I. Allgemein europäische Rahmen der Literatur und eigenes Grundgepräge. Rückblick. Kochanowski. Skarga. Jesuitismus. Französische Philosophie. Rationalismus

Die polnische Literatur der ersten drei Viertel dieses Jahrhunderts bietet das gleiche Bild wechselnder Grundrichtungen wie die übrigen mir bekannten europäischen Literaturen. Die Rahmen sind überall die gleichen: Ein zu Anfang des Jahrhunderts veralteter und bald überwundener Klassizismus, eine den größten Teil des Jahrhunderts und des Interesses einnehmende Romantik und ein in den siebziger und achtziger Jahren hervorbrechender Realismus.

Dies ist gemeinsam europäisch. Aber bei jedem Volke nehmen diese Richtungen einen verschiedenen Charakter an je nach den geschichtlichen Voraussetzungen und geschichtlichen Verhältnissen des Volkes. Ganz zu geschweigen von den dem Volkscharakter entstammenden Eigenschaften, hat die polnische Literatur dieses Jahrhunderts ihr eigentümliches Grundgepräge schon dadurch, dass sie in einem Land entsteht, das kürzlich auf gewaltsame Weise aufgehört hatte als selbständiger Staat zu existieren. Die Literatur und in dieser besonders die Poesie müssen dadurch geradezu alle die Organe eines Volkslebens vertreten, die durch die Teilung des Staates verloren gegangen sind. Sie gewinnt hierdurch ein erhöhtes inneres Leben, verliert jedoch notwendigerweise gleichzeitig an Mannigfaltigkeit.


Zum Verstehen der Poesie des gegenwärtigen Jahrhunderts ist ein kurzer Rückblick auf die Entwicklungsgeschichte der letzten Jahrhunderte erforderlich.

Die Erschütterungen, die das Reformationszeitalter in den europäischen Hauptländern verursachte, Hessen Polen ziemlich unberührt. Während sich das verwandte Böhmen in dem Sehnen nach einer großen sozialen und kirchlichen Reform in den Hussitenkriegen verzehrte, den ganzen zweihundertjährigen Zeitraum hindurch vom Tode des Hus und bis zur Schlacht am Weißen Berg (1620), und während es dann wieder ein paar Jahrhunderte hindurch nach der großen Überanstrengung förmlich wie aus der Geschichte geglitten war, stand die römisch-katholische Kirche verhältnismäßig unangefochten in Polen; das Land blieb von einer tiefergehenden religiösen Zwietracht verschont.

Das Zeitalter, das im allgemeinen als die Renaissance bezeichnet wird, war für Polen eine Zeit der Größe und führte das erste Goldalter der poetischen Literatur herbei. Seine größte Gestalt ist Jan Kochanowski (1530 — 1584), ein Verehrer von Horaz und Virgil, ein Zeitgenosse und Bekannter von Ronsard, der als Dichter in der lateinischen Sprache anfängt, bald aber zur polnischen übergeht, deren größter damaliger Meister er wird, und der im Geiste der Antike und der Renaissance, kühl dem Christentum gegenüber, warm empfindend für die Republik, ein heidnischer Theist, sich in allen Dichtarten versucht und in allen Männlichkeit, Freisinn und Menschlichkeit an den Tag legt. Die besten seiner Treny, einer Reihe schöner und einfach ergreifender Elegien über den Tod einer geliebten Tochter, sind so wertvoll, dass sie nicht einmal von den so viel späteren, bewunderungswürdigen Gedichten Victor Hugos, die ähnlichen Inhalts sind, übertroffen werden.

Die zwei poetischen Hauptrichtungen, die in diesem Zeiträume gedeihen, sind die Idylle und die Satire, die Idylle, weil das Mitgefühl einzelner Dichter den Ring durchbrechend, den der Szlachta, der polnische Adel, der in der Republik alles ist, um sich gezogen hat, sich dem niederen, unterdrückten Volke nähert, das in Hirtengedichten verherrlicht wird; die Satire, weil der scharfe kritische Sinn anderer Dichter sich gegen die herrschende Adelskaste wendet und die Vorstellung angreift, dass Adel ein zufälliges Geburtsvorrecht ist. Gerade dann, um das Jahr 1600 wird der Szlachta entschieden fortschrittsfeindlich und klammert sich an die Privilegien seiner Machtstellung.

Die in Deutschland durch die Unterdrückung des Bauernaufstandes und die Vernichtung der Wiedertäufer gebrochene soziale Bewegung jener Zeit, wird von dem polnischen Adel mit großen Anstrengungen im Kriege gegen die Kosaken überwunden. Die geistige Wiedergeburt, die in Deutschland, als der Humanismus vom Lutheranismus aufgehoben und verschlungen wurde, in einer Mittelmäßigkeit innehielt, einer bürgerlich -kirchlichen Zwischenform, die breit und stark genug war, um dem Drucke langer Zeiten zu widerstehen, wurde in Polen sofort in ihrem Wachstum aufgehalten, weil sie ganz im Gegensatz zur Reformationsbewegung von einem Humanismus aufgehoben und verschlungen wurde, wofür nur die am feinsten Gebildeten der höheren Klassen empfänglich waren, und der daher mit Leichtigkeit überwunden wurde, sobald die religiöse Kontrarevolution mit dem Jesuitismus an der Spitze ihren Anlauf nahm.

Der polnische Protestantismus nahm die Form einer ketzerischen Philosophie an, welche die Kirchenlehre mit samt ihrer Moral verwarf, ohne irgend eine selbständig positive Moral bilden zu können, nur von der polemischen Tendenz erfüllt, alles früher Verbotene gutzuheißen (sowohl die Heirat zwischen leiblich Verwandten, als auch freie geschlechtliche Verbindungen) und von der Lehre über die Notwendigkeit der Einziehung des Kirchengutes begeistert. Da der protestantische Adel jedoch der Religion bedurfte, um das Volk in Schranken zu halten, da sein eigener Humanismus den Massen unverständlich war und da er für seine Privilegien jenes Prinzip der freien Untersuchung fürchten musste, das ursprünglich jedem Protestantismus zu Grunde liegt, so bedurfte es nur des Auftretens und der Agitation einiger großer, aristokratisch -priesterlicher Talente, um diesen protestantischen Adel zum Abfall und einen nach dem andern zur Rückkehr in den Mutterschoß der katholischen Kirche zu bringen. Ein solch großes, oratorisches Talent war Orzechowski (1515 — 1566), der dem Adel bewies, dass nur die Geistlichkeit imstande war dem Könige Angst einzujagen, den Eid zu brechen, womit er immer dem Szlachta Beobachtung seiner Privilegien zuschwören musste.

Ihm folgt ein weit größeres und berühmteres oratorisches Talent, der Priester Skarga (1536—1612), ein Jesuit, der ein glühender polnischer Patriot war, ein Wiedererrichter des gesunkenen Katholizismus, der alle Gefahren der Adelsanarchie voraussah und in einer seiner Reichstagspredigten sogar die Teilung Polens vorausgesagt hat. Man höre seine Worte:

Ein äußerer Feind wird über Euch kommen, Euern inneren Zwist benutzen und sagen: Ihre Herzen haben sich gespalten; nun werden sie zu Grunde gehen. Diese inneren Streitigkeiten werden Euch in Gefangenschaft bringen, während deren alle Eure Freiheiten verloren gehen und zu Schanden werden. Große Länder und Fürstentümer, die vereint mit der Krone waren, werden abfallen und zerrissen werden, und Ihr, die Ihr einmal andre Völkerschaften regiertet, werdet wie eine verlassene Witwe zum Gespött und Spielzeug Eurer Feinde werden. Ihr legt Euer Volk und Eure Sprache Öde, das einzig freie Volk unter allen slawischen; Ihr zerstört, was von diesem so alten und so weit verbreiteten Volke erhalten ist und werdet verschluckt von andern Völkern, die Euch hassen. (Die dritte Reichstagspredigt.)

Auf dem berühmten Gemälde von Matejko ist Skarga, diese Rede an den Reichstag haltend, dargestellt.

Von seiner Zeit bis über die Mitte des achtzehnten Jahrhunderts herrscht der Jesuitismus in Polen und bestimmt dessen Geistesleben. Noch mehr aus christlichen als aus politischen Gründen unternimmt Sobieski im Jahre 1683 seinen Feldzug nach Wien gegen die Türken; aus Eifer für die Erhaltung des katholischen Glaubens beruft die katholische Geistlichkeit den Jesuitenorden und legt nach und nach das ganze Unterrichtswesen in die Hände der Jesuiten. Die einzige geistige Produktion, die unter ihrer Herrschaft gedeiht, ist die Beredsamkeit, die sowohl auf lateinisch, wie auf polnisch eine außerordentliche Höhe erreicht. Doch wird es gleichzeitig Sitte, die beiden Sprachen zu einem makaronischen Brei zu vermischen, den nur die Geschmacklosigkeit gemessen konnte.

Diese jesuitische Bewegung wird von der Strömung abgelöst, die von den philosophischen Ideen des achtzehnten Jahrhunderts in Frankreich ausgeht. Insofern diese Ideen politisch reformatorisch waren, beeinflussten sie erst die Geister, als der polnische Staat schon unheilbar in die Brüche ging. Lange glückte es der konservativen Adelskaste, jeden Reformversuch als reaktionär zu stempeln, als Kränkung der kostbaren persönlichen Freiheit, dieser Freiheit, die allerdings durch das Liberum veto zur Anarchie und zum Verkauf der Krone an den Höchstbietenden geführt hatte. Nun reisten junge Polen nach Frankreich, um bei dessen berühmtesten Denkern Rat in Bezug einer neuen Verfassung für ihr mit Zersetzung bedrohtes Vaterland zu holen. Wielhorski wandte sich an Rousseau als Verfasser der Contrat social und erhielt von ihm seine Considérations sur le Gouvernement de la Pologne, dann an den Abbe Mably und erhielt von ihm De la Situation politique de la Pologne. So haben sich in unserer Zeit japanische Abgesandte an Professor Gneist in Berlin mit dem Ansuchen, dem er Folge leistete, gewandt, ihrem Lande eine Verfassung zu schreiben.

Rousseau betrachtete die Frage als rein apriorisch. Aus Widerwillen gegen den Absolutismus empfahl er Teilung der Staatsmacht, riet zu einer Bundesregierung, hielt an der Königswahl fest, wollte auch nicht das Liberum veto abschaffen, nur dessen Anwendung einschränken, und empfahl Demokratie in Formen, die für Polen nicht passten; seine Ideen dienten später den Anarchisten, den von Russland beschützten Landesverrätern von der Konföderation in Targowice, als Vorwand. Mably, der mehr politischen Sinn bewies, riet zur Einführung einer erblichen konstitutionellen Monarchie.

Die erste Teilung Polens im Jahre 1772 machte diesen Beratschlagungen mit Fremden ein Ende, aber von 1788 an hielten die Polen der nationalen Partei energisch Rat untereinander über die Grundlegung einer neuen Ordnung der Reichsverhältnisse und einigten sich definitiv in der vortrefflichen Verfassung des 3. Mai 1791, die man den Adelsbrief der Polen unter den Völkern Europas genannt hat. Ihr folgte die zweite und, nachdem Kosciuszko's Aufstand niedergeschlagen war, die dritte Teilung.

Einer der hervorragendsten Männer jener Zeit, das Haupt der rationalistischen Klassizisten, Jan Sniadecki, dessen Beschränktheit gegenüber der aufkeimenden Romantik keineswegs großen und scharfen Blick auf andern Gebieten ausschloss, hat der Stimmung jener Zeit den treffenden Ausdruck gegeben, dass nach dem Untergange des Vaterlandes als Staat sich die Polen gleichsam verurteilt fühlten, alle die Gemütsbewegungen in sich zu unterdrücken und auszurotten, die durch die Erziehung, die Lebensgewohnheit und jenes Verlangen nach Förderung des Allgemeinwohls erzeugt worden, welches die Seele ihrer geistigen Kräfte und Fähigkeiten gewesen war. „Jetzt”, sagt er, „muss der Pole sich selbst überleben, sich eine neue Seele schaffen und seine Empfindungen in die engeren Grenzen des Privatlebens verschließen. Es kann denn niemand wundern, dass eine mehrjährige Pause in den Äußerungen der allgemeinen Geistesentwicklung zwischen dem Aufhören des Reiches und dem Anbrechen der neuen romantischen Literaturbewegung eintritt.

Während dieser Pause findet das Revolutionszeitalter und Napoleons Umkalfatern der europäischen Zustände statt.

Sofort nach dem Blutbade in Praga ließen die Sieger einen Teil der ersten Männer Polens gefangen nehmen; viele verschwanden in preußische und österreichische Festungen, andere wurden nach Sibirien, ja einige polnische Generäle wurden bis nach Kamschatka geschickt. Diejenigen, welche entwischten, emigrierten nach Frankreich, Italien oder der Türkei.

Natürlich sympathisierten die Polen, deren Republik gerade im Kampfe mit drei erblichen Monarchien unterlegen war, während der Kriege der französischen Republik mit dieser, und in der Hoffnung, dass sie sich ihrer Sache annähme, kämpften sie legionenweise zur Seite der französischen Truppen. Immer wieder täuschten die Republik und Bonaparte sie in ihren Hoffnungen; immer wieder gab Napoleon ihnen Zusagen, die er nie zu halten gedachte. Immer wieder opferten die Polen in Scharen, ja in Heeren ihr Blut für ihn. Noch auf der einsamen Schlittenfahrt Napoleons während des Rückzuges von Russland wurde er von Smorgoni bei einer Kälte von 28 Grad Réaumur von hundert polnischen Lanzenieren begleitet, die am Abend freiwillig ihre Eskorte anboten und von denen am nächsten Morgen nur 36 übrig waren.

Kosciuszko glaubte Napoleon nicht; er schlug auf das bestimmteste ab, seine Landsleute aufzufordern, unter ihm zu kämpfen. „Und wenn man Sie "mit Gewalt dorthin führte?" frug der Herzog von Otranto ihn als Unterhändler. „So würde ich laut und deutlich erklären, dass ich nicht frei bin, und an nichts teilnehme.“ — „Gut, wir können Sie entbehren“, antwortete Fouche. Man konnte es bis zu einem gewissen Punkte, weil die Polen darauf bauten, dass Napoleon als Grundleger einer neuen Dynastie genötigt war, Krieg gegen die alten Königsgeschlechter zu fuhren, welche Polen geteilt hatten. Und doch verschmähte Napoleon nicht, wie oben erwähnt, vor seinem russischen Feldzuge eine mit Kosciuszko's Namen unterschriebene Proklamation an die Polen zu erlassen, worin er sich selbst mit der tiefsten Bewunderung erwähnt. Der Anfang lautet: „Unter dem Waffenlärm, wovon Polen widerhallt, begibt sich Kosciuszko zu Euch. So wollte es Napoleons hohe Bestimmung, er, der Könige vernichtet und schafft, der die feindlichen Völker mit seinem Blitzstrahl fällt . . . Der Mann des Schicksals richtet seine Augen und Gedanken auf Euch."

Bei allen Gelegenheiten missbrauchte, opferte und betrog Napoleon Polen. Aber dieses Volk, das seit dem Untergange des Staates geweiht schien, wider Hoffnung zu hoffen, ließ ihn deshalb nicht fahren. Im Gegenteil. Sofort nach des Kaisers Fall beginnt, wie wir sehen werden, in Polen ein Napoleonkultus, in Vergleich mit welchem derjenige anderer Länder und anderer Literaturen gering zu schätzen ist.

Alexander I. war in seiner ersten Periode milde gegen Polen gestimmt. In der kurzen Zwischenzeit zwischen dem Jahre 1815 mit der guten Verfassung, die dieses Jahr dem Lande brachte, und dem Zeitpunkte, da Alexanders Reaktionsbestrebungen zunehmende Heftigkeit verrieten, ging die Geistesentwicklung ruhig und frei vor sich, ohne von politischen Kämpfen gekreuzt zu werden. In diesem Zeiträume verwirft man die französisch klassische Produktion aus der Zeit Stanislaus Augustus' als eine bloße Salonliteratur. Es entsteht hier wie anderwärts ein Kampf, doch nur von kurzer Dauer, zwischen Klassikern und Romantikern; dann betreten die verschiedenen Provinzen jede für sich den Schauplatz mit ihrem neuen Flug von Poeten, zuerst Ukraine, dann Litauen, dann die andern, alle von dem Gefühle durchdrungen, dass man aus der Atmosphäre der eleganten Zimmer heraus und in Berührung mit dem breiten Volke unter offenem Himmel kommen müsse.
Polnische Ulanen 1807-1815

Polnische Ulanen 1807-1815

Grenadier der Alten Garde Napoleons, Ölbild von Edouard Detaille

Grenadier der Alten Garde Napoleons, Ölbild von Edouard Detaille

Napoleon Bonaparte (1769-1821) französischer Kaiser

Napoleon Bonaparte (1769-1821) französischer Kaiser

Angriff der Royal Scots Greys in der Schlacht bei Waterloo 1815 (Ausschnitt 3)

Angriff der Royal Scots Greys in der Schlacht bei Waterloo 1815 (Ausschnitt 3)

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