Achte Fortsetzung

In dem Berliner zionistischen Blättchen stand ein aus dem Englischen übersetzter Artikel von Hermann Bernstein in New York, in welchem dargelegt wurde, dass alles Unglück der Juden in Polen, u. a. auch der Boykott der letzten paar Jahre, nur darauf zurückzuführen sei, dass die Polen den Juden keine „nationalen Rechte" einräumen wollen. Man traut seinen Augen nicht, wenn man das liest. Dass das Berliner Blättchen solches Zeug druckt, wird keinen wundern, aber dass ein so kluger und ehrenwerter Mann wie Hermann Bernstein ein solch leichtfertiges und oberflächliches Urteil zu fällen wagt, kann doch nur in Bezug auf uns polnische Juden geschehen. Warum gibt es denn in Amerika keinen Boykott und keine Pogrome, obgleich dort die Juden keinerlei völkische Rechte besitzen und nie beansprucht haben? Und warum hat es in Polen bis vor wenigen Jahren keinen Boykott der Juden gegeben, obgleich sie doch auch damals keine „völkischen" Rechte besaßen? Durch welches Zaubermittel aber sollen die „völkischen" Rechte etwa einem Boykott vorbeugen? Sollte Hermann Bernstein noch nie davon gehört haben, dass in dem Kampfe zwischen den österreichischen Nationalitäten die häufigste und gefährlichste Waffe der wirtschaftliche Boykott war, ausgedrückt durch die Formel „Jeder zu den Seinigen!" (svuj k'svemu!) Das will sagen: „Jeder kaufe nur bei seinen Volksgenossen!" Dabei sind die Angehörigen dieser verschiedenen Nationalitäten zunächst Glaubensgenossen, es besteht also zwischen ihnen ein Band, welches zwischen Juden und ihren „fremdnationalen" Mitbürgern nicht vorhanden ist. Auch sind vorläufig die österreichischen Nationalitäten voneinander nur durch den Nationalitätenhader, nicht aber de jure, nicht durch „völkische Organisationen" getrennt. Es ist also ganz unverständlich, wie die „völkische Organisation" einem Boykott vorbeugen oder ihn abwehren soll. Im Gegenteil; sie würde den Zustand des Boykotts dauernd machen, und ihm sogar das Gehässige, das ihm jetzt innewohnt, nehmen. Der moderne Mensch schämt sich wohl, einen Andersgläubigen wegen seiner Religionsverschiedenheit in seinem Erwerb zu schädigen, aber der Nationalismus hat ihn gelehrt, dass es verdienstlich sei, den nationalen Gegner wirtschaftlich zu schwächen. Wohnen die „Fremdvölkischen" jenseits der Grenzpfähle, so gilt es sogar als patriotische Pflicht, sein Geld nicht ins Ausland zu tragen, sondern bei den Angehörigen des eigenen Volkes zu lassen; es gibt keinen Staat in der Welt, der nicht in der Form von Schutzzöllen seinen Bürgern .diese Pflicht kräftig zum Bewusstsein brächte. Wäre es gar so unnatürlich, wenn eine „völkische Gemeinschaft" die andere als „Ausland" und ihren eigenen Angehörigen es als Pflicht erklärte, nur im „Inland" einzukaufen? Man müsste sich sogar wundern, warum nicht zwischen den völkischen Gemeinschaften von vornherein auch eine wirtschaftliche Scheidung festgesetzt werden sollte, gleichwie im Gerichts- oder im Schulwesen. Dass eine solche möglich ist, beweist ja eben der unter den Nationalitäten jetzt schon so häufig auftretende Boykott. Durch ihre völkische Organisation würden also die Juden den Boykott gegen sich nur rechtfertigen und herausfordern. Aufschriften in hebräischen Lettern an den Schildern jüdischer Geschäfte waren z. B. in Galizien von alters her üblich, ohne dass es jemandem einfiel, daran Anstoß zu nehmen. Erst in neuester Zeit fingen die Antisemiten verschiedenster Färbung an, mit Hinweis auf die zionistische Agitation, dagegen Sturm zu laufen, aber alle Vernünftigen lachten sie aus, alle wussten, dass es den Juden nicht einfällt, den polnischen Charakter der Stadt zu verwischen, sondern mit den Aufschriften nur einer alten lieben Gewohnheit folgten, die ehemals einem wirklichen Bedürfnis entsprang. Man kann sicher sein, dass die Boykottisten in Polen angesichts einer „völkischen Organisation" energisch für den Zwang eintreten würden, an jüdischen Geschäften jüdische Schilder anzubringen, unter Androhung schwerster Strafen für das Zuwiderhandeln; solche Schilder würden sie der Mühe entheben, vor jüdischen Geschäften Wachen aufzustellen, um die christlichen Kunden zu verscheuchen, wie sie dies während des letzten Boykotts taten. Das verkehrte Urteil Hermann Bernsteins zeigt nur, wie wenig man von der Ferne die Lage und die Bedürfnisse der Juden beurteilen kann und wie gut man in Amerika täte, es sich zweimal zu überlegen, bevor man sich unterfängt, uns von dort aus Ratschläge zu erteilen und uns zu regieren.

Der schlimmste Feind kann für die Juden nichts Schlimmeres begehren, als die „völkische Organisation". — Ist es aber nicht erstaunlich, dass erwachsene Privatdozenten und Justizräte mit derartigen Projekten das Los eines schwer geprüften Volkes zu bessern vermeinen?



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Im übrigen sind alle hier vorgebrachten Einwände natürlich hypothetischer Natur. Wer wird es wagen, mit Bestimmtheit die so selbstsicher vorgetragenen Theorien dieser Staatsmänner zu bestreiten? Es käme eben auf das Experiment an. Und da habe ich einen Vorschlag zur Güte. Wie wäre es, wenn unsere Retter und Erlöser in der Behrenstraße ihr System der völkischen Autonomie zuerst an sich selber ausprobieren wollten? Man darf mit Fug bezweifeln, ob wir Ostjuden überhaupt geeignet sind, einen so gewaltigen Fortschritt, eine so bahnbrechende Neuerung zuerst zu verwirklichen. Sind wir denn dessen würdig? Tagaus, tagein bekommen wir zu hören, wie inferior, wie rückschrittlich, wie zurückgeblieben und unbeholfen, wie unebenbürtig, wie niedrig und minderwertig wir sind, und wie dringend nötig wir es haben, geführt, erleuchtet, aufgeklärt und gehoben, erzogen, errettet, zivilisiert und kultiviert zu werden. Und nun sollen wir auf einmal an der Spitze marschieren! Voranzuschreiten ist die Sache der Fortgeschrittenen. Wie wäre es, wenn Herr Justizrat Dr. Bodenheimer die Juden am Rhein völkisch organisieren wollte? Dem Jargon gegenüber hätte Köln sogar eine Pflicht historischer Pietät. In dieser altehrwürdigen, der Sage nach schon in vorchristlicher Epoche gegründeten Gemeinde sind nämlich seine Laute erklungen zu einer Zeit, als die Juden in dem damals spärlich bevölkerten Polen — wahrscheinlich aus dem Orient nord-westwärts dorthin eingewandert und durch Bekehrungen aus der autochthonen Bevölkerung beträchtlich vermehrt — noch sämtlich des landesüblichen Idioms sich bedienten und vermutlich die hebräische Schrift dazu benutzten. Für Dr. Oppenheimer hinwiederum wäre es eine schöne Aufgabe, in Berlin in gleichem Sinne zu wirken. Diese Stadt hat dem Jargon sehr viel abzubitten, denn von hier ist der unerbittliche Kampf gegen ihn ausgegangen, der ihm den Garaus gemacht hat. Die Mendelssohnsche Bibelübersetzung war der letzte und entscheidende gegen ihn geführte Stoß. Nun, da man hier zu der höheren Einsicht gelangt ist, dass er der Quickborn, das Palladium und das Bollwerk des jüdischen Volkstums ist, sollte man sich nicht beeilen, ihn wieder in allen Ehren aufzunehmen? Zuvörderst sollte man hier eine völkische Organisation der Juden schaffen mit gesondertem Steuerwesen und allem anderen Zubehör. Mindestens sollten die Oberbürgermeister von Berlin und Köln die Stadtverordneten-Versammlung mit einer feierlichen Hede im Jargon eröffnen. Da jetzt von allen Seiten die nahe Verwandtschaft des Jargons mit dem Deutschen erkannt worden ist, wird ersterer aus dem Munde dieser hohen Funktionäre viel natürlicher und reiner erklingen als aus dem Munde eines Polen in Warschau oder Lemberg, der ihn erst erlernen müsste und gewiss jämmerlich radebrechen würde. Aber warum denn nur in Köln und Berlin, warum nicht in ganz Deutschland? Ja, warum nicht auch in Ungarn, Holland, und vor allen Dingen in Amerika? Wir Ostjuden werden, wie immer, mit Ehrfurcht die Entwicklung der Dinge in dem Gebiete der höheren Zivilisation beobachten und, wenn die neuen Einrichtungen sich dort bewährt haben, werden wir sie gewiss mit Wonne übernehmen.
Wie immer.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Die polnische Judenfrage