihn mit Galle und seine Mutter, die Freiheit, steht am Fuße des Kreuzes, hebt ihr Haupt und weint. . . . Und sieh, der moskowitische Soldat läuft herbei und stößt die Lanze in seine Seite.

Dieses Bild prägt sich am tiefsten in die Erinnerung, wenn man sich mit der polnischen Poesie der ersten Hälfte des Jahrhunderts beschäftigt hat: das bleiche Profil eines gemarterten Volkes, das sich damit tröstet, dass seine Leiden seine Ehre seien und dass es für die gemeinsame Sache der Völker leide.

Doch der Wert der romantischen Literatur beschränkt sich nicht auf ihre Bedeutung für das polnische Volk. Hat auch Europas Unkenntnis der Sprache, worin sie niedergelegt ist, einen weitgehenden Einfluss unmöglich gemacht, so hat sie doch die Geister anderer Literaturen beeinflusst (wie Mickiewicz Puschkin beeinflusste und wie sein Buch der polnischen Pilger von Lamennais in dem Worte eines Gläubigen nachgeahmt wurde), und sie überrascht und entzückt noch heutigen Tages den Fremden durch die Intensität ihres Gefühlslebens, durch ihre Liebe zu Ideen und, wo sie das Höchste erreicht, durch ihre mächtigen Bilder der polnischen Natur, der Steppen der Ukraine, der Wälder Litauens und des Menschenlebens der neueren und der älteren Zeit, wozu diese Umgebungen den natürlichen und unentbehrlichen Rahmen abgaben.

Diese Gruppe von Poesien hat dem Auslande das Vorhandensein einer Lebenssumme bewiesen, an deren Kraft man zu zweifeln begonnen Hatte und die man nicht zu schätzen verstand. Man muss immer in erster Linie beweisen, dass man lebe; denn wie Schiller sagt, der Lebende hat Recht Dann muss man Freunden und Feinden beweisen, dass man in keiner Weise hinter ihnen zurückstehe, sich mit ihnen im Wettstreite einlassen könne, dass man also noch ein anderes Recht, als das des Lebens besitze, nämlich das Recht der Kultur und der geistigen Überlegenheit.

In beiden Beziehungen haben die romantischen Dichter Polens dargetan, was es Europa zu beweisen galt.