Zweite Fortsetzung

Indessen gibt es einen nationalen Besitz, der durch eine staatlich gewährleistete Gleichberechtigung wirklich viel gewinnen kann. Das ist die Sprache. Die Juden besitzen nach Herrn K.-K. eine „eigenartige allgemeine Kultur", die u. a. auch in „einer gemeinsamen Sprache ihren stärksten Ausdruck findet“. „Eine gemeinsame Sprache — jiddisch und hebräisch — sprechen 96% aller östlichen Juden. So bilden sie auch sprachlich eine besondere Nation unter allen anderen Nationen des Ostens Europas."

Man merke: „eine gemeinsame Sprache — jiddisch und hebräisch". — Das sind, mit Verlaub, zwei Sprachen, die voneinander sehr entfernt sind. Eine semitische Sprache und ein germanischer Dialekt! Wir wären aber dann die einzige Nation in der Welt, die zwei Nationalsprachen hätte. Eine solche Nation wäre ein lebensunfähiges Monstrum, wie ein Kalb mit zwei Köpfen. Individuen können in sehr großer Anzahl zweisprachig sein. Ein Volk, das zwei Sprachen tragen, pflegen, mit den besten Säften seiner Seele nähern wollte, müsste die anderen geistigen Betätigungen vernachlässigen und an Atrophie des Intellekts zugrunde gehen. Es kann ja sein, dass bei einer Volkszählung 96% der Juden Russlands im engeren Sinne zu einem sehr geringen Bruchteil Hebräisch, und die erdrückende Majorität „Jiddisch" als Umgangssprache angegeben hat. Allein hiergegen wäre folgendes zu bemerken: Wer Hebräisch als Umgangssprache angab, hat eine unrichtige Angabe gemacht. Wohl gibt es sehr viele Juden im Osten, die fließend Hebräisch schreiben und sich dieser Sprache zum schriftlichen Austausch ihrer Gedanken bedienen. Viele sind auch imstande, diese Sprache geläufig zu sprechen. Aber die eigentliche Umgangssprache im alltäglichen Leben zur Verständigung mit dem Nachbar, mit dem Dienstboten, mit dem Käufer oder Verkäufer ist Hebräisch außerhalb Palästinas nirgends, und auch in Palästina nur in einem kleinen Kreise auf einem begrenzten Territorium, und dies erst seit etwa zwölf oder fünfzehn Jahren. Hebräisch ist die literarische Schriftsprache einer sehr breiten intellektuellen Oberschicht, aber nichts weiter. Der Jargon ist allerdings die wirkliche Umgangssprache der Mehrheit der Juden. Aber wie viele von ihnen können sich verbürgen, dass ihre nächsten Nachkommen sich seiner noch in demselben Maße bedienen werden, wie sie selbst? Tatsache ist, dass die Söhne und Töchter der bedeutendsten Jargondichter und -Schriftsteller, von Mendele Mocher Seforimbis auf Schalom Asch und Morris Rosenfeld, das Idiom, dem ihre leiblichen Väter Ruhm und vielleicht auch Wohlstand verdanken, nicht mehr sprechen, kaum noch verstehen und deren Werke nicht zu lesen imstande sind. So rasch stirbt das Verständnis des Jargons ab in Kreisen, die mit einem anderen Milieu in Berührung gekommen sind. Das Geltungsgebiet des Jargons verkleinert sich von Jahr zu Jahr zusehends zugunsten der Landessprachen, des Russischen in den russischen und des Polnischen in den polnischen Gebieten.


Unter den „Nationaljuden" gibt es zwei Richtungen, die einander heftig befehden: die „Hebraisten" und die „Jiddischisten". Die ersteren wollen ausschließlich das Hebräische als Nationalsprache gelten lassen und bekämpfen das „Jiddische", dem sie alle Existenzberechtigung absprechen und dem sie baldigen Untergang prophezeien und wünschen. Die letzteren hingegen verspotten das Hebräische als „tote Sprache" und nehmen für den Jargon, den die breite Masse von (Haus aus versteht, der ihre wahre Umgangssprache bildet, in dem der Mann aus dem Volke singt, flucht, kost, feilscht, seufzt, den alleinigen Rang und die alleinige Würde einer Nationalsprache in Anspruch. Zu den „Jiddischisten" gehören die in religiösem und in sozialem Sinne radikalen Elemente, die im Hebräischen zugleich den Reservoir und das Instrument der religiösen Tradition und das Ausdrucksmittel einer Elite, die von der großen Masse geschieden ist, bekämpfen. Die Zionisten des Westens sowie die meisten aus der Intelligenz hervorgegangenen Führer im Osten neigen stark zum „Jiddischismus", da die Erlernung des Hebräischen zu schwierig ist. Als im Frühjahr 1914 der sehr bekannte und verdiente Schriftsteller und Arbeiterführer Dr. Chaim Zytlowski aus Amerika nach Jerusalem kam und dort einen Vortrag in „jiddischer" Sprache halten wollte, widersetzten sich die Hebräisten, die darin eine Entweihung ihrer heiligsten Ideale erblickten. Es kam zu einer regelrechten Keilerei, und der Vortrag musste unterbleiben. Es war wie eine Szene aus dem Sprachenkampfgebiet zwischen Tschechen und Deutschen in Böhmen, oder Ruthenen und Polen in Ostgalizien.

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Hier ist der Ort, etwas Näheres über den viel berufenen „Jargon" zu sagen. Zunächst was die neumodische Bezeichnung „Jiddisch" oder gar „Yiddisch" anbetrifft, so ist die einfach unsinnig und geschmacklos. Es gibt in der Welt keine Völkerschaft, die sich „Jidden" oder ,,Yidden" nennte. Folglich kann es auch kein „Jiddisch" oder „Yiddisch" geben. Es gibt nur Juden, oder, wie noch Luther schrieb, „Jüden", und diese nennen ihre Alltagssprache im Gegensatz zum Hebräischen und mehr noch zum Deutschen oder anderen Sprachen „Jüdisch". Die Bezeichnung „Yiddisch" hat ein amerikanischer Professor, Verfasser einer wertlosen Kompilation über die jüdische Literatur, aufgebracht, und die europäischen Ignoranten machten es ihm nach, in der Meinung, originell zu sein. In Wirklichkeit spricht ein gewisser Bruchteil litauischer Juden das Jod nicht aus und sagt und schreibt „der Id", „die Iden", „idisch'', mit langem I (in hebräischer Schrift mit einem Aleph und Chirek). Das wird aber allgemein als fehlerhaft betrachtet. Im deutschen Duktus Jiddisch oder Yiddisch zu schreiben, ist vollends Unsinn. Wem die Bezeichnung Jüdisch zu unbestimmt ist, mag Judendeutsch sagen, wie das fast allgemein geschah.

Dieses Judendeutsch oder Jüdisch ist ein mittelhochdeutscher Dialekt, wie er etwa zu Beginn des 13. Jahrhunderts am Oberrhein gesprochen wurde. Als um jene Zeit die seit alters her eifrig gepflegte Kenntnis des Lesens- und Schreibens bei den Juden sehr allgemein wurde, wozu u. a. auch der regere Handelsverkehr beitrug, wurde diesem Dialekt das hebräische Alphabet angepasst. Anfänge einer Volksliteratur meist religiösen, aber auch weltlichen Charakters entstanden. Bei der strengen Absonderung der Juden im Ghetto in ganz Deutschland erhielten sich unter ihnen die archaischen Formen und Wendungen und gewannen Dauer, die Sprache wurde reichlich mit hebräischen Worten und Begriffen durchsetzt, machte vor allen Dingen die Entwicklung zum Hochdeutschen nicht mit und erhielt so einen eigenartigen Charakter. Das 14. und 15. Jahrhundert waren die Periode der ständigen Austreibungen der Juden aus allen deutschen Gauen, die die ehemals hier so zahlreiche jüdische Bevölkerung auf ein Minimum reduzierten. Die deutschen Juden fanden Zuflucht in den Ländern der Republik Polen. Dort wurde ihr Judendeutsch mit zahlreichen slawischen Elementen versetzt und nahm je nach den Gegenden eine mundartlich verschiedene Färbung an.

Die Juden haben das Judendeutsch stets als eine dem Hebräischen unebenbürtige Sprache betrachtet, es nie gepflegt, nie darin als Sprache die Jugend unterrichtet, es war stets etwa Untergeordnetes, eine Art Notsprache, deren man sich dort bediente, wo das Hebräische nicht zureichte, d. h. im alltäglichen Gebrauch, im Umgang mit der Menge, mit den Unwissenden usw. Im 17. Jahrhundert haben mehrere Christen eine Grammatik des Judendeutschen zu verfassen versucht, einem Juden ist solches nie in den Sinn gekommen. Jene Frommen, die am Sabbat keine unheiligen Worte in den Mund nahmen, hüteten sich, an diesem Tage Jüdisch zu reden. Nirgends findet man eine Inschrift in dieser Sprache auf einem Grabstein. (Auf dem alten Berliner Friedhof finden sich Inschriften in hochdeutscher Sprache mit hebräischen Lettern.) Das Gebet durch ein jüdisches Wort zu unterbrechen, galt als Profanation.

Das alles hat natürlich nicht gehindert, dass in dieser Sprache köstliche Schätze einer Volksliteratur sich angehäuft haben: Postillen, Bibelparaphrasen, Predigten, fromme Lieder, Gebete, Moralbücher für das Volk. Aber das köstlichste, was sie birgt, sind die Sprichwörter, Volkslieder, Parabeln, Volkssagen und Märchen. Dies alles ist tausendmal mehr wert, als alle die neueren Romane, Gedichte, Dramen, Novellen und dgl. Diese Literatur im modernen Sinne ist in jüdischer Sprache etwa hundert Jahre alt.

Anders war das Verhältnis der sephardischen Juden zu ihrem Altkastilisch, welches man Spaniolisch nennt. Ihnen ist diese Sprache fast so heilig wie das Hebräische, und sie hängen an ihr mit allen Fasern des Herzens. In ihren Schulen singt die Jugend glühende Lieder auf diese Sprache und gibt ihr alle möglichen Kosenamen. Sie achteten bislang scharf auf die Reinheit und Korrektheit der Aussprache und der Diktion. Diese Sprache spielte in ihrer Liturgie und in ihrer heiligen Literatur eine große Rolle. Es ist nichts Seltenes, dass der sephardische Vorbeter mitten im hebräischen Vortrag einen spaniolischen Hymnus oder die Übersetzung des eben rezitierten Gebetes anstimmt. Auf ihren Grabsteinen fehlt niemals eine spaniolische Inschrift in lateinischem oder hebräischem Duktus. Sie haben eine reichhaltige, nicht nur für das unwissende Volk bestimmte Literatur in dieser Sprache geschaffen, sie haben den Kusari und den Moreh in sie übersetzt, was nie einem aschkenasischen Juden bezüglich des Judendeutschen eingefallen wäre. Während die erste Bibelübersetzung ins Deutsche als eine furchtbare umstürzlerische Ketzertat gebrandmarkt und verfolgt wurde — obgleich die Übersetzung in hebräischen Lettern gedruckt war — , galt es bei den Sephardim seit jeher als selbstverständliche Pflicht, die Bibel in ihr Kastilisch zu übersetzen, und wir besitzen die prächtigsten Ausgaben mit danebenstehender Version in lateinischer Schrift. Es existiert keine Ausgabe des Maimuni oder des Talmud mit einer Jargon-Einleitung, wohl aber existieren mehrere mit spanischen Einleitungen und Widmungen.

Der Unterschied kommt daher, dass das Kastilische, als die Juden es annahmen, bereits eine einheitliche, hochentwickelte, klangvolle, durchgebildete Sprache war. Als solche nahmen sie die Juden mit in die Verbannung, als sie Spanien verlassen mussten. Das „Deutsch", welches die Juden am Überrhein am Anfang des 13. Jahrhunderts redeten, war dagegen „ein arm sprak", eine der vielen Mundarten, welche in der zweitnächsten Provinz nicht mehr verstanden wurden, keinerlei bedeutende Literaturschätze aufzuweisen hatten. Die Deutschen selber bedienten sich, sobald sie etwas über den plattesten Alltag Hinausgehendes ausdrücken wollten, des Lateinischen. Der Mann musste erst kommen, der aus einem dieser Dialekte das Wunderwerk formen sollte, welches später zur Sprache Goethes und Nietzsches wurde. Aber noch im 17. Jahrhundert war es, wie Treitschke versichert, unmöglich, in deutscher Sprache ernste Gedanken würdig auszudrücken. Kein Wunder, dass die Juden das von ihnen gesprochene Idiom, das noch dazu im Osten sich von der Sprache der Literaturdenkmäler beträchtlich entfernte, nicht mit derselben Liebe umfassten, wie ihre sephardischen Brüder das ihrige. Allein selbst das Spaniolische ist trotz seiner privilegierten Stellung dem Untergange geweiht. Überall, wo die Spaniolen am bürgerlichen Leben teilnahmen und in innige Berührung mit der sie umgebenden Welt traten, verschwand das Spaniolische nach und nach. In London, Holland, Hamburg und Wien erhalten sich kaum noch verklingende Laute des so stolzen und schönen Idioms, auf dem Balkan weicht es langsam aber merklich zurück. Elemente der heimischen Sprache dringen darin ein und zersetzen es, und der nächsten Generation wird es nur mehr eine Erinnerung sein. Dieser Prozess ist unaufhaltsam, weil durch das Leben bedingt.

Dasselbe Schicksal hat auch das Jüdische erlitten. In ganz Deutschland ist es ausgestorben. Der gefährlichste Feind des jüdischen Jargons ist das Hochdeutsche, die gebildete Schriftsprache. Wie auf allen Sprachgebieten macht man auch hier die Beobachtung, dass der Übergang von der Mundart zur Haupt- und Schriftsprache sehr leicht, der Übergang von der Schriftsprache zur Mundart sehr schwierig, wenn nicht ganz unmöglich ist. In allen Gegenden, wo die hochdeutsche Schriftsprache vorherrscht, ist der Jargon verstummt oder befindet sich im Absterben: so in Kurland, so in Posen; in Ungarn erscheint noch ein Blatt mit hebräischen Lettern, aber in hochdeutscher Sprache. Der Jargon wird dort nur noch von der älteren Generation verstanden und nur widerwillig gesprochen. Er wurde hier nicht etwa vom Ungarischen verdrängt, denn in Familien, wo man nur Ungarisch spricht, versteht man oder spricht man ihn noch häufig. Verdrängt wurde er vom Deutschen, erst dieses musste mit fortschreitender Magyarisierung dem Ungarischen weichen. In Galizien, wo Deutsch in den Schulen obligat ist, ist er seit etwa 40 Jahren stark zurückgegangen. In Familien, wo die ältere Generation Hochdeutsch sprach, versteht man den Jargon nicht mehr, er wird sogar verpönt. Dagegen ist häufig, namentlich in Westgalizien, in derselben Familie das schönste Polnisch friedlich neben dem Jargon anzutreffen. Eine richtige Zufluchtsstätte fand dieser nur in den Gegenden Russlands, wo das Deutsche gar keine, oder nur eine ganz geringe Rolle spielt, ferner in England und in Amerika, wo er der Konkurrenz des Hochdeutschen entrückt ist. Dort wird er allerdings vom Englischen allmählich zersetzt, ein Schicksal, dem alle anderen Sprachen ebenfalls unterliegen. Seit der Aufklärungszeit wurde der Jargon (,,das Mauscheln“) in Deutschland wütend bekämpft. Er schwand auch rasch dahin, rascher als im Interesse der Wissenschaft erwünscht war, denn über so manches Problem sogar der germanischen Sprach-, Altertums- und Volkskunde hätte man ihn befragen sollen, bevor man ihm das Lebenslicht ausblies. Aber man betrachtete ihn gar nicht als etwas organisch Entstandenes, dessen Werdegang man zu erforschen hätte, sondern als einen Schandfleck, ein Dokument der Unbildung, der mittelalterlichen Rückständigkeit, das man so rasch als möglich beseitigen und dessen Spuren man austilgen musste. Er galt nicht als ein mittelhochdeutscher Dialekt, sondern als „verdorbenes Deutsch". Man schämte sich seiner — ohne zu bedenken, dass er viel kostbares deutsches Sprachgut barg, das sonst verloren war und das man heben sollte. Man fand ihn „hässlich" (was man von jeder Mundart sagen kann). Noch Graetz kann sich nicht genug tun in der Verunglimpfung dieses Überbleibsels aus traurigen Zeiten. Auch im Osten wurde ein Kampf gegen den Jargon entfesselt. Isaak B. Levynsohn in Krzemieniec Podolski lief Sturm gegen diese „verworrene Sprache" (deren er sich im Kampfe gegen die chassidischen Finsterlinge meisterhaft zu bedienen wusste), in der man die Bibel nicht interpretieren könne, ohne ihre Schönheit zu verunstalten. Aber auch streng fromme Rabbinen alten Schlages fanden es für notwendig, dass „das bei uns herrschende Sprachgemengsel beseitigt und durch die polnische und die russische Sprache ersetzt werde". Das war leichter gewünscht, als ausgeführt. Es fehlte der wichtigste Faktor: die Herrschaft der unmittelbar verwandten und den Jargon verdunkelnden hochdeutschen Schriftsprache. Es fehlte aber auch an Volksschulen in der Landessprache, die den Juden zugänglich waren. Mittlerweile entstand dem Jargon ein mächtiger Beschützer in der chassidischen Finsternis, welche in der Erlernung jeder weltlichen Sprache eine Gefahr für die Frömmigkeit erblickte. Für einen Juden war es überhaupt sündhaft, „gojische" Sprachen zu lernen, welche unheilige Kenntnisse, Unglauben und Zweifelsucht mit sich trachten. Sogar das korrekte Beherrschen des Hebräischen war arg verdächtig. In dem großen Roman von P. Smolenski wird ein Chassid furchtbar wütend über die Behauptung, dass die Sprache der heiligen Thora sich nach den Regeln einer so verwerflichen, von Ketzern erfundenen Lehre, wie die Grammatik richte. Natürlich fiel es den Chassidim nicht ein, den Jargon etwa zu pflegen, sich um eine Grammatik oder Rechtschreibung zu kümmern, oder für einen regelrechten Unterricht zu sorgen. In seiner Verwilderung und Verkommenheit war er ihnen lieb und teuer: solange das Volk nur Jargon verstand, war es vor jedem Lufthauch von außen geschützt.

Aber es fanden sich andererseits Männer, die nicht warten wollten, bis das Volk insgesamt eine richtige Sprache erlernt haben würde, und sie sagten sich, dass man sich des Jargons sehr wohl bedienen mag, um auf die Massen erzieherisch zu wirken. Und trotz der aufklärerischen Phraseologie konnten die hohen künstlerischen Qualitäten einer Volkssprache mit ihren urwüchsigen Wendungen und kraftvollen Ausdrucksweisen, mit ihren reichen Schätzen an Volkshumor und Volksweisheit künstlerisch veranlagten Geistern nicht entgehen. Das Volksleben der jüdischen Massen mit seinen Kämpfen, seinen tragischen und heiteren Momenten, drängte zur Darstellung, und das natürliche Instrument hierfür war die jüdische Sprache. So entstand vor etwa hundert Jahren die jüdische Literatur im modernen Sinne. Die letzten etwa fünf Jahrzehnte haben eine Reihe ganz bedeutender Literaturwerke, Gedichte, Romane, Dramen, Novellen, Memoirenbücher hervorgebracht, von denen manche in künstlerischer oder in kulturhistorischer Beziehung einen sehr hohen Rang einnehmen. Die Sprache gewann unter der Hand einzelner dieser Schriftsteller Geschmeidigkeit, Glanz und Ausdrucksfähigkeit. Weniger gelungen sind die Versuche, wissenschaftliche Themen zu popularisieren. Da es unter den Juden fast keine des Lesens ganz unkundige Person gibt, so konnte die Volkssprache ein ungewöhnlich mächtiger Hebel in der Erziehung der Massen werden. Aber es gab keine führende Klasse, die sich dieser Aufgabe unterzogen hätte. Es entstand ein Zeitungswesen von Tages- und Wochenblättern mit einer unerhört hohen Auflage, aber dieses befand sich in Händen von Privatleuten, die sich bei ihren Unternehmungen nicht in erster Reihe von idealen Interessen leiten ließen, dem Geschmack und den Augenblicksneigungen der Masse mehr als nötig schmeichelten.

Der neue jüdische Nationalismus bemächtigte sich ebenfalls des Jargons. Besonders unter den „Jüdischnationalen" in Deutschland und Westösterreich zählt er viele Anhänger. Ist man eine Nation, so muss man unbedingt eine Nationalsprache dazu haben; das Hebräische zu erlernen kostet Mühe, mit dem Jargon kommt man auf billige und bequeme Weise zu einer Nationalsprache. Man vermeint, es sei nur nötig, die deutschen Wörter zu verzerren und die Satzfolge zu verdrehen, und man spreche schon ,,Jiddisch".

Andererseits hat seit einigen Jahren in Litauen (und in Amerika) eine Bewegung eingesetzt, das Jüdische zu einer richtigen Kultursprache auszubilden. Das Resultat waren zunächst einige vorzügliche linguistische, phonetologische und kulturhistorische Arbeiten. Sprachtechnisch gehen die Bemühungen dahin, das Jüdische von allen neuhochdeutschen Elementen zu reinigen, um ihm den Charakter eines Dialekts zu nehmen und den einer selbständigen Sprache zu verleihen, die mit dem Deutschen nicht mehr Verwandtschaft haben soll, als etwa das Holländische. Der mit Hochdeutsch durchsetzte Stil wird spöttisch „Daitschmerisch" genannt; unter diesem Schlagwort sind mehrere Abhandlungen erschienen, die mit Ernst und mit Ironie gegen eine derartige — Verunstaltung der Volkssprache ankämpfen und die „fremden Elemente" durch echtjüdische zu ersetzen anregen. (Ein ähnliches Streben macht sich im Vlamischen geltend.) Aber wenn man aus alten Schriften und der noch im Munde der alten Leute fortlebenden Sprache alle angeblich „genuin-jüdischen", in Wirklichkeit mittelhochdeutschen Elemente zusammensucht und durch sie die eingedrungenen neuhochdeutschen Formen und Wendungen ersetzt, so wird das Jüdische dadurch nur mittelhochdeutscher, aber keineswegs jüdischer. Es wird freilich den jetzigen Deutschen noch unverständlicher als es ohnehin schon ist, aber ebenso auch den jetzigen Juden. Will man im Jüdischen einen streng wissenschaftlichen oder philosophischen Gedanken ausdrücken, so verfällt man unwillkürlich ins Neuhochdeutsche. In Litauen und anderswo, wo die russische Sprache und das russische Schulwesen den Juden feindlich gegenüberstanden, hat man versucht, Jargon-Volksschulen mit Jargon-Elementarbüchern zu gründen. So rührend und gutgemeint diese Versuche sind, so sind sie, nach meiner festen Überzeugung, ebenso hoffnungslos wie die Bestrebungen des Félibrige, der sich seit mehr als 60 Jahren bemüht, das Provençalische zu beleben. (In Amerika haben radikale Arbeiterkreise den Vorschlag gemacht, jüdische Schulen zu gründen, in denen der Jargon Vortragssprache ist, in denen aber weder die Bibel noch die jüdische Religion gelehrt werden darf, um aller Welt zu demonstrieren, dass wir eine „Nation" sind, die mit Konfessionalität nichts zu tun hat. Es braucht nicht gesagt zu werden, dass alle diese Versuche totgeborene Kinder sind.)

Man muss nämlich wissen, dass alle diese Bemühungen dem Idealismus und der Romantik von Intellektuellen entspringen, im Volke aber nicht wurzeln. Es ist eine unbestreitbare Tatsache, dass die Angehörigen aller europäischen Völker, auch des deutschen, z. B. in Amerika, ihre Muttersprache so rasch aufgeben, dass schon die zweite Generation meist nur noch Englisch spricht. Würde die Einwanderung aus Europa aufhören, im Verlaufe eines Menschenalters würden alle nichtenglischen Sprachen in Amerika verstummen.

Das jüdische Volk, dessen Kampf ums Dasein ungleich schwerer und härter ist als der der Nichtjuden, ist noch mehr als diese gezwungen, sich durch die Sprache Bildung und Weltkenntnis und ein Verständigungsmittel anzueignen, um im realen Leben sich durchzuschlagen. Dazu ist das Jüdische so wenig tauglich, wie nur denkbar. Die jüdische Masse fühlt sehr wohl, dass sie nicht warten kann, bis die „Jiddischisten" im Jargon so viel Bildungsstoff angehäuft haben, dass er mit den Landessprachen konkurrieren könnte. Gewiss hegen die Juden eine große Zärtlichkeit für ihre Alltagssprache, aber ihre ganze Herzenswärme und Opferfreudigkeit gehört, wie vor dritthalb Tausend Jahren, jenem geistigen Gebilde, welches sie als das höchste schätzen, in dem sie den einzigartigen Ausdruck ihres Volkstums erblicken — ihrer Religion. Auch das Hebräische ist den Juden nur als Träger und Bewahrer der religiösen Urkunden teuer, die das einzig Unvergleichliche und Unersetzliche in dieser Sprache sind. Sollte einmal die jüdische Religion einem Teil der Juden völlig gleichgültig werden, so wird für diesen Teil sofort auch die hebräische Sprache jeden Wert verlieren. Die schönsten Gedichte, von Jehuda Halevi bis Bialik, werden ihr nichts nützen. Nun ist die jüdische Geschichte bis auf den heutigen Tag voll der Zeugnisse, dass die Juden die schwersten Opfer, Tod, Martyrium, Vertreibung, Entrechtung auf sich nahmen, um nur ihre Religion sich zu erhalten. Aber wer wird es wagen, zu behaupten, dass Juden den Scheiterhaufen besteigen oder zum Wanderstab greifen würden, wenn sie nicht die Möglichkeit hätten, im Jargon vor Gericht zu plädieren oder Parlamentsreden zu halten? Zugleich mit den Juden sind bekanntlich christliche Deutsche in großer Anzahl nach Polen eingewandert, aber diese gingen schon in der nächsten Generation sprachlich in der polnischen Urbevölkerung auf. Wenn die Juden ihr Jüdisch bis auf den heutigen Tag beibehielten, so kommt das daher; dass ihre Religion sie zu einer besonderen Gemeinschaft zusammenhielt. (So bewahren in irischer katholischer Umgebung in Australien und Amerika die eingewanderten deutschen Protestanten ihre Sprache, während die Katholiken sie in der nächsten Generation aufgeben.) Die Religion hat also hier die Sondersprache konserviert. Das Umgekehrte wäre eine absurde Vorstellung. (Und sobald das Bewusstsein von der religiösen Gleichgültigkeit der Umgangssprache durchdringt, hört die schützende Wirkung der Religion auf.)

Es hat eine Zeit gegeben, und sie liegt gar nicht so weit zurück, da unter dem einfachen erwerbstätigen Volke in Galizien ein förmlicher Hass gegen den Jargon herrschte. Das war eine Reaktion gegen die Tyrannei des Chassidismus, der es als eine Todsünde gegen die Religion betrachtete, wenn ein Jude zwei korrekte Sätze in einer weltlichen Sprache reden oder gar lesen konnte. Zwei oder drei Generationen waren rat- und hilflos herangewachsen, unfähig, sich in der unmittelbaren Umgebung zurechtzufinden, ohne Kenntnis der nächstliegenden Vorgänge, ein Gespötte, wenn sie vor einer Behörde oder im Verkehr mit der wirtschaftlich maßgebenden, besitzenden und herrschenden Bevölkerung den Mund öffnen wollten. Solange das Leben primitiv war und das Land noch vorwiegend zentralistisch regiert wurde, konnte man sich leidlich mit dem Jüdisch, als „gebrochenem Deutsch", forthelfen. Je mehr aber das wirtschaftliche Leben kompliziert wurde, je mehr die Staatsverwaltung demokratisiert und dezentralisiert, und je größer und mannigfacher der Gebrauch wurde, den der Jude von seinen Bürgerrechten zu machen gezwungen war, wenn er sich im Kampfe ums Dasein erhalten wollte, je inniger und vielfältiger die Berührungen wurden, in die der Mann aus dem Volke mit den lokalen und regionalen autonomen Behörden und mit seinen nichtjüdischen Nachbarn kam, desto hilfloser stand er ohne Kenntnis des Polnischen da. Daraus erwuchs ein förmlicher Groll gegen das ganze Erziehungssystem der vorangegangenen Zeit und im besonderen gegen den Jargon, die einzige Sprache, die es ins Leben mitgab. Noch jetzt kann man bemerken, dass, namentlich in den größeren Städten, die arbeitende und erwerbstätige Bevölkerung, Arbeiter, Handwerker, Kaufleute, mit einer gewissen Heftigkeit sich auf die Erlernung des Polnischen werfen und den Jargon aus ihren Familien verbannen. Sie fühlen sehr wohl, dass er ihnen an Bildungs- und Kampfmitteln für das wirkliche Dasein äußerst wenig gibt. Und von lyrischen Gedichten. Romanen und Novellen kann der Mann aus dem Volke nicht leben. Anhänger und Vorkämpfer des Jargons finden sich nur in den Reihen der Intellektuellen, die dem unmittelbaren Lebenskampf entrückt sind und sich den Luxus einer kostspieligen Ideologie leisten können. Und auch unter diesen Anhängern habe ich fast regelmäßig folgende Erscheinung bemerkt: In Studentenversammlungen wird das Jiddische als „Nationalsprache" der Juden feurig verteidigt, es werden mit aller Unerbittlichkeit Jargonvolksschulen gefordert „für unser Volk". Aber die Debatten werden in polnischer Sprache geführt. Tritt nun einer auf, der in jüdischer Sprache die Unnahbarkeit und Unzweckmäßigkeit einer solchen Forderung nachweisen will, so ertönen von allen Seiten Rufe: „Sprechen Sie doch Polnisch! Wir verstehen ja kein Wort!"

Einer der jungen Leute in Berlin, die jetzt das Schicksal der polnischen Juden in die Hand genommen haben, schrieb vor kurzem triumphierend: „Das jüdische Volk in Polen hat gar kein Verhältnis zur polnischen Sprache." Er gab sich wohl der Hoffnung hin, dass dies immer so bleiben werde. Zufällig ist das in diesem übertriebenen Sinne längst nicht mehr wahr, und wenn es wahr wäre, würde es bloß von einer ausnämlichen Lebensunfähigkeit und geistigen Stumpfheit der polnischen Juden zeugen. Denn nie und nirgends in der Welt war es der Fall, dass die Juden zu der Sprache ihres Landes dauernd kein Verhältnis gehabt hätten. Wie aber bedeutende und verantwortliche Männer über die Sache dachten, bezeugt z. B. der wiederholte Ausspruch des im Jahre 1813 verstorbenen Rabbi Senior Salmon („der Rav"), eines der bedeutendsten Schöpfer und Führer der strengsten Orthodoxie, dass alle Leiden, die über die Juden in Polen kamen, auf den Umstand zurückzuführen seien, dass die Juden des Polnischen nicht mächtig waren und kein Verständnis mit der Landesbevölkerung herbeiführen konnten.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Die polnische Judenfrage