Das Gesetz des Möglichen.

Eine traurige Schöpfung der modernen Bewegung ist die Kompromisssucht, d. i. die Versöhnung desjenigen, was unversöhnbar ist, durch Scheinvergleiche, gleichviel ob aus Unselbständigkeit oder aus übertriebenem Tatendrang. Dazu kommt die Falschheit, sich aus taktischen Gründen einem Extrem anzuschließen, um das Gegenextrem durch Mehrheit zu Fall zu bringen. Mit diesem Missbrauch der persönlichen Freiheit, der die Einheit und Geschlossenheit der Gesetzgebung untergräbt, und das öffentliche Leben der Täuschung und Intrigue preisgibt, hat die Konzentrierung der Tatkraft auf das Mögliche und Erreichbare als die Waffe der persönlichen Freiheit zur Bekämpfung des Unreifen, Übertriebenen und Brutalen nichts zu tun. Die extremen Parteien muss man dulden, aber nie zur Herrschaft gelangen lassen; sie drängen über Gleichmacherei zur alleinigen Herrschsucht und schließlich zum Ende aller Eiferer: Enttäuschung und Pessimismus, Umkehr oder Untergang. Ihnen gegenüber muss man das Entweder — Oder in Bezug auf Nebenpunkte, Taktik und Zeit abwehren und unter den gegebenen Verhältnissen vernünftig handelnd mit Geduld das Gleichgewicht gegen zufällige Hast erkämpfen und verteidigen. Die Vergänglichkeit der Dinge sorgt schon für Bewegung. Nur reife Ideen bezwingen den Gegner und nur wer zur rechten Zeit unbekümmert um die Frage „Was kommt morgen an die Reihe“ und ohne pedantische Anwendung des Satzes: „Principiis obsta“ Ja oder Nein sagt, nützt. Das Gesetz des Möglichen, gleich entfernt von Tollkühnheit und Überhastung wie von Mutlosigkeit und Trägheit tritt da in Geltung, wo zur rechten Zeit und im richtigen Verhältnis zum ganzen gehandelt wird; es verkörpert das zur Ausführung Reife und hat die stufenweise Entwicklung der Probleme gegen jeden Terrorismus auf die Gefahr hin zu schützen, dass sie zeitweise durch reaktionäre oder revolutionäre Krisen gehemmt wird. Die Dinge stoßen sich und ihr Selbstausgleich wird durch die Verkettung von Umständen erschwert, deren Wegräumung eine Pflicht ist. Nicht wenn sie schrittweise vorwärts gehen, sondern wenn sie stehen bleiben, oder die Unterdrückung statt Mäßigung der Leidenschaften erstreben, verkommen Menschen und Völker, und müssen der Gewalt überlassen, das zu tun, was sie im regelmäßigen Fortschritte zu leisten versäumt haben. Namentlich in technischen Umwälzungsperioden beugt die Klugheit sich der Logik geeigneter Übergangsformen unbekümmert darum, dass späteren Zeiten als Schwäche erscheint, was seinerzeit vollberechtigt war, und als Mutlosigkeit gilt, was Abwehr des Sprunghaften ist. Vor allem ist das Nachlaufen hinter extremen Strömungen aus taktischen Erwägungen, nur um in der Mehrheit Figur zu sein, äußerst bedenklich. Wenn die auf die Durchführung des unter gegebenen Verhältnissen Erreichbaren gerichtete Willens- und Tatkraft ihre Ziele unermüdlich aktiv verfolgt, und den Kampf nicht durch Macht unterdrückt, sondern tätig aufnimmt, wird sie den dauerhaften Fortschritt bringen. Reif sein — ist alles.

Als allgemeine Richtpunkte können folgende Sätze dienen:


1. Die persönliche Freiheit darf kein Privileg einer Mehrheit sein; ihre Vorzüge sind der Wille zur Verständigung, der Schutz des Schwächeren und der Minderheit; sie darf von der Unterordnung absehen, soweit sie zum Besseren führt, und keiner Beschränkung unterworfen werden, die zur Unfreiheit des Besseren führt. Wo das Bessere liegt, lässt sich in seiner Wirkung erkennen.

2. Der einzelne darf nur, soweit er die Folgen tragen will, tun, was er kann, und muss selber das gewärtigen, was er anderen gegenüber betätigt. Daher ist in der Gesetzgebung die Wiedervergeltung als Warnung gegen Übergriffe statthaft, aber nicht auf Kosten Unbeteiligter.

3. Unbeschadet der Gleichheit im Recht sind Sonderinteressen durch Sonderleistungen auszugleichend Zug um Zug, nicht alles in einem Verpflichtungskreis.

4. Jeder schöpferischen Kraft, auch der geringsten, gebührt der Vorzug vor den rein negativen Größen. Wer nachhaltigen Erfolg erzielt, hat die Vermutung der Berechtigung zum Handeln für sich.