Sechzehnte Fortsetzung

Was aber die politische Stellung der Deutschen in Russisch-Polen zu den Polen anbetrifft, so haben sie in der „Zeitschrift des Vereines für das Deutschtum im Auslande" bereits erklärt: „sie gönnen den Polen ihre Freiheit und würden sich auch in einem selbständigen Polen den Verhältnissen anzupassen verstehen, wenn ihnen nur die Erhaltung ihrer deutschen Sprache, Kultur und wirtschaftlichen Interessen verbürgt werden würde". Da, die Polen gar nicht daran denken, die deutsche Sprache, Kultur und wirtschaftlichen Interessen anzutasten, sondern im Gegenteil, in ihnen einen sehr willkommenen Bundesgenossen bei der Arbeit um die Hebung des Landes erblicken, so werden die Deutschen ihre Rechte schon allein zu wahren wissen und auf die Bundesgenossenschaft von Kaplun-Kogan und Goldmann verzichten. Die Arbeit an der Vernichtung des Polentums zugunsten des Germanentums werden die Germanen von Sukinsynow und von Eischischok allein vollbringen müssen.

Das Rettungskomitee in der Behrenstraße versandte die Artikel des Kaplun-Kogan und des Nachum Goldmann, mit der Firma des Dr. Oppenheimer versehen, an alle Zeitungen. (Dasselbe tat es mit einigen weiteren Kundgebungen derselben Art und desselben Geistes.) Alle jüdischen Blätter, mit sehr wenigen Ausnahmen, und auch ein großer Teil der allgemeinen Presse druckte, der „Autorität" des Dr. Oppenheimer vertrauend, die Artikel nach. Das verstärkte nur noch den Schein, als seien diese Meinungen und Tendenzen im Namen gewaltiger Körperschaften oder einflussreicher Persönlichkeiten der Öffentlichkeit übergeben worden. Einerseits fasste nun bei den Polen überall, sogar in Amerika, die Überzeugung immer mehr Wurzel, dass die Juden die geschworenen Feinde ihrer Nationalität seien, und, um sie zu verderben, jetzt die deutsche Regierung gegen sie aufhetzten, gleich wie sie vordem zu diesem Zweck sich mit den Russen verbanden. Der Groll wuchs und verhärtete sich immer mehr, zumal das Berliner Komitee mit seinem frevlerischen Treiben nicht aufhörte, und die amerikanische Presse in ihrer bodenlosen Dummheit und Frivolität die Sache immer mehr verschlimmerte. Andererseits glaubten die Analphabeten und Ignoranten, die jetzt in Warschau die Jargonzeitungen „redaktierten“*), dass die Deutschen anmarschiert seien, um dort die russische Unterdrückungs- und Erdrosselungspraxis den Polen gegenüber fortzuführen. Stand es ja in zwei der größten Tagesblätter Deutschlands deutlich zu lesen! Was konnten sie besseres tun als rasch umsatteln und dieselbe Polenhetze betreiben, nur jetzt sie mit bedientenhaften Verbeugungen und kriecherischen Lobhudelungen für Deutschland, anstatt wie bisher für Russland, zu verbrämen. (Eine edlere Aufgabe wäre es gewesen, die jüdische Bevölkerung vor Lebensmittelwucher und -Spekulation zu warnen, ihr den Ernst der Lage auseinanderzusetzen und sie zum Frieden und zur Versöhnung zu mahnen. Aber alle diese Sachen sind so wenig einträglich, machten so wenig populär!) Es kam so weit, dass das deutsche Gouvernement eingreifen und mittels Rundschreibens vom 28. September den Jargonzeitungen unter Androhung schwerster Strafen verbieten musste, die jüdische Bevölkerung gegen die Polen aufzuhetzen! Alle besseren Elemente empfanden dies wie eine brennende Schmach und sagten sich, dass im Hinblick auf die Vertreter unserer „öffentlichen Meinung" an uns das Wort des Jesaias in Erfüllung gegangen ist: „Zu Herren setze ich ihnen dumme Jungen, die von Charlatanen regiert werden."


*) So muss man nämlich sagen, wenn man „Jiddisch" und nicht „Daitschmerisch" reden will.

So haben die beiden jüdischen Germanen Jünglinge aus Russland das Sprichwort zur Wahrheit gemacht: „Verderben zu stiften vermag auch eine Katze." Im Grunde kann man mit ihnen, wegen ihrer Jugend, Unerfahrenheit und ihres mangelhaften Verantwortungsgefühls nicht einmal streng ins Gericht gehen. Es ist die Naseweisheit des unreifen Alters. Merkwürdig aber bleibt es, dass zwei so hervorragende und ihr Ansehen in der Welt so peinlich überwachende Blätter, wie die Frankfurter und die Vossische Zeitung, sich nicht bewusst waren, welch schwere Verantwortung sie auf sich luden, indem sie zu so aufgeregter Zeit, in einer so gefährlichen Materie, wie die polnisch-jüdische Frage, zwei unbekannten jungen Menschen das Wort erteilten, ohne sich zuvor nach ihrer Berufung und Eignung zu erkundigen. Würde es sich um Malissoren, Illyrier, Mazedonier handeln, diese Zeitungen hätten es als eine Gewissenlosigkeit betrachtet, solchen Ergüssen Raum zu geben, ohne die möglichen Folgen zu erwägen. Polnische Juden dagegen sind vogelfrei. Aber wir haben unser Schicksal redlich verdient, da wir uns so gar nicht dagegen gewehrt haben.

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Die Welt wäre unvollkommen geblieben, wenn nicht auch Herr Justizrat Bodenheimer sein Stimmchen hätte erschallen lassen. Er erließ daher eine Proklamation an die deutsche Regierung, in der er ihr kund tat, um zu wissen, wie er das Wahlrecht im Okkupationsgebiet für die Zukunft geordnet zu wissen wünscht. Ein anderes Mal entwickelte er seine Pläne über das Schulwesen und hob insbesondere hervor, dass die jüdischen Mädchen in Polen auf tiefer moralischer Stufe stehen, das komme daher, dass sie die gojischen Schulen besuchen; um die Seelen dieser armen Geschöpfe zu retten, sei es dringend notwendig, für sie Jargon-Schulen zu errichten. Über diese seine moralische Fürsorge wird mit dem Herrn Justizrat Bodenheimer noch ein besonderes Wörtchen zu reden sein. Sonst ist es unnötig, mit den Ideen dieses ehrwürdigen Greises sich auseinander zu setzen. Doch bedenke man eines: der deutschen Verwaltung in Polen zugeteilt ist Herr Georg Cleinow, Verfasser eines gründlichen Werkes über Polen, der mehrere Jahre in diesem Lande gelebt hat, einer der besten Kenner seiner sozialen, wirtschaftlichen und politischen Verhältnisse, seiner neuesten Geschichte und Literatur. Seiner Ansicht darf man wohl schon trauen. Er sagt zum Schluss des zweiten Bandes seines oben erwähnten Werkes, auf das Urteil des streng katholisch-konservativen Organs des polnischen Hochadels sich stützend, von den Juden in Polen, dass sie durch wirtschaftliche Tüchtigkeit und diplomatisches Geschick eine Dankesschuld an die Polen abgetragen haben für deren Gastfreundschaft vor Jahrhunderten: sie bewahrten den polnischen Adel und das ganze Land vor dem völligen Ruin. Und nun kommt ein kleiner Advokat aus Köln, ein Mann mit höchst bescheidenen Geistesgaben, und entwirft ein allseitiges Programm, wie man diese Juden zu regieren und zu erziehen habe! Er hat diese Juden nicht um ihre Meinung oder Wünsche gefragt, er ist ein einziges Mal kurze Zeit im Lande gewesen (über diese sehr denkwürdige Reise der Herren Bodenheimer und Oppenheimer nach Kielce und Radom sprechen wir noch ausführlich in anderem Zusammenhange), kann keine der Sprachen, die im Lande gebräuchlich sind. Wenn er in seiner Vaterstadt mit einem Wahlreformplan herausrückte, ein schallendes Gelächter wäre die einzige Antwort. Aber er fühlt sich berufen, die polnischen Juden zu beglücken — und ahnt nicht, wie lächerlich er sich macht. Was würde ich dafür gegeben haben, die Miene des Herrn Cleinow zu sehen, während er die Manifeste des Herrn Bodenheimer las!
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Die polnische Judenfrage