Achtzehnte Fortsetzung

Als Russland nach dem Zusammenbruch der großen Armee Napoleons vom Herzogtum Warschau Besitz ergriff, legte der Senator Nowosilzow, welcher dort die Geschäfte des Zaren besorgte, seine Hand auf die Juden und wurde ihr Protektor. Er verfasste für sie Bittgesuche an seinen Herrn, verschaffte ihnen bei diesem und seinem Bruder Audienzen, versprach ihnen Schutz und Gewährung von allerlei Rechten. Die damaligen polnischen Juden waren politisch unreif, verwirrt und eingeschüchtert durch den häufigen Wechsel der Regierungen und Systeme, die sie seit 20 Jahren erlitten; ihr geringer Bildungsgrad und ihre Unkenntnis der Welt erlaubte ihnen nicht, sich in der Sachlage zu orientieren. Sie gingen also eine Zeitlang dem teuren Freund — oh, er schätzte seine Protektion gar nicht wohlfeil ein — auf den Leim. Nach wenigen Jahren musste er sich überzeugen, dass es all seiner moskowitischen Tücke, verbunden mit französischer Glätte und mongolischer Rohheit nicht gelungen war, durch die Juden einen Keil in die Landesbevölkerung hineinzutreiben und sie zu zersetzen, die Juden als eine Art Vortruppe zu missbrauchen, die dem Einmarsch Russlands nach Polen die Wege bereitet hätte, indem sie die natürliche Solidarität mit der Landesbevölkerung brechen oder ihr gar bei ihrem Kampfe gegen den Erbfeind in den Rücken fallen sollten. Der natürliche gesunde Sinn der Juden sagte ihnen alsbald, dass ein Volk, welches in Polen wohnt, doch nicht Moskau und Petersburg als seine Heimat betrachten dürfe, und dass, wer ihnen einreden wolle, ihre Interessen seien von denen ihrer Landsleute verschieden oder gar ihnen entgegengesetzt, nicht ihr Freund sein könne. Das schlaue Prinzip „divide et impera“ ist an der natürlichen Redlichkeit und dem gesunden Menschenverstand des schlichten Mannes zuschanden geworden. — Dem Vormärzabsolutismus war es in Galizien ermöglicht, dieses System ungleich länger zu handhaben. Er trat im Namen einer unvergleichlich höheren Kultur auf, bediente sich viel raffinierterer Mittel, und das Land war viel zerklüfteter als Kongress-Polen, hatte überdies nicht die Traditionen des Großen Reichstags und Kosciuszkos. Während er nun einerseits seine neuen Juden nach seiner in den Erblanden von früher her gewohnten Weise misshandelte, durch drückende Steuern ausplünderte und ihnen nach Kräften die Lebensmöglichkeit unterband, strebte er danach, sie zu einem Werkzeug der Zersetzung zu erniedrigen. Er hetzte systematisch die christliche Bevölkerung gegen sie auf, dann tat er heuchlerisch, als wenn er sie beschützte. Durch eine Reihe von Gesetzen, noch mehr durch deren praktische Handhabung, trachtete er, die Juden zu isolieren, allerlei Scheidewände zwischen ihnen und ihren christlichen Nachbarn und Landsleuten aufzuführen. Den Juden wurde in ihren Schulen das Erlernen der Landessprache nach Kräften erschwert, indem allerlei Verordnungen ihnen diese Mühe „ersparten". Eingaben in der Landessprache, auch wo die Gesetze sie erlaubten, wiesen die Behörden, wenn sie von Juden kamen, unter allerlei Vorwänden zurück oder behandelten sie schikanös: wo von einem Juden der Nachweis gewisser Kenntnisse gefordert wurde, z. B. um eine „gesetzliche" Ehe schließen zu dürfen, wurde die Kenntnis der Landessprache milde „nachgesehen“. Während man auf einmal anfing, von den Rabbinern tyrannisch und unter allerlei Schikanen ein hohes Maß weltlicher Bildung zu fordern, das zu erwerben ein langer Zeitraum nötig war, und ihnen gleichzeitig die Landessprache „nachsah“, liebäugelte man mit den chasidischen Wunderrabbis und bediente sich ihrer, um die Massen zu beeinflussen. Die schlimmsten und verachtetsten Elemente unter den Juden wurden bevorzugt, häufig an die Spitze gestellt, um das Volk zu korrumpieren. Die Juden sollten zu einer Art von k. k. Hetzhunden, Aufpassern, Spionen und Denunzianten erzogen werden. Sie sollten der Landesbevölkerung als Feind gegenüberstehen und in ihr ihren Feind sehen. Dias sollte ihr Loyalismus sein. Den Juden — die von der christlichen Welt für äußerst schlau gehalten werden — kann man leicht etwas einreden, und je unsinniger es ist, desto leichter. Ebenso wie die Chasidim glaubten, dass zur vollkommenen Frömmigkeit die vollkommene Unkenntnis jeder „gojischen“ Sprache und Wissenschaft gehörte, ebenso wie unsere Aufgeklärten überzeugt sind, dass ein Gebildeter kein Wort Hebräisch, geschweige Jüdisch verstehen, auch keine Ahnung von jüdischen Dingen haben dürfe, da sonst die Makellosigkeit seiner „Bildung" verdächtig sei, — so glaubten damals die Juden in Galizien, dass zur „Kultur" neben der Kenntnis des Deutschen oder Französischen die Unkenntnis des Polnischen unbedingt notwendig wäre. Von dem geistigen Leben der Polen, das trotz des Druckes und des Mangels eines eigenen Schulwesens mächtig emporblühte, hatten sie keine Ahnung.

Nichts ist leichter, als dass eine absolute Regierung ein Volk demoralisiere, zumal wenn es sich um ein stets in seiner Existenz bedrohtes, schutzbedürftiges Volk handelt. So kam es, dass 1846 sich sogar ein halbes Dutzend Juden aus der Hefe fand, die mit Jakob Szela gemeinsame Sache machten. Als der Rabbiner von Tarnow, Moses Rapoport, ihnen mit dem Bann drohte, ließen sie ihm sagen, er möchte sich in acht nehmen, sonst käme er ins Zuchthaus; der Bann wäre von der Regierung verboten, und sie wüssten ganz genau, dass ihr Treiben höheren Orts genehm sei. Divide et impera!


Das dauerte nur solange, bis ein freierer Windhauch kam. Sobald dies geschah, bedankten die Juden sich sehr energisch für die Ehre. Und seit der Regierungszeit unseres Kaisers Franz Josef hat keiner mehr gewagt, sich an uns mit derartigen Plänen heranzumachen.

Wem das heutzutage einfiele, mehr als ein halbes Jahrhundert, nachdem den polnischen Juden Gleichberechtigung zuteil geworden, und ein großer Teil von ihnen am aktiven politischen Leben mitgearbeitet hat, nachdem sie so oft in gemeinsamem, friedlichem und blutigem Kampf Schulter an Schulter mit ihren christlichen Mitbürgern gekämpft haben, nachdem eine hundertjährige Forscherarbeit an der jüdischen Geschichte das Gewissen und das Verantwortungsgefühl der Denkenden so bedeutend geschärft hat, — wer sich das heutzutage einfallen ließe, müsste ein Narr sein. Das ist auch keinem in den Sinn gekommen, nur dem Politiker mit dem Klystier der „Jüdischen Presse", der die deutsche Regierung auf das divide et impera hinweist, vermöge dessen „sich der deutsche Einfluss des jüdischen Elements in dem eroberten Gebiete jederzeit zu bedienen in der Lage ist." Der Kerl hat aber auch die unglaubliche Frechheit, von unserem ,,völligen Mangel an staatlichen Aspirationen“ zu sprechen, der uns ganz besonders geeignet mache, dass man sich unser jederzeit nach Belieben bediene! Mangel an staatlichen Aspirationen, — das heißt soviel, dass wir ein roher, plumper, charakter- und treuloser Haufe niedriger Sklaven sind, deren er bemächtigen und nach Belieben jederzeit bedienen darf. Wir sind ganz willenlos, haben keinen Sinn für staatliches Leben und Staatspflichten, wir haben keinen Anspruch auf Ehre und Würde eines Staatsbürgers, haben überhaupt in staatlichen Dingen nicht mitzureden, wir sind eine Horde von Stimmvieh und politischem Kanonenfutter, dessen man sich nach Belieben jederzeit bedienen darf, wir haben zu schweigen und abzuwarten, was die „Jüdische Presse" über uns bestimmt.

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Indessen will mir scheinen, dass alle die Herren, die uns so freigebig jedem anbieten, der sich unser zu jeder Zeit bedienen möchte, diesmal doch nicht an den Hechten gekommen sind. Mir kommt es als eine Lästerung, als ein roher Schimpf vor, dass man der deutschen Regierung zumutet, sie solle sich den Juden und den Polen gegenüber der mongolisch-moskowitischen Methoden von vor 100 Jahren bedienen und die Staatsweisheit Nowosilzows zu der ihrigen machen, um diese beiden schwergeprüften Völker nur noch tiefer ins Verderben zu stoßen. Würde das deutsche Volk auch sein Placet zu einer solchen Diplomatie geben? Das mag man gefälligst den Leuten in Puttkamerun einreden, nicht uns. Ist eine solche perfide Politik vereinbar mit der Lehre Kants, dass kein Mensch vom anderen als Mittel zum Zweck benutzt werden dürfe? Oder mit dem Worte Fichtes: deutsch sein, heiße eine Sache um ihrer selbst willen tun? Müssen wir polnischen Juden unsere Urgermanen erst an diese Lehren erinnern — die doch hoffentlich nichts von ihrer Würde und ihrer Verpflichtungskraft für die Deutschen verlieren, weil die erstere der talmudischen Lehre ganz konform ist, die zweite sogar wie ein förmliches Zitat aus dem Talmud klingt? Und was würde Schiller, was würden Herder, Goethe, Lessing, Beethoven dazu sagen? Was würden alle die hohen deutschen Vorkämpfer des ethischen Völkergedankens, der deutschen Frömmigkeit und der deutschen Freiheit dazu sagen? Heißt das, die Würde und das Ansehen des deutschen Volkes in der Welt erhöhen, wenn man hinausposaunt, dass es pure Heuchelei war, wenn Kaiser und Kanzler oft und oft versichert haben, dass der deutsche Sieg den kleinen Völkern Freiheit und Unabhängigkeit bringen solle? Ach nein! Zersetzung, langsamen Tod und Untergang soll er ihnen bringen. Und das Gift, das ihnen zu diesem Zwecke eingeträufelt werden soll, das sollen wir Juden sein!!

Es gibt gewiss kein besseres Mittel, alle 70 bis 80 Millionen Nichtgermanen in Osteuropa, zwischen dem deutschen und dem russischen Sprachgebiete, unfehlbar in das Lager des Panslawismus zu treiben, sie zu den treuesten Bundesgenossen Russlands zu machen und ihnen einen tödlichen Hass gegen Deutschland und Österreich einzuflößen, als indem man ihnen klar macht, dass das deutsche Reich es heimlich auf ihr Verderben abgesehen habe, dass sie an deutschem Wesen nicht sollen genesen, sondern zu Tode erkranken und absterben. Alle alle: zunächst Ungarn, dann Tschechen, Polen, Ruthenen, Weißrussen, Litauer, Slovenen, Slovaken, Kroaten, Bulgaren, Serben, von den Rumänen ganz zu schweigen, werden sich zu Füßen des Mütterchens Moskau versammeln, um Schutz zu suchen vor dem pangermanischen Drachen, der sie zu fressen droht. Sie erkennen jetzt alle willig die Überlegenheit und Hoheit der deutschen Kultur und des deutschen Organisationsgeistes an, sie sind bereit, sich gern seiner Führung anzuvertrauen, überzeugt, dass sie dadurch zu einer glücklicheren Entfaltung ihrer Kraft, zu einem höheren, freieren Dasein gelangen werden. Sie tragen ohne Murren die furchtbaren Opfer dieses Krieges, der zum Sieg der deutschen Waffen führt, weil sie nachher im Bunde mit Deutschland ihr Volkstum und ihre Eigenart gegen den barbarischen Völkerverderber und -Zerstörer im Osten um so wirksamer schützen zu können erhoffen. Sie sind mit Freuden bereit, der deutschen Sprache in Zukunft den Rang der Weltsprache einzuräumen, deren kleine Völker nun einmal nicht entbehren können, der europäischen Kultursprache, als welche ihnen bisher das Französische und Englische, schließlich sogar das Russische galt; der Verkehrssprache, die im zukünftigen mitteleuropäischen Staatenbund zur Verständigung unumgänglich sein wird. Zugleich aber sind sie bereit, sie zu lieben, als die Sprache Schillers, Goethes und Heines, Schopenhauers, Helmholtzens, Nietzsches und Euckens; die zu allen Schätzen der Wissenschaft, der Kultur und der Literatur der ganzen Welt den Zugang eröffnet. Wenn sich aber bei ihnen die Überzeugung festsetzt, dass der Sieg der Zentralmächte für sie eine neue Epoche der Ausrottungspolitik eröffnen, dass die deutsche Sprache nicht zu ihrer inneren Bereicherung und kulturellen Höherbildung dienen soll, sondern zur Vernichtung ihrer Eigenart, dass sie ihnen durch Gewalt oder Tücke aufgezwungen werden und ihre Nationalsprachen zersetzen und aus dem Gedächtnis der Menschen vertilgen soll — wird sich da nicht die Liebesbereitschaft, bitter enttäuscht, in tiefen Groll und grimmigen Hass verwandeln? Werden alle diese 70 oder 80 Millionen Nichtgermanen sich nicht mit Freuden Russland in die Arme werfen, welches ihnen verheißt, der Flut des ,,Pangermanismus" einen Damm entgegenzusetzen, und ihnen an seinem Busen den Genuss der allrussischen Freiheit und Gleichheit zu gewahren? Was für ein ungeheurer Kampf dem deutschen Volke dann aufgedrängt würde, ist leicht zu übersehen. Ob es patriotisch ist, der ohnehin in diesem Sinne rastlos arbeitenden Propaganda der russischen und der Ententepresse von Deutschland aus Nahrung zu geben, darüber möge der Leser entscheiden.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Die polnische Judenfrage