Siebzehnte Fortsetzung

Kein Mensch vermag heute zu sagen, wie sich die politischen Verhältnisse in Polen gestalten werden, eins aber scheint sicher: Wir polnischen Juden werden dabei kein Wörtchen mitzureden haben, für uns haben ja schon die Herren Kaplun-Kogan aus Sukinsynow oder auch aus Sobakowka, und Nachum Goldmann aus Knipischok, oder auch aus Eischischok, gesprochen. Und Marschall Friedemann hat bereits kategorisch erklärt, dass er auf dem Friedenskongress nur mit der russischen und der deutschen, zur Not vielleicht auch mit der österreichisch-ungarischen Regierung verhandeln werde, sonst aber keinerlei Interessenten anzuerkennen gesonnen sei. Indessen ist es nicht ganz unwahrscheinlich, dass gerade von der deutschen und der österreichisch-ungarischen Regierung außer den genannten Herren auch die Polen um ihre Meinung bei der Ordnung der Dinge in ihrem Lande gefragt werden. Man wird nicht fehlgehen, wenn man annimmt, dass die Polen etwa folgendermaßen antworten werden:

„Was wir für uns fordern, ist nichts anderes als völkische Gleichberechtigung, nämlich Gleichberechtigung mit allen anderen Völkern Europas (wohin ja Russland nicht gehört). Wir gewähren den Juden ganz dasselbe, was alle anderen Völker Europas, nämlich uneingeschränkte, völlige bürgerliche Gleichberechtigung, und ebenso verlangen wir von den Juden, gleichwie dies in allen anderen Ländern Europas geschieht, dass sie sich staatsbürgerlich und vaterländisch völlig mit uns solidarisch fühlen. Es fällt uns nicht ein, irgendeine Eigenart der Juden anzutasten oder gar auszutilgen. Solches haben wir nie versucht. Polen war das einzige Land der Welt, wo die Juden in großen Massen sich ansammeln konnten, das einzige Land, das ihnen, so lange die staatliche Entwicklung Europas eine ständische Gliederung überhaupt zuließ, eine weitgehende, vom Staate geschützte ständische Autonomie gewährte. Alles, was außerhalb des rein Konfessionellen den Juden an Kulturgütern eignet, gedieh nirgends in der Welt so, wie in Polen. Mustert man die großen hebräischen Büchersammlungen der europäischen Bibliotheken, so findet man, dass unter je zehn Büchern ungefähr acht in polnischen Städten gedruckt sind. Das rabbinische Zivilrecht hat in Polen, wie sonst nirgends, eine merkwürdige Fortbildung und Entwicklung erlebt. Die moderne hebräische Poesie und Literatur existiert heute nur noch in den polnischen Landen. Will man alte jüdische Familien finden, die ihren Stammbaum jahrhundertlang zurückführen können, will man alte jüdische Synagogen sehen, die der Edelrost der Jahrhunderte bedeckt, so muss man nach Polen gehen. Die jüdische Volkspoesie in allen Gattungen hat sich nur hier erhalten, während sie überall sonst schnell abgestorben ist. In Polen erstanden die jüdischen Künstler, die, von polnischen Kunstkennern und -freunden geschützt und gefördert, in die bildende Kunst eine ausgesprochen jüdische Note hineinbrachten. Keine europäische Literatur besitzt auch nur annähernd eine solche Fülle lebenswahrer, mit tiefster Sympathie gezeichneter Judengestalten, wie die polnische; das gleiche gilt von der polnischen Malerei. In dem Teil Polens, wo das polnische Leben sich frei entfalten durfte, in Galizien, haben die Juden im autonomen Gemeinde wesen die höchsten Stufen erreicht. Im liberalen Wien musste ein bereits gewählter Vizebürgermeister abdanken, als festgestellt wurde, dass seine — Frau von Juden stammte. In Lemberg und Krakau sitzen seit Jahrzehnten Juden im Präsidium des Gemeinderates, die meisten unter den größten und bestverwaltetsten Städten des Landes haben jüdische Bürgermeister, und kein Pole hat sich je dagegen aufgelehnt. Die Juden sind bei uns viel ärmer als anderswo? Leider ist unser Land selber viel ärmer, als alle anderen Länder Europas, trotz seiner natürlichen Reichtümer; darauf hat eine Menge historischer und ökonomischer Ursachen eingewirkt, deren Folgen zu beseitigen wir allesamt angestrengt arbeiten, und weiterhin im engsten Anschluss an Deutschland und Österreich-Ungarn arbeiten wollen, bei dieser Arbeit waren uns unsere jüdischen Mitbürger immer willkommen, und niemand von uns bestritt ihnen je die Früchte dieser Arbeit. Es gibt Antisemitismus bei uns? Sollte es wirklich sonst nirgends in der Welt Antisemitismus gegeben haben? Vor zwei oder drei Jahren gab es in einer Gegend unseres Landes eine Zeitlang einen Boykott gegen die Juden? Es hat solches in anderen Ländern in viel schärferer Form gegeben, und hat viel länger angedauert, aber wir haben nie gehört, dass die hiervon betroffenen Juden aufgehetzt worden wären, ihren eigenen Landsleuten ewige Rache zu schwören, und sich mit dem Ausland zu verbinden, um das eigene Vaterland zu bekämpfen. Schließlich wurden seitens ausländischer Judenfreunde gegen uns blutige Klagen erhoben, dass in zahlreichen Fällen unsaubere Elemente aus unserer Mitte — vornehm Denkende können es ja nicht gewesen sein! — die Juden bei den Russen des Landesverrates verleumdet haben, sowie ob der Pogrome, die auf unserem Boden in den letzten paar Monaten, seit die großen Massen russischer Soldaten sich dort angesammelt, stattgefunden haben, und an denen der Abschaum unserer Gesellschaft teilgenommen haben soll. Gesetzt, die Behauptungen wären in dem Umfange wahr, in dem sie es nicht sind. Was hätten aufrichtige Freunde der polnischen Juden, die es gut und ehrlich mit ihnen meinten, dem gegenüber zu tun gehabt? Sie hätten sich sagen müssen: Achthundert oder tausend Jahre lebten zahlreiche Massen von Juden wie in keinem anderen Lande mit den Polen zusammen und kamen mit ihnen besser aus, als sonst in der Welt. Wenigstens hat es in Polen keine systematischen, jahrzehntelang andauernden Metzeleien, keine systematischen jahrhundertlang immer wieder einsetzenden Austreibungen der Juden, keine wohldurchdachte, auf ihre Ausrottung hinzielende und ihre natürliche Vermehrung hindernde Gesetzgebung gegeben. Seit Jahrzehnten scheute die russische Regierung keine Anstrengung, ihre Pogrompraxis auch nach Polen herüberzupflanzen, aber das gelang ihr erst mitten im Kriegsgetümmel, mit Hilfe der Flut ihrer verwilderten Soldateska, nachdem sie zehn Jahre lang mittels einer ihr ergebenen Partei alle nationalistischen Leidenschaften aufgewühlt hatte. Die Polen scheinen also doch nicht die Unmenschen zu sein, als welche die russische Telegraphenagentur sie hinstellen möchte. Was jetzt auf polnischem Boden geschah, muss ein Ausfluss arger Missverständnisse, gegenseitiger Verbitterung, Aufhetzung und Verwirrung sein. Wir Ausländer — so hätten die Judenfreunde im Auslande sich sagen müssen — können ja viel mehr kaltes Blut, objektives, gerechtes Urteil bewahren, als die hadernden Parteien. Wohlan ! Wir wollen ihren Streit genau untersuchen wir wollen zu ihnen reden, und sie zur Besinnung ermahnen, Frieden und Versöhnung zwischen ihnen stiften. Gewiss hätte eine ruhige, überlegene und wohlwollende Stimme aus dem Ausland viel zur Milderung der Gegensätze beigetragen, zunächst aber die russische Regierung veranlassen können, der unablässigen Verhetzung durch ihre Organe Halt zu gebieten, und der Warschauer Presse zu erlauben, auch Artikel zur Verteidigung der Juden und zur Beschwichtigung der aufgehetzten Bevölkerung zu bringen. Was geschah aber in Wirklichkeit? Dem russischen Telegraphen und seinen Kopenhagener Agenten wurde unbedingter Glauben geschenkt, eine entehrende Verleumdung gegen die ganze polnische Nation geschmiedet, alle zionistischen Zeitungen stellten den Juden die Polen als ihre schlimmsten, ja, als ihre einzigen Feinde hin. Der Kampf sollte fortab nicht dem russischen Barbaren, sondern den Polen gelten. Durch die ganze Welt hallte die Parole: „Zwischen Juden und Polen kann es fortab kein Zusammenleben mehr geben." Nun, wer auf unserem Boden mit uns nicht mehr zusammenleben zu können überzeugt ist, dem bleibt nichts übrig, als den Staub dieses unseres Bodens von seinen Sohlen zu schütteln. Haben die Herren Zionisten ihren Zukunftsstaat in Palästina auch schon aufgebaut und wohnlich hergerichtet, so dass die paar Millionen polnischer Juden dorthin in den nächsten Tagen übersiedeln könnten? Uns deucht's, dass sie ihnen werden erlauben müssen, noch ein paar Jährchen bei uns auszuhalten. Nun denn, wir wollen dafür sorgen, dass fortab auswärtige Schreibjünglinge nicht ihnen und uns das Leben verderben. Um die eschatologischen Hoffnungen der Juden haben wir uns nie gekümmert, und was für Pläne die aus unserem Lande Auswandernden zu verwirklichen streben, ob sie einen Staat in Palästina oder in Uganda oder in Mesopotamien gründen wollen, das bleibt ausschließlich ihre Sache. Aber die Juden, die in unserm Land bleiben, wirken schon durch das Schwergewicht ihrer Zahl auf das Leben und die Schicksale unserer Gesamtbevölkerung mitbestimmend ein; diese Juden gehen uns sehr an. Wir werden nicht zulassen, dass sie wie ewige Ausländer unter uns umgehen, noch dazu als Ausländer, die auch im Ausland nirgends eine Heimat haben, sondern wir werden darauf hinarbeiten, dass sie sich dem Gesamtorganismus der Landesbevölkerung organisch einfügen und nicht wie ein lebendiger Fremdkörper unter uns dastehen, eine Beute für jeden hergelaufenen Agitator, und von ihren nichtjüdischen Landsleuten als die Vortruppen ausländischer Eroberer angesehen. Ob die Juden sich untereinander als Religionsgemeinschaft, als Nationalität, als Stamm, oder als Volk ansehen, haben sie mit sich selbst auszumachen, aber als Staatsbürger und Landesangehörige müssen sie völlig solidarisch sein mit der ganzen Nation, mit ihren Interessen, ihrer Arbeit und ihren Zielen vereint. Hat nicht vor dritthalb Jahrtausenden der jüdische Prophet im Namen Gottes die Gefangenen in Babel ermahnt: „Erstrebet das Wohl des Landes, wohin ich euch verbannt habe, denn des Landes Wohl ist euer Wohl?". Und doch war Babel der Erbfeind der Israeliten, sein König hatte ihr Land verwüstet, ihren Tempel verbrannt, ihr Reich zerstört, ihre Priester, Könige und Prinzen hingemordet und geblendet. Und derselbe Prophet weissagte seinem Volk, dass es binnen kurzem aus Babel in die Heimat geführt werden würde. Sollte das Land, in dem sie seit tausend Jahren leben, und das sie doch nicht von heute auf morgen zu verlassen gedenken, unseren Juden nicht so viel wert sein, wie Babel einst ihren Vorfahren? Wir Polen kennen unsere Juden besser, als ihre ungebetenen Retter von draußen. Gewissenlose Hetzer mögen hüben und drüben Hass und Misstrauen säen, so viel sie wollen; häuslicher Streit zwischen den verschiedenen Bewohnern unseres Landes mag bisweilen, zumal während außerordentlicher Krisen, noch so scharfe Formen annehmen, aber wir wissen, dass es im tiefsten Innern den Juden in polnischen Landen nicht im Traume einfällt, sich auf ewig als fremde Gäste bei uns zu etablieren, die in unüberbrückbarem Gegensatz zur heimischen Bevölkerung stehen und unaufhörlich nach dem Auslande schielen, um mit dessen Hilfe sich hier ein provisorisches Dasein zu ermöglichen, und alsbald die Zelte abzubrechen, und weiter zu ziehen. Würden die Juden bei uns ein geschlossenes Gebiet bewohnen, so möchte ihnen unsertwegen die sogenannte „nationale Autonomie" gewährt werden, und sie müssten dann zusehen, was sie mit diesem Geschenk anfangen könnten. Aber sie sind über das ganze Land verstreut, und darum ist diese Forderung eine alberne, kindische Utopie. Uns Polen fällt es nicht ein, unser Land zu einem Experimentiergegenstand herzugeben, um daran die von weltfremden Literaten in ihrer Schreibstube ersonnenen Theorien ausprobieren zu lassen. Solche Forderungen werden merkwürdigerweise auch gar nicht von polnischen Juden, die im Lande wurzeln, erhoben, sondern von solchen, die erst vor kurzem aus Russland eingewandert sind, den moskowitischen Polenhass mitgebracht haben und ihm hier unter fremdem Schutz ungestraft frönen zu dürfen vermeinen, oder aber ihre werte Person im Ausland in Sicherheit gebracht haben, und sich in der Rolle von Beschützern ihrer Brüder vor den polnischen Menschenfressern gefallen. Was für Sprachen die Juden innerhalb ihrer Gemeinschaft zu pflegen wünschen, ob das Hebräische oder das Jüdische, und in welchem Ausmaß dies zu geschehen habe, das mögen sie ebenfalls unter sich ausmachen. Wir Polen haben daran höchstens ein rein theoretisches, kulturpsychologisches Interesse. Aber wer im polnischen Lande lebt und Bürgerrechte genießt, muss Polnisch können. Wir werden nicht zugeben, dass einige Millionen unserer Mitbürger wie stumme Fremdlinge unter uns leben. Ohne eine allgemeine Kenntnis der Landessprache ist nicht einmal eine primitive Verwaltung möglich, geschweige ein höheres politisches und Kulturleben, eine Zusammenfassung aller Kräfte zu einer großen, gemeinsamen Anstrengung. Und da die Juden unter uns unsere Sprache können müssen, so sollen sie sie auch gründlich können, gut und schön handhaben, wie es sich für Kulturmenschen geziemt einer Kultursprache gegenüber, nicht aber stammelnd, stotternd und radebrechend. Sie dürfen nicht als Verderber und Verhunzer unserer schönen Sprache dastehen, ihnen zur Beschämung und zum Schaden, uns zum Ärgernis und zum Spott, wie dies lange genug der Fall war. Wohl kein Volk der Welt ist weniger darauf aus, die Eigenart der Juden zu zerstören, als wir Polen. Im Gegenteil: für uns ist nichts erwünschter, als dass die Juden ihre Erbtugenden und alles Echte ihres inneren Wesens pflegen und beibehalten; denn nur so bilden sie eine wohltuende und heilsame Ergänzung zu unserem eigenen nationalen Wesen. Aber die Eigenart der Juden darf nur zum Segen und zum Heil der Völker der Welt in die Erscheinung treten. Wir lesen in der Bibel der Juden unzählige Male in verschiedenen Varianten: „Ihr sollt zum Segen werden allen Völkerfamilien der Erde!“ Wir wissen auch, dass das Judentum seinen Bekennern es als eine der heiligsten Pflichten einprägt, Frieden unter den Menschen, besonders zwischen Volk und Volk zu stiften. Dass es aber Sache der Juden sei, Hader und Zwietracht in der Welt zu säen, besonders aber den kleinen und unglücklichen Völkern, unter denen sie leben, Verderben und Fluch zu bringen, als zersetzendes und zerstörendes Element unter ihnen zu wirken, das ist eine ganz neue Lehre, auf die wir, als die Juden bei uns Zuflucht fanden, nicht eingerichtet waren. Wir zweifeln auch, ob die Herren von draußen, die unseren Juden diese allerneueste Lehre predigen. Freunde der Juden sind und ihre moralischen und bürgerlichen Interessen fördern. Wir werden sie und ihre Ideen jedenfalls von uns fern zu halten wissen."


Also könnten, meine ich, die Polen sprechen. Nun haben die Polen manche Eigenschaften mit uns Juden gemeinsam, u. a. sind sie ebenfalls ein „am keschêh oreph" (ein Volk mit hartem Nacken). Ich fürchte, sie werden sich vor dem Machtwort Kaplun-Kogans, Nachum Goldmanns und des Marschalls Friedemann nicht so geschwind beugen. Sie wären kapabel, sogar ernsten Widerstand zu leisten. Dann bliebe dem Rettungs- und Befreiungskomitee zu Berlin nur übrig, den Polen, sobald der europäische Friede geschlossen ist, den Krieg zu erklären. Dann macht wohl das Bureau in der Behrenstraße mobil. Herr Justizrat Bodenheimer setzt sich aufs Pferd, am besten auf sein eigenes, Exzellenz Trietsch bringt seine Flotte in Bewegung, Kaplun-Kogan und Nachum Goldmann blasen die Trompeten. Herr Dr. Oppenheimer aber erhält eine hohe Mission. Von ihm geht die Sage, dass er, in demselben Eisenbahnzuge, der den Fürsten Bülow nach Italien brachte, im hintersten Wagen eine Strecke lang mitfahren durfte. Die hohe Diplomatie unterhält also, von hinten gesehen, intime Beziehungen zu ihm. (Ein unverbürgtes Gerücht will wissen, dass er einmal bei Hindenburg hätte speisen sollen.) Er wird sich also zum Kriegsminister des Äußeren wie kein zweiter eignen. Leichen wird es in diesem Kriege geben, um ganze Felder zu bedecken. Assessor Friedemann avanciert sogleich zum Leichenfeldmarschall. Das kann ein lustiger Krieg werden. Nur fürchte ich, wir polnischen Juden werden die Kosten zu bezahlen haben.

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Nun erzählt man uns seit mehr als einem Jahr tagaus, tagein, wir ,,Ostjuden“ hätten die Mission, „die Interessen des deutschen Volkes'' zu wahren, oder auf der Wacht der „deutschen Interessen im Osten" zu stehen und sie vor Schädigung zu behüten. Unsere Herren von Wien haben „ihre" Juden, nämlich die galizischen, sehr gebieterisch dazu aufgefordert, richtiger: über uns in diesem Sinne bereits verfügt. Auch unser neuester Vormund, ein Herr Dr. Hirsch aus Köln, hat uns bereits dafür engagiert. Er hat sechs volle Monate in Polen zugebracht und in den dortigen Juden den Beruf hierzu entdeckt. Und erst vor kurzem versandte das „Bureau Dr. Oppenheimer" an die gesamte Presse einen Artikel des Gouverneurs a. D. von Puttkamer, in welchem dargelegt wurde, dass die Ostjuden die Mission hätten, in den slawischen Ländern die „germanische Idee" zu vertreten. Herr von Puttkamer hat sich im Holzhandel Polens umgesehen und unter den diesen Holzhandel betreibenden polnischen Juden prachtvolle Kerle, „wahre Makkabäer-Gestalten", angetroffen, die gefielen ihm gar sehr, und er hat sie sich zu Vertretern der „germanischen Idee" auserkoren. Zu ergründen, was die „germanische Idee" sei, erkühnen wir uns nicht einmal im Traume, aber wenn man „deutsche Interessen" sagt, klingt das schon viel konkreter, irdischer. Nun zerbrechen wir uns seit einem Jahre die Köpfe, zu enträtseln, was das für „deutsche Interessen" seien, die wir, ausgerechnet wir polnischen Juden, zu vertreten, zu beschirmen, zu verteidigen hätten. Man sollte meinen, dass die Sache uns doch auch ein wenig angehe, und wenn wir Interessen zu verteidigen hätten, wir auch erfahren müssten, was der Inhalt und das Wesen dieser Interessen wären. So weit versteigt sich natürlich unser Hochmut nicht, dass wir verlangen könnten, auch befragt zu werden, ob wir solche Vertretung auf uns zu nehmen gewillt wären. Oh, wir kennen unseren Rang. Wir sind ja nur polnische Juden. Aber wissen möchten wir wenigstens, was das für Dinger seien, deren Vertretung uns anvertraut wird und die wir zu verteidigen haben werden. Warum spricht man mit pythischen Worten darüber und sagt uns nicht ganz klar und unzweideutig: „Zum Donnerwetter, hier sind die Interessen, die ihr zu verteidigen und zu vertreten habt! Aufgepasst! Wenn ihr euch weigert, werdet ihr was erleben!" Ohne uns anzumaßen, so klug sein zu wollen, wie die Herren, die für uns denken und beschließen, wagen wir, auch zu wissen, was das Interesse des Deutschen Reiches und der mit ihm verbündeten Donaumonarchie ist. Es gehört nicht einmal viel Scharfsinn, es zu erraten. Der Kanzler des Deutschen Reiches hat es im preußischen Landtag und im deutschen Reichstag, Österreich-Ungarns Minister des Äußern und andere verantwortliche Staatsmänner, der ungarische Ministerpräsident hat es im ungarischen Parlament oft und nachdrücklich genug gesagt. Es ist: dass alle kleineren und kleinen Völker Mitteleuropas sich unter der Führung der Zentralmächte zu einem Staatenbund vereinen, der, vor der Ländergier des russischen Imperialismus geschützt, wirtschaftlich und politisch ein ruhiges Gedeihen der europäischen Kultur gewährleistet. Unter welchen staatsrechtlichen Formen das geschehen soll, darüber haben wir nicht zu entscheiden, aber wir zweifeln auch, ob man unsere Versorger nach ihrer Meinung darüber befragen werde. Dass eine solche Kombination für die Ostjuden ein großes Glück wäre, unterliegt keinem Zweifel. Ebensowenig, dass innerhalb einer solchen Kombination ihnen, insbesondere den polnischen Juden, wichtige Aufgaben zufallen würden. Ebenso ist es klar, dass eine solche Staatenkombination nur gedeihen kann, wenn unter den ihr angehörenden Völkern kein tödlicher Rassenhass, keine unüberbrückbaren Gegensätze, keine
Unterdrückung herrschen, sondern, soweit dies unter Menschen überhaupt möglich ist, Friede, Eintracht, gegenseitiges Verstehen, Hochachtung und Duldung. Uns polnischen Juden insbesondere liegt unendlich viel daran, dass zwischen Deutschen und Polen eine ernste Aussöhnung, ein dauernder Friede platzgreift: niemand litt unter dem Hader dieser beiden Nationen so schwer wie wir. Wo in aller Welt mögen nun diese geheimnisvollen „deutschen Interessen" stecken, die wir polnischen Juden allein zu vertreten, zu schützen, zu verteidigen hätten? Und wem gegenüber zu verteidigen, zu vertreten und zu schützen? Offenbar doch nur gegen die Polen, im feindlichen Gegensatz zu ihnen, Gewehr bei Fuß, die Kampffront ihnen zugewendet, im ewigen Krieg mit ihnen! Sagt mir doch endlich, was sind das für deutsche Interessen?

,,Theku!" ruft der Talmud, wenn er vor einer unlösbaren Schwierigkeit steht, an der alle Anstrengungen des Geistes gescheitert sind.

Wenn wir näher überlegen, will es uns scheinen, dass alle diese Interessen ein Märchen, eine Chimäre sind, ein Hirngespinnst, welches in den Köpfen müßiger Literaten, enttäuschter Streber und abgedankter Staatsgrößen herumspukt. Weiter nichts.

Möglich ist es allerdings, dass irgendeine Klique, eine Sippe oder eine Klasse, die sich für den Staat und die Nation hält, solche Sonderinteressen hat. Wenn das zutreffen sollte, dann möchte ich aber alle jene, die an solchen Interessen ein Interesse haben, sehr dringend davor warnen, die Obhut dieser Interessen den Makkabäern im polnischen Holzhandel anzuvertrauen. Es wäre viel ratsamer, zu diesem Zwecke die Herren aus der Behrenstraße, die Redakteurlein der zionistischen und verwandten Blättchen auszurüsten und nach Polen hinzudelegieren. Oh, es wird sich eine stattliche Zahl von Makkabäern, fast ein volles Dutzend, ansammeln. Die Kaplun-Kogan und Nachum Goldmann ja nicht zu vergessen! An die Spitze der Schar könnte der Herr Gouverneur von Puttkamer sich stellen. Zu diesem Behufe würde es sich empfehlen, dass er zum Judentum übertrete. Ein Siegfried, der die Makkabäer zum Kampfe für die germanische Idee gegen die Polen in die Schlacht führt — was wäre das für ein monumentales historisches Bild! Wer die Möglichkeit hat, es zu verwirklichen, sollte sich die Gelegenheit nicht entgehen lassen.

Hütet euch aber hierin vor den polnischen Juden, denn ihr könntet eine gewaltige Enttäuschung erleben! Ich darf es sagen. Es ist keine Überhebung, wenn ich versichere, dass ich sie besser kenne, als die Herren Oppenheimer und Bodenheimer, trotz ihrer strategischen und moralischen Forschungen in Kielce und Radom, sogar als der Herr Gouverneur von Puttkamer, trotz seiner Makkabäerstudien im polnischen Holzhandel. Sie werden sich entschieden weigern, die Interessen des Herrn von Puttkamer mit der Waffe in der Hand gegen ihre eigenen Landsleute zu verteidigen.

Denn ebenso wenig, wie sie wissen, was dies für Interessen sind, die sie zu vertreten haben, wissen sie auch, auf welche Weise sie das zu tun hätten. Ihr Jargon soll, behauptet man, das beste Mittel sein, die Polen von dem hohen Kulturwert und der Schönheit der deutschen Sprache zu überzeugen, ja, er soll das beste Mittel sein, die polnische Sprache zu verdrängen und die deutsche an deren Stelle zu setzen; darum sollen die Juden verpflichtet sein, sich streng davor zu hüten, das Polnische gründlich zu erlernen, und es wie eine Muttersprache zu handhaben, sondern müssen ewiglich am Jargon kleben. Von der Lächerlichkeit und Skurrilität dieser Behauptung gibt man sich offenbar keine Rechenschaft. Aber wir polnischen Juden müssen uns doch wohl sagen: Wie? Die deutsche Regierung richtet in Polen ein polnisches Schulwesen ein, auf Befehl des deutschen Kaisers ersteht die polnische Universität in Warschau zu neuem Leben. Deutschland spendet für die Stätte polnischer Kultur großartige Büchersammlungen. Jeder echte Jude, der mit seinem Seelenleben im Judentum wurzelt, mochte er welcher Nation immer angehören, musste mit einem Schauer von Ehrfurcht und tiefster Sympathie wahrnehmen, wie die Polen mitten im wilden Getöse und in der unbeschreiblichen Not des Krieges, ihre erste Sorge die Wiederaufrichtung ihres niederen und höheren Schulwesens sein ließen, — gleich wie unser Jochannan ben Zakkai zunächst die Lehrstätte von Jabneh aus dem Zusammenbruch zu retten trachtete. Und dazu haben ihnen die Deutschen verholfen. Gewiss werden das die Polen Deutschland und seinem Kaiser nie vergessen. Gewiss ist das der erste Schritt zur Versöhnung, zu der die Deutschen als die Stärkeren, Siegreichen, Glücklicheren zuerst die Hand gereicht haben. Aber wir polnischen Juden sollen, — und zwar im Interesse eben dieses Deutschlands! — mit unserem Jargon grollend beiseite stehen, an der Kulturentwicklung unseres Vaterlandes keinen Anteil nehmen, sondern sie mit eben diesem — Jargon zu hemmen und zu untergraben suchen!

Halten die Herren uns für so dumm, oder sind sie selber so dumm?
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Die polnische Judenfrage